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Hum von Helen Philipps

Nach der Rezension von Ian Mond in der letzten Locus musste ich das Buch sofort kaufen und lesen (hier erhältlich).

 

Der Rezensent schrieb, die Welt in dem Roman fühle sich sehr realistisch an, genauso könnte unsere Welt bald aussehen. Es stimmt, bereits eingeschlagene Wege werden hier konsequent weitergedacht. Gerade der Realismus ist sehr gruselig. Worum es meiner Meinung in diesem Roman eigentlich geht, das haben wir auch heute schon. Sicher weniger großflächig und mit weniger technischen Möglichkeiten, aber es ist jene SF, die eigentlich gegenwärtige Missstände anprangert und hierfür das Mittel der Phantastik, der Science-Fiction, nutzt, um die Botschaft zu verstärken.

 

Die Prämisse lautet meiner Meinung nach:

Verurteile nicht eine bestimmte Mutter aufgrund von (ggf. unvollständigen) Informationen. Wenn du alles wüsstest, würdest du anders denken.

 

Der Roman ist quasi dieses "alles", das wir über May, die Protagonistin, wissen müssen. Das Verquere ist, dass May eigentlich keinen groben Fehler macht, nichts, was uns nicht auch passieren könnte, und schon steht ihre gesamte Familie auf dem Spiel. Alles aufgrund technischer Möglichkeiten, unbedacht gegebener Einverständnis und viral gehenden Videos, die großflächig Shitstorms erzeugen, wofür sich dann eine Behörde interessiert.

 

Es gibt Bücher, die lassen mich verändert zurück. Wie kürzlich von Sarah Langan, A Better World, das las ich, fühlte mich erwischt und lernte etwas dazu, nicht nur über diese Welt, sondern auch über mich selbst. Das Buch hat für mich neue Räume geöffnet.

Hum hingegen lässt mich bereits bekannte Räume besuchen. Allerdings gilt das für mich, für dich könnte es anders sein. Ich habe mich mit dem Thema "Mutter sein" und "Erwartungen, die diese Welt an Mütter stellt" oder kleinen Shitstorms, die schon in sozialen Medien geschehen können, wenn man irgendetwas schreibt (egal, wieder arbeiten gehen, bevor das Kind 12 Monate alt ist, abstillen, zu lange stillen, Kind im Elternbett schlafen lassen, Kind nicht im Elternbett schlafen lassen), es gibt für alles Expert:innen, die mich dafür verurteilen. Ich habe gelernt, dass ich Erziehungstipps nur  noch von einer Person annehme: Dem Vater unserer Kinder. Der hat dieselben Kinder und er ist der einzige, der hier eine vernünftige Expertise hat. Alle anderen haben keine Ahnung, weil sie an ihre eigenen Kinder denken oder an irgendein ausgedachtes Kind, das es nicht gibt und sie nicht 24/7 mit unseren Kindern leben.

Insofern barg Hum für mich keine neuen Erkenntnisse, obwohl ich dieses Thema massiv wichtig finde und mich freue, dass es diesen Roman gibt!

 

Spannend war für mich der Weltenbau. Die Platzierung der Werbung. Immer so intelligent zugeschnitten, dass die Hauptfiguren ständig etwas kaufen, mehr, als sie sich leisten können. Personifizierte Werbung, überall. Und Gesichtserkennung. Damit beginnt auch der Roman:

 

May lässt sich ihr Gesicht so modifizieren, dass die Gesichtserkennung nicht mehr funktioniert. Hierfür erhält sie einen Geldwert, der fast einem Jahresgehalt für sie entspricht. Sie braucht das Geld, da sie kürzlich ihren Job verloren hat. Und ihr Mann, Jem, hat nur "Gigs", via App, etwas wie Mausefallen aufstellen, Spinnen beseitigen, Aufträge, für die menschliche Expertise notwendig ist. Für alles andere nutzt mal inzwischen nämlich die sogenannten "Hums", künstliche Wesen, deren Technologie etwas fortgeschrittener ist, als wir es heute von AIs kennen, die aber auf einem ähnlichen Prinzip basieren wie beispielsweise ChatGPD. Hums haben aber auch Körper und können medizinische Eingriffe vornehmen, wie die Veränderung von Mays Gesicht. May ist nach dem Eingriff noch wiederzuerkennen, aber nur für Menschen, nicht für Gesichtserkennung, auch nicht von Hums. Dennoch ist ihr Gesicht leicht verändert und das hat teilweise einen schön subtilen Einfluss darauf, wie ihre Mitmenschen sie wahrnehmen, oder wie sie sich selbst sieht. Zudem schmerzt ihr Gesicht in den ersten Tagen.

