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Das andere Tal von Scott Alexander Howard

Der Roman ist hier erhältlich. Ich hatte zunächst das Hörbuch gehört und im Anschluss das Ebook gelesen. 

 

Bei meinem Stapel ungelesener, sicher interessanter Bücher erlaube ich mir nur selten den Luxus des zweimal-Lesens innerhalb kurzer Zeit. Hier jedoch konnte ich nicht widerstehen. Das Hörbuch war sehr ansprechend, aber Sprache, Stil und Aufbau des Plots haben mir Lust gemacht, mich noch mal näher mit dem Roman auseinanderzusetzen, weshalb ich das Ebook ebenfalls gelesen habe.

 

 

Inhalt

Der Roman besteht aus zwei Teilen und hat streng genommen nur eine Perspektivfigur: Die zunächst sechzehnjährige Odile Ozanne. 

 

Odile lebt in einem Tal.  Dieses Tal ist umgeben von anderen Tälern. An einer Seite existiert dasselbe Tal, nur zwanzig Jahre früher. An der anderen Seite existiert dasselbe Tal zwanzig Jahre später. So geht es immer weiter, vermutlich bis zum Beginn bzw. bis zum Ende aller Zeiten, stets jeweils zwanzig Jahre weiter vorn in der Zeit oder weiter hinten. 

Das Tal ist autark, niemals werden andere Orte erwähnt. Das Tal ist die gesamte Lebenswirklichkeit der dort Wohnenden.

 

Insofern ist das Leben einfach, es gibt aber Busse und auch Strom (ein Kühlschrank und auch elektrisches Licht werden erwähnt). Handys, Internet, Flugzeuge: Das kommt alles nicht vor.

 

Odile befindet sich im letzten Schuljahr, es ist wichtig, sich nun für eine Ausbildungsstelle zu entscheiden. Ihre Mutter möchte, dass sie sich im Conseil bewirbt. Dort arbeiten jene Leute, die entscheiden, ob jemand in ein anderes Tal reisen darf. Hier kommen in der Regel nur zwei Täler in Frage, das zwanzig Jahre früher oder jenes zwanzig Jahre später (wobei das Reisen in zeitlich weit entferntere Täler auch möglich wäre und dies auch zumindest als Möglichkeit erwähnt wird). Die Regeln für das Reisen sind streng:

Nur Verwandte dürfen reisen und offenbar ist Trauer der einzige Grund. Plötzliche Tode haben höhere Chancen, da die Angehörigen keine Chance hatten, sich zu verabschieden. Aber auch andere Aspekte spielen eine Rolle. Wenn die Gefahr besteht, dass Reisende in die Vergangenheit eingreifen, wird eine Reise oft abgelehnt. Zwar werden sie von Gendarmen begleitet, die die Aufgabe haben, ein Eingreifen zu verhindern, aber das garantiert nicht, dass es nicht trotzdem geschehen könnte, wenn jemand nur entschlossen genug ist. Und eine Veränderung der Gegenwart hätte eine völlige Vernichtung der Zukünfte zur Folge, eine andere Zukunft würde an die Stelle treten. 

 

Die Mutter von Odile sähe sie gern im Conseil, doch die Auswahl ist hart und nur wenige schaffen es, in manchen Jahren niemand.  Die Motive der Mutter sind interessant, der ausschlaggebende Grund erst recht. 

Auch die Auswahl ist spannend, aber der Roman bleibt dort längst nicht stehen! 

 

Und in Teil 2 finde ich mich dann in einem anderen Tal wieder, immer noch mit Odile als Erzählerin, doch sie ist nicht mehr sechzehn Jahre alt ...

 

Dieses Problem ist in der Genre-Literatur sicher viel beackert worden (ich habe selbst unglaublich viele Zeitreise-Bücher gelesen), trotzdem (oder gerade deswegen?) fand ich es sehr ansprechend, wie das Thema hier behandelt. Mit viel Spannung, einem klugen Plot und fast schon philosophisch (aber auf die gute Art) erzählt hier der Autor eine Geschichte  mit sehr starker Prämisse (die spoilern würde) und eine starke, aber auch ambivalente Heldin.

