Harte Fakten
Titel | Gottes Werk und Teufels Beitrag |
Autor*in | John Irving |
Erscheinungsjahr | 1985 |
Seitenzahl | 848 |
Länge Hörbuch | 28 Std 37 |
Sprecher*in | Johannes Steck |
Inhalt
John Irving und ich
Nein, mir war Hotel New Hampshire nicht zu kurz! Meine Mutter hat den Film gesehen und gelobt, ich dachte mir: Bevor ich mir den Film anschaue, lese ich doch lieber erst das Buch. Oder, noch besser, höre es (denn schließlich will ich meinen SUB erst deutlich reduzieren, bis ich wieder Bücher kaufe oder ausleihe).
Als ich gesehen habe, wie lang das Hörbuch ist, war mir gleich klar, dass ich damit wieder einige Wochen verbringen werde. Da ich zwischen Hotel New Hampshire und diesem Buch zwei kürzere Romane gehört hatte, war mir das aber recht.
Worum geht es eigentlich in dem Buch?
Während andere oft Romane einen roten Faden haben, hat John Irving offenbar eher ein rotes Netz, das eine Romanhandlung eher locker umhüllt als fest zuschnürt. Generell würde ich ja davon abraten, so zu schreiben. Irving hingegen scheint das irgendwie drauf zu haben.
Bis ich das Thema erkenne, dauert es (mal wieder) sehr lange. Erst nach mehr als der Hälfte der Hörzeit wird ein klarer Plot deutlich. Bei der Länge des Buches erfordert das schon ein beachtliches Durchhaltevermögen. Dann wird es schon ziemlich gut und auch originell, aber man muss schon Geduld mitbringen.
Die medizinischen Details einer Abtreibung oder einer Geburt sind doch sehr deutlich beschrieben und offenbar gut recherchiert. Ich fühle quasi das Metall des Spekulums, wenn ich das lese. Auch über das Apfelpflücken lerne ich mehr, als ich je für möglich gehalten habe.
Das klare Thema ist Selbstbestimmung der Frau, was Abtreibungen betrifft. Ein wichtiges Thema, auch heute noch. Ein ambivalentes Thema. Da der Roman aber durchaus verschiedene Standpunkte berücksichtigt, können die meisten von uns sich wohl irgendwo wiederfinden. Darüber hinaus hat mir die Liebe zwischen Vater und Sohn sehr gefallen - ob nun zwischen Homer und Angel oder zwischen Dr. Larch und Homer (auch wenn die beiden nicht verwandt sind).
Prämisse? Vermutlich: Abtreibungen sind nicht schön, aber manchmal besser als die Alternative.
Oder: Der Schutz der Ungeborenen ist wichtig, aber der Schutz der bereits Geborenen ist wichtiger.
Meine Mutter hat den Film gesehen und meinte, er würde sie an "Die Farbe Lila" erinnern. Das wären dann im Buch wohl nur etwa fünfzig der 850 Seiten. Vermutlich nimmt das im Film mehr Raum ein. Ich würde mir den Film nun auch gern anschauen, aber der ist nicht so irre leicht im Streaming zu bekommen.
Verrisse und Lobeshymnen
Wenn man die Ein-Sterne-Rezensionen bei Du-weißt-schon-wem liest (nein, nicht Voldemort), stellt man fest, dass viele bereits vor Seite 500 aufgegeben haben. Der Spannungsbogen beginnt aber erst dort und spitzt sich erst ab Seite 700 ernsthaft zu. Ich wusste ja von Hotel New Hampshire, dass Irving viel Anlauf braucht und hatte daher Vertrauen, dass es schon noch kommt. Und es kam ja auch.
Sprachlich ist es sicherlich auch eher normaler Durchschnitt - hier findet man keine Sätze, die man ausschneiden und ins Portemonnaie stecken will, wie bei Clive Barker. Das Setting bleibt auch eher im Dunkeln. Es liest bzw. hört sich aber verständlich und angenehm.
