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Mio, mein Mio von Astrid Lindgren - heutzutage noch lesen?

Die Ausgabe von 1988 war meine eigene, die ich als Kind (also vermutlich ab ca. zehn Jahren, da ich 1978 geboren bin) gelesen habe. Diese Ausgabe hatte ich bereits an das erstgeborene Kind verschenkt.

 

Die Ausgabe von 2022 habe ich dem zweitgeborenen Kind geschenkt, wohl auch, weil ich manchmal einfach gern schöne Bücher kaufe und daraus vorlese.

 

Ich habe das Buch damals selbst gelesen und es nicht vorgelesen bekommen. Meinen Kindern habe ich die Geschichte vorgelesen, vor ca. drei Jahren dem älteren Kind und nun, frisch, dem jüngeren Kind. Es macht aus meiner Sicht einen großen Unterschied, ob ein Kind die Geschichte selbst liest oder zur Not (bei den gruseligen Stellen) ein vertrauter Erwachsender dabei ist.

  

Die Altersempfehlung ab acht Jahre ist sicherlich zutreffend, aber man kann (wenn man mutig ist und nicht so schreckhafte Kinder hat) auch ein wenig früher vorlesen. Die Geschichte ist nicht zu komplex, sie hat nur eben gruselige Stellen. 

 

Das Buch ist siebzig Jahre alt. Diese Besprechung enthält Spoiler und ist eher für Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern gedacht, oder für Menschen, die das Buch bereits kennen.

 

Besonders gruselig wird es, wenn erstmalig das Herz aus Stein und die Klaue aus Eisen beschrieben werden, und auch, dass Ritter Kato durchaus anderen Menschen mit der Klaue das Herz herausreißt und es durch ein Herz aus Stein ersetzt. 

Erlösend ist, dass am Ende alles gut wird, wirklich alles, nicht mal Ritter Kato scheint wirklich tot, nur besiegt und offenbar in einen Vogel verwandelt, lediglich seine Klaue und sein Herz aus Stein ist er los und wieder befreit.

 

Sofern ich beim Lesen dabei bin, halte ich die gruseligen Stellen auch für jüngere Kinder aushaltbar. Meine Kinder hatten zuerst Ronja Räubertochter vorgelesen bekommen, das dicker, komplexer und länger ist, aber weniger gruselig.

Warum ist Ritter Kato eigentlich böse?

Die großen offenen Fragen hätte ich ohne das jüngere Kind gar nicht bemerkt.

 

Kurz nach dem Lesen fragte es mich: "Warum raubt Ritter Kato eigentlich die Kinder und verwandelt sie?"

 

Nun. Steht nicht im Text, richtig? Wir, die wir mehr Lese-Erfahrung haben, hinterfragen das vielleicht einfach nicht mehr. Die Bösewichter sind eben böse. Die böse Fee in Dornröschen wird nicht zum Fest eingeladen und das scheint schon Rechtfertigung genug dafür zu sein, Dornröschen zu Tode zu verwünschen. Andere böse Zauberer und Hexen scheinen einfach böse zur Welt zu kommen.

 

Niemand kommt böse zur Welt (außer in Märchen natürlich). Bevor Darth Vader Darth Vader wurde, war er Anakin Skywalker und hatte schreckliche Angst um seine Familie, noch voller Trauer um seine Mutter, was ihn zu einer leichten Beute für den Imperator machte. Hier haben wir ausnahmsweise mal wirklich viel darüber erfahren, warum eine Figur böse ist. 

 

Bei Ritter Kato: It's anybody's guess.

 

Allerdings: Offenbar hadert auch Ritter Kato mit sich und zumindest mit seinem Herz aus Stein, das "in seiner Brust scheuert" und "