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Shanghai Story von Juli Min

Darauf konzentrieren sich die meisten bisherigen Rezensionen: Der Roman erzählt rückwärts!

 

Es beginnt mit zwei Kapiteln aus vier unterschiedlichen Kapiteln im Jahre 2040 und schreitet dann rückwärts durch die Zeit, durch den Plot und die Familiengeschichte, bis zum letzten Kapitel 2014, das aus der Sicht des Ehemanns (Leo Yang) geschildert wird und seine Hochzeit mit Eko beschreibt. 

 

Neben der Qualität der einzelnen Kapitel (die sich meiner Meinung nach im deutlich oberen Qualitätsfeld bewegen und den Roman äußerst lesenswert aus unterschiedlichen Gründen macht), stellen sich mir zwei Fragen:

  1. Hätte man den Roman mit gleichem Genuss auch einfach von vorn nach hinten erzählen können?
  2. Gibt es der Plot her, dass sich das Rückwärts-Erzählen lohnt, gibt es Plot-Twists, die meinen Lesegenuss erhöhen, indem es so und nicht anders erzählt wird?

Ich glaube, die zweite Frage kann ich klar mit Ja beantworten, es gibt Beispiele hierfür und es war auch interessant, mir beim Lesen nicht die Frage zu stellen "Und was geschieht als nächstes?", sondern "Und wie ist es hierzu gekommen? Was ist vorher passiert, so dass es nun so ist?".

Leider schöpft der Plot dieses Potenzial nie voll aus (finde ich). Nicht so wie beispielsweise Memento, wobei da natürlich mehrere Dinge zusammenspielen, die das Rückwärts-Erzählen so genial, machen.

 

Die erste Frage muss ich fairerweise auch mit Nein beantworten, nein, ein chronologisches Erzählen hätte mich um einige wichtige Lesevergnügen gebracht.

Die Story: Von 2040 bis 2014

Obwohl große Teile der Geschichte in unserer jetzigen Zukunft spielen und durchaus futuristischer Weltenbau quasi on-the-fly und wie nebenher geschieht (Beispiel der Biopics, die auch nie näher erläutert werden oder wie selten normale Telefonate geworden sind), handelt es sich meiner Meinung nicht um einen SF-Roman. Die Handlung braucht diesen (durchaus anregenden) Weltenbau nicht. Die Story hätte man auch mit wenigen Änderungen so erzählen können, dass sie von 2025 rückwärts bis in die Neunziger erzählt wird. Es gibt zwar auch gesellschaftliche Veränderungen in Shanghai und dem Rest der Welt (die aber sehr angedeutet bleiben) und ein neues medizinisches Verfahren bei Abtreibungen, sowie einige Krankheiten sind besiegt, aber wirklich plotrelevant wird keiner dieser Punkte.

 

Trotzdem genieße ich, wie und wann der Roman gesetzt ist, sonst wäre ich vermutlich nicht mal auf ihn aufmerksam geworden, schließlich habe ich erstmalig im Locus Magazine von ihm erfahren.

Die Familie und ihr Personal

Die meisten Perspektivfiguren gehören entweder zur Familie Yang: Vater Leo, Mutter Eko, älteste Tochter Yumi, die mittlere Tochter Yoko und die jüngste, Kiko.

Außerdem gibt es jeweils ein Kapitel aus der Sicht des Chauffeurs (das fast die interessanteste Plotfrage des Romans aufwirft, die ich nicht abschließend zu beantworten vermag) und eines aus der Sicht der ehemaligen Kinderfrau der Familie.

Ihr Kapitel hat mich am meisten berührt. Obwohl die Figuren der Kernfamilie deutlich mehr "Bühnenzeit" erhält, berühren sie und ihre Geschichten mich weit weniger als die der Kinderfrau. Sie kommt in recht hohem Alter zu ihrem Job als Kinderfrau, nachdem sie in der Fabrik durch einen Unfall einen Finger verliert. Während des Beginns der COVID-Pandemie wird ihr gekündigt und vermisst das kleine Mädchen, um das sie sich bis dahin gekümmert hat, schrecklich.

