Eigentlich ging es in der Rezension von Ian Mond in der neuen Locus ja um The Repeat Room von Jesse Ball. Aber fast wie nebenher erwähnte der Rezensent auch den älteren Roman Census. Ich las nur "sterbender Vater und erwachsener Sohn mit Down-Syndrom auf einer Reise" und schon hatte ich mir die Leseprobe heruntergeladen.
Die Leseprobe hatte mich schon im Vorwort nach zwei Zeilen. Jesse Balls Bruder ist 1998 mit nur 24 gestorben, er hatte das Down-Syndrom und gegen Ende seines Lebens starke gesundheitliche Schwierigkeiten. Auch ich hatte einen Bruder, der zwar eine völlig andere Geschichte hatte, aber den ich ebenfalls recht früh verloren habe. Insofern flossen meine Tränen schon im Vorwort. Zudem gibt es viel zu wenige Geschichten über Menschen mit Down Syndrom und Jesse Ball hörte sich an, als wisse er genau, was er tut.
Ich entdeckte, dass es sogar eine deutsche Übersetzung gibt, Zensus, und kaufte das Buch, las es sofort. Der Autor sagte mir bisher nichts, vermutlich, weil er in seinen Übersetzungen eher nicht unter dem Label Science-Fiction läuft (aus verständlichen Gründen), obwohl er meines Erachtens eindeutig in dem Genre schreibt, ich würde sogar eine dicke Portion Weird Fiction darunter mischen. Weird meide ich sonst, weil ich es konventionell mag. Aber so, wie Jesse Ball es in Zensus getan hat, ist es für mich genau richtig. Zufällig habe ich danach auch zwei andere eher weirde Bücher gelesen, Remember you will die von Eden Robins und State of Paradise von Laura van den Berg, die beide für mich funktioniert haben. Vielleicht kannte ich einfach nur noch keine weirden Bücher nach meinem Geschmack?
Eine letzte Reise, aber davor ein Leben. Danach: Nichts
Der Weltenbau ist sehr, sehr vage. Selbst der titelgebende Zensus bleibt vage. Es scheint wichtig zu sein, zu markieren, wer schon gezählt und befragt wurde, in dieser Runde, es gibt eine Tätowierung auf der Rippe danach. Die Art der Fragen jedoch, und die Art der Auskünfte, die das erzählende Ich und sein Sohn (beide bleiben namenlos) bekommen, scheinen immer von der Sorte "ein Stück Lebensgeschichte", aber nie wirklich konkret zu werden. Was genau ist also der Zensus? It's anybody's guess.
Tatsache ist, die beiden reisen von A nach Z (so heißen auch die Kapitel), in einem Auto, das auch im Ruhemodus beheizbar ist, und treffen viele Menschen. Ich erfahre einiges über das Leben der kleinen Familie, zu der noch eine Mutter gehört hat, die aber kürzlich überraschend verstorben ist.
Zu Beginn des Romans ist der Stil erstaunlich distanziert. Der Protagonist müsste eigentlich vor Trauer und Gefühlen überfließen: Seine Frau ist gestorben. Er selbst weiß, dass er bald sterben wird. Er wird seinen Sohn alleine in der Welt zurücklassen müssen, auch wenn eine Nachbarin sich bereit erklärt hat, für ihn zu sorgen. Doch das bleiben vorerst Leerstellen, auch wenn ich später noch genügend erfahren werde, um diese für mich zu füllen, und, das steht fest, am Ende des Buchs habe ich genügend gefühlt, um einen ganze Lawine von Trauer auszuhalten in den letzten Absätzen.
Streng genommen steht in dem Roman nicht mal, dass der Sohn das Down Syndrom hat. Lediglich das Vorwort kolportiert das. Insofern zögere ich, das als gesetzt zu nehmen, auch wenn der Locus-Rezensent Ian Mond dies als gesetzt genommen hat. Vermutlich können wir davon ausgehen, dass auch der Autor beim Schreiben einen erwachsenen Menschen mit Down Syndrom im Kopf hatte.
Die Reaktionen der Menschen auf den Sohn wirken auch plausibel. Diese sind sehr unterschiedlich und sind das auch immer gewesen, was den Protagonisten und seine Frau auch teilweise sehr gestört hat und ihr Leben nachhaltig verändert.
Es ist eine seltsame Welt, in der ein Umzug woandershin offenbar sehr selten vorkommt und alles so klein und übersichtlich wirkt. Wie lauter Dörfer, die in kurzen Abständen und ohne viel Kontakt zueinander hintereinander geschaltet sind. Die Frau und Mutter, die zum Zeitpunkt des Erzählbeginns längst tot ist, wird retrospektiv sehr eindringlich und plastisch geschildert.
Vieles ist sehr witzig. Wie er seine Frau kennengelernt hatte. Der frühere Job seiner Frau. Einiges ist schräg, aber eben sehr menschlich. Irgendwann trifft er eine Frau, die ebenfalls ein Kind hatte wie seinen Sohn. Sie sagt ihm "Wenn die Leute sehen, wie ihr gemeinsam herumreist, und sehen, wie dein Sohn lebt und wie viel Freunde er hat - du weißt ja gar nicht, wie viel Gutes du damit tust. Wir waren keine Reisenden so wie du, wir sind nicht besonders weit gegangen, um ihr [ihrer Tochter] die Welt zu zeigen, aber wenigstens haben wir sie nicht im Haus versteckt, vor den Blicken verborgen. Am Morgen ging sie in die Stadt und jeder kannte sie."
Ein schöner, runder Roman, zu dem ich sicher bald zurückkehren werde. Und noch andere von Jesse Ball lesen.