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Wir werden jung sein von Maxim Leo

Ich bin da mal sehr offen: Von deutschsprachiger SF erwarte ich nicht mehr sehr viel. Ich saß im Zug, schlug diesen Roman auf und erwartete, innerhalb von wenigen Minuten auch diesen Roman abzubrechen und etwas anderes zu lesen.

 

Stattdessen habe ich Wir werden jung sein innerhalb einer langen Zugfahrt am Stück eingeatmet. Es ist ein Pageturner, gut geschrieben, mit erstaunlich schönen Momente, insgesamt recht rund und super recherchiert (die Danksagungen zeigen dann auch wie).

 

Es gab etliche Momente, die mich eher zum Staunen gebracht haben: Das geht auch? Und zwar hierzulande? Klasse!

 

Der Roman ist spannend, behandelt ein interessantes Thema, das natürlich dem SF-Fan nicht neu ist; gewinnt diesem aber einige neue Aspekte ab.

 

Der Forscher Martin hat vier Personen in einer Studie, die alle ein ähnliches Herzleiden in ihrer Lebensqualität beschränkt:

  • Den sechzehnjährigen Jakob, der aufgrund seiner Krankheit an vielen Stellen kürzer treten muss.
  • Den betagten Wenger (übrigens als Figur herrlich ambivalent und komplex), der sich schon auf seinen baldigen Tod vorbereitet.
  • Schwimmerin Verena, die sich die Krankheit erst vor kurzem zugezogen hat
  • Jenny, deren Leben von ihrem unerfüllten Kinderwunsch beherrscht wird.

Martin hat ein vielversprechendes Mittel entwickelt. Er nimmt es auch selbst und gibt es seinem Hund. Dass auch mit Martin und seinem Hund Dinge geschehen, wird auch recht früh klar.  Und auch, was: Martin hat einen Jungbrunnen entdeckt. Er, sein Hund und seine Testpersonen werden nachweislich jünger.

 

Was erstmal positiv klingt, läuft nicht für alle Testpersonen gleichermaßen gut, vor allem, weil der Prozess zunächst nicht aufzuhalten ist. Wenn ein sechzehnjähriger biologisch jünger wird, was macht das dann mit seinem Sexleben? Was geschieht, wenn die Verjüngungskur auf ein Baby im Mutterleib übergreift? 

 

Der Roman hätte deutlich länger sein können, doch hier wurde sich für inhaltliche Dichte entschieden. Dadurch gibt es keine Längen und das Buch öffnet eine Menge Türen in meinem Kopf (genau das, was gute Prosa für mich tun sollte).

 

Dabei ist die thematische Vielfalt bemerkenswert: Untreue, Potenzprobleme, ein alter Patriarch, Fehlgeburten, Entführungen, Kapitalismuskritik, medizinische Schwierigkeiten, verlorene Jugend einer Berufssportlerin, ...

Viel ist enthalten, alles sehr gut recherchiert und durchdacht (der Autor hat mit mehreren Expert:innen gesprochen, das spüre ich auch beim Lesen, auch medizinisch ist es plausibel und klasse rübergebracht bei einer Gerichtsverhandlung).

 

Der Stil ist flüssig, recht phrasenfrei, gut zu lesen, sprachlich bleibt es im bekannten Rahmen. Es wird nicht übermäßig kreativ, aber die Beschreibungen gefallen mir, beispielsweise:

"sie hatte eine scheppernde Fernfahrerlache, die überhaupt nicht zu ihr passte, aber sehr ansteckend war"

 

Causal Queerness ist übrigens inklusive. 

 

Ich komme den Figuren recht nah, auch den weniger sympathischen. Der alte Wenger ist nicht wirklich ein Sympathieträger, hat aber seine Momente und ich kann mich gut in ihn hineindenken, auch wenn er völlig andere Wertvorstellungen hat als ich. Die anderen Figuren sind mir persönlich näher und daher habe ich um sie auch mehr Angst. Besonders fühle ich mit Jenny mit, die unbedingt Mutter werden möchte und hier einen sehr beschwerlichen Weg geht, bei dem es mich wirklich gruselt. Aber das ist die Realität vieler Menschen von heute, die auf natürlichem Weg nicht schwanger werden. 

 

Insgesamt ein tolles Buch mit einem zwar sehr gut bearbeiteten SF-Thema, aber gut aufgebaut und mit einigen Aspekten, die zumindest ich bisher noch nirgends so gelesen habe. Empfehlung!

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