 

Sie gibt einen Teil des Honorars sofort für drei Tage Urlaub im Botanischen Garten aus, dafür bezahlt sie das Äquivalent eines Monatsgehaltes. Normalerweise würden sie sich das nicht leisten können. Hierfür legen sie ihre Handys, und die Kinder ihre "Bunnys" (ebenfalls Devices, die Inhalte streamen können und Fragen beantworten, zum Wetter oder zur Luftqualität). Sie sind ganz analog unterwegs. Während ihres Urlaubs kommt es allerdings zu einem Vorkommnis und nun steht Mays Familie auf dem Spiel, plus, sie ist als Mutter Opfer eines gewaltigen Shitstorms.

Mutter sein: Damals, heute, später

Ich bin unsicher, was man zu Zeiten meiner Oma von einer Mutter erwartet hat. Tatsache ist, meine Oma war für den größten Teil der Welt unsichtbar. Ähnliches galt auch noch für meine Mutter. Als diese in den Achtziger Jahren trotz zwei kleiner Kinder Vollzeit gearbeitet hat, war das vermutlich Inhalt von Tratsch, aber der Tratsch beschränkte sich auf unser kleines Dorf und interessiert hat es vermutlich beileibe nicht alle.

Sollte ich es wagen, in den sozialen Medien, lesbar für hunderte, tausende, ggf. zehntausende, gewisse Glaubenssätze von mir zu posten oder Dinge, die ich getan oder nicht getan habe, kann ich mit polarisierenden Meinungen oder gar einem Shitstorm rechnen. Das sehe ich bei anderen zur Genüge und meistens trifft es mich ganz unerwartet.

Noch ärger wird es bei Menschen, über die etwas zusammengestellt wird, das trifft eher nur Prominente, für die anderen interessieren wir uns zum Glück nicht ausreichend. 

Es ist aber leicht, sich eine Welt vorzustellen, in der quasi jede Person zu einer Person of Interest für alle werden kann, nur aufgrund unzureichender, verstümmelter Informationen, erst Recht, wenn diese ein Video sind. Vermutlich gab es das auch schon und ich habe es nur persönlich nicht so sehr verfolgt. 

 

Beim Lesen des Romans bekommen ich einen Eindruck von May als Mutter. Eine ziemlich normale Mutter, liebevoll, mit cleveren Kindern. Die natürlich zu viel Zeit mit ihren Bunnys verbringen oder gar in ihren "wooms", in denen sie dann streamen können. Screentime einschränken? Scheint in dieser Welt schwierig zu sein. Nicht nur das ist gruselig: Auch die Masse an Werbung und die sehr eingeschränkten Möglichkeiten, außerhalb der Wohnung etwas zu unternehmen. Ja, man kann an den Strand fahren, aber man darf nicht im Wasser baden, zu giftig. Die Wälder in Stadtnähe sind verbrannt. Oft ist die Luftqualität auch nicht so, dass ein Aufenthalt im Freien möglich ist. 

 

Neben der starken Prämisse werden andere Themen angerissen. Nicht zu viele, eher, um die Welt zu verstärken. Jem erscheint süchtig nach seinem Telefon zu sein. Die Kinder personifizieren ihre Bunnys oder auch Hums, die sie kennenlernen, machen keinen Unterschied zwischen künstlichem und biologischem Leben. 

 

Nach dem Lesen des Interviews am Ende des Buchs halte ich es für denkbar, dass die Autorin eine ganz andere Prämisse im Sinn hatte: "Poison is in everything, and no thing is without poison. The dosage makes it either a poison or a remedy" (Zitat von Paracelsus).  Dies bezieht sich vermutlich auf die Nutzung der Technologie. 

Vermutlich lese ich den Roman mehr mit der Mutter-Brille. 

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