 

Bei der Familie Yang wird sie besser bezahlt, wohnt komfortabler, hat eine weniger anstrengende Arbeit und kommt in der Welt herum: Trotzdem vergisst sie das kleine Mädchen nie, um dass sie sich bis Anfang 2020 kümmern durfte. Schließlich kommt es zu einem Wiedersehen. Dieses sorgt dafür, dass die Kinderfrau sich darüber klar wird, was sie mit ihrem restlichen Leben anfangen möchte (da ist sie 55 Jahre alt) und als sie dies verwirklicht, nimmt mich das emotional tatsächlich so sehr mit, dass ich weinen muss (und nein, nicht zwingend vor Trauer). 

Ja, das ist ganz großes Kino, das Meisterstück innerhalb des Romans für mich.

 

Außerdem wird durch diese Perspektive (und auch ein wenig auch durch die des Chauffeurs, und auch ein Kapitel zu Beginn, von der Zugbegleiterin Shana und einer jungen Frau, die zu Beginn des Romans im gleichen Zug sitzt wie Leo) auch der Klassizismus klar. Die Familie ist reich, besitzt mehrere Immobilien, kann ihren Töchtern einen ganz bemerkenswerten Zugang zu Bildung (Harvard und co.) ermöglichen. Trotzdem wirft Leo nicht mit Geld um sich, bewahrt sich einen gewissen Geiz.

 

Leo ist mir auch am wenigsten nah gekommen und (trotz aller Gegenargumente) empfinde ich ihn als einen unangenehmen Mann, als ein negatives Beispiel für das Patriarchat, der seine Frau unnötig drangsaliert, sie so erziehen will, wie er es für richtig hält und sie nie richtig auf Augenhöhe hält. Das ist unerträglich, aber sehr gut geschrieben.

 

Leo ist aus Shanghai, lernt die japanisch-stämmige Eko in Frankreich kennen, entwurzelt sie, angeblich nur temporär, doch natürlich kommt es anders.

Durch die Herkunft von Eko ist es nicht nur ein chinesischer Roman, sondern eher ein weltoffener Roman, der teilweise auch in den USA und Frankreich spielt und, in Rückblicken und durch Eko und ihre Mutter, auch die japanische Kultur streift.

Was ist anders durch das Rückwärts-Erzählen?

Natürlich gibt es mal hier mal da auch Romane mit sehr vielen Rückblicken, und auch sehr häufig mit nicht ganz chronologischer Erzählweise oder mehreren Zeitlinien (kürzlich gelesen: Severance, aber hier gingen beide Zeitlinien bis auf kleinere Rückblicke nach vorn).

 

Was macht es aber mit mir, wenn ich ein Kapitel lese und weiß: Und ich erfahre nie, wie es weitergeht? Ich erfahre nie mehr über die Zukunft dieser Figur als jetzt.

Ja, der Chauffeur, die Kinderfrau und auch die beiden Frauen im Zug vom Anfang haben jeweils nur ein Kapitel, könnten also als abgeschlossene Story in der Story (oder zumindest ein Schlaglicht in der Story) gelten. Doch die fünf Mitglieder der Familie Yang gehen konsequent rückwärts. Ich erfahre nie, was mit Yumi nach ihrer Abtreibung passiert. Wie lange Kiko als Sexarbeiterin tätig sein wird und ob ihre Familie es je erfahren wird. Stattdessen erfahre ich von Yumis früherer Beziehung (wobei für mich unklar bleibt, was genau mit ihrem Exfreund Sven geschehen ist, das enthüllt das Kapitel aus Sicht des Chauffeurs nicht zwingend.). Eine andere Frage, die mich beschäftigt (wieso verliebt sich Eko überhaupt in Leo, das kommt mir doch eher wie eine schreckliche Ehe vor),wird nicht wirklich beantwortet, aber stattdessen erfahre ich andere, durchaus nicht uninteressante Details über frühere Phasen ihrer Beziehung.

 

Ich muss meine Erwartungshaltung beim Lesen ständig aktiv anpassen, weil der default sonst so sehr ist: Und was geschieht als nächstes?

Frag nicht, Yvonne, du wirst es nie erfahren.

 

Ja. Ein lohnenswerter Roman, der mich in meinen Lese-Gewohnheiten erschüttert.

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