Odile Ozanne ist interessant, dient als gute Identifikationsfigur, ist aber sehr weit entfernt davon, immer korrekt und nach ansprechenden Werten zu handeln. Mehr als einmal handelt sie sogar sehr zuwider meinen Werten, trotzdem verliere ich nie den Anschluss an sie, da ihre Beweggründe nachvollziehbar bleiben.

 

Auch die Nebenfiguren leben und atmen, teilweise erstaunlich rasch. Und das, obwohl wirklich viele Figuren namentlich erwähnt werden. Der erneut-Lesende wird auch belohnt, da viele Figuren in beiden Tälern vorkommen. Vermutlich würde ich auch eine dritte Runde nicht bereuen. 

 

Ich habe die anderen Figuren sehr rasch vor Augen gehabt, die Atmosphäre passt einfach super und macht den Roman zu einem tollen Lese-Erlebnis.

 

Dieser Roman ist einfach ein tolles Beispiel von "hochwertige Literatur meets Science-Fiction". 

 

Bitte mehr davon, Diogenes-Verlag!

Ein paar Details mehr für Interessierte

Da ich ungefähr hundert Notizen gemacht habe, hier noch ein paar nerdige Details, die mir beim Lesen aufgefallen sind.

 

Es wird klar, dass Odiles Lehrer, Monsieur Pichegru, ein schlimmes Ende haben wird, aber es wird nie gesagt, welches genau (und sie fragt auch nicht). Hat mich sehr beeindruckt.

 

Die Mutter hat nicht viel Bühnenzeit, aber die wird effektiv genutzt. Ihr Leiden unter ihrem Job (und wie Odile das aus der Ferne interpretiert) hat mir richtig gut gefallen. Ich bin da eher weiter weg von der Mutter und nahe bei Odile, aber ich arbeite ja auch quasi in einem Archiv (die Mutter arbeitet im Archiv des Conseil). Odiles Motivation, sich beim Conseil zu bewerben ist auch so völlig anders gelagert als die der Mutter.

 

Es wird nie vollständig aufgeklärt, warum Odile so still geworden ist. Ich bin Vermutungen ausgesetzt, vermutlich weil die Ich-Erzählerin es selbst nicht genau weiß. Ich kann vermuten, dass es mit dem Tod des Vaters zu tun hat, aber es scheint nicht ganz zu passen. Womöglich ist sie einfach eines dieser Kinder, die irgendwann sehr, sehr schüchtern und wortkarg werden und daraus nicht wieder hinausfinden.

Es wird einfach nur gesagt "bevor ich so still wurde", also offenbar gab es ein "Davor".

 

Beim zweiten Lesen ist mir aufgefallen, dass das spätere Hobby von Odile, die Holzschnitzerei, früh vorbereitet wird. Das hat mir sehr gut gefallen!

 

Die Personifizierung ist hier ein tolles Stilmittel. Beispiel:
"Das Papier zitterte, als sie s an mich zurückreichte. Sehr raffiniert, sagte sie." (leider werden keine Anführungszeichen genutzt.)

 

Richtig literarisch - es wird klar, was genau mit dem Vater passiert ist, aber sehr subtil.

"Doch abgesehen davon, dass ich die Garage meide, wo er es getan hat, denke ich im Grunde nicht oft an ihn."

Genial!

 

Als Odile endlich (wieder) Freundschaften schließt, beobachtet sie nur "Wie groß mein Leben auf einmal geworden war.". Herrliche Art, das auszudrücken.

 

 

Einzig hatte ich dein Eindruck, dass die Übersetzung ein oder zweimal "scheinbar" statt "anscheinend" verwendet hat, das hat mich gestört (vielleicht liegt es ja am Original, das ich nicht kenne). Ansonsten eine super Übersetzung! Und ein toller Roman, den ich nur laut feiern will!

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