Die Figur des Dr. Larch
Dr. Larch ist ein toller Feminist! Obwohl er selber mit Sex nicht viel anfangen kann und nur einmal in seinem Leben Sex hatte, versteht er, dass andere darauf nicht verzichten können. Er versteht das Recht auf Abtreibung und führt schon sehr früh - in den USA der Dreißiger Jahre - welche durch. Später leitet er ein Waisenhaus. Dort können Frauen entbinden und ohne Kind wieder gehen. Er sucht dann Pflege- oder Adoptivfamilien für die Kinder. Nicht gelingen will das bei Homer Wells, der sich offenbar in dem Waisenhaus viel wohler fühlt. Nach vier fruchtlosen (und teilweise extrem grausamen) Versuchen gibt Larch auf.
Ich glaube übrigens, dass Dr. Larch asexuell ist. Er hatte zwar einmal Sex, das klingt aber eher so, als sei es wissenschaftlicher Natur gewesen. Danach hat er auch genug. Er ist aber absolut tolerant anderen Menschen gegenüber und ihm ist klar, dass die meisten Menschen Sex wichtig finden. Der Begriff "asexuell" wird zwar nicht genannt, aber so interpretiere ich ihn. Einmal wird er als "nicht praktizierender Homosexueller" bezeichnet, von einem Außenstehenden, der nur sieht, dass er keine Frau hat und offenbar aber auch keine Gelegenheit hat, sich mit Männern zu treffen. Ich sehe aber keine Hinweise darauf, dass Larch sich sexuell für Männer interessiert.
Die anderen Figuren
Die anderen Figuren fand ich längst nicht so spannend wir Dr. Larch. Die Waise Melony ist schwer zu ertragen. (Wenn ich das richtig sehe, wurde diese Figur im Film auch gekürzt.) Homer Wells, Candy und Wally, sowie (später) Angel und Rose Rose sind ganz nett, brennen sich aber weniger klar ins Gedächtnis. Witzig fand ich Homers Macke, ständig "Richtig" zu sagen.
Modernität
Der Roman ist fast vierzig Jahre alt und trotzdem diverser als die meisten kontemporären Werke. Wie auch bei Hotel New Hampshire kommen wieder zwei bisexuelle Frauen vor. Das Geniale ist, dass das gar nicht kommentiert wird. Sie lieben eben in einer Lebensphase eine Frau, vorher oder nachher auch mal einen Mann. Sie definieren sich nicht.
Mit Dr. Larch gibt es meiner Auffassung nach einen asexuellen Mann (siehe oben).
Dann läuft da später im Roman eine Art Polyamorie, wenn diese auch sicher nicht ganz perfekt ist. Diese stellt für die Figuren schon einen Konflikt dar, weil es "gegen die Regeln" ist. Bei Hotel New Hampshire war es Inzest, wenn dieser auch recht locker genommen wurde und irgendwie genial gelöst.
Ein kleines bisschen geht es auch um die Beziehungen zwischen weißen und Schwarzen Menschen, wobei ich das beim Hotel New Hampshire deutlich pfiffiger fand. Da die Figur des Mr. Rose doch mindestens ambivalent, wenn nicht sogar böse ist, bin ich da unsicher, wie ich das nehmen soll.
Übersetzung
Ich habe die deutsche Übersetzung gelesen. Eine Nebenfigur heißt "Drück-mich-Louise", was mir die ganze Zeit schon komisch vorkam. Im Original heißt sie "Squeeze Louise", das klingt doch gleich viel einleuchtender. Hätte man besser nicht eingedeutscht.
Wenn ein Schwarzer mit "Yeah" antwortet, kann man das meines Erachtens auch so lassen und muss daraus nicht "Jaaa" machen.
Trivia
Sie lesen "David Copperfield", "Große Erwartungen" und "Jane Eyre", und zwar immer und immer wieder. Interessant, dass in einer Geschichte über Waisen so viele Waisengeschichten gelesen werden.
Meine Zukunft mit diesem Autor
Ja. Da geht noch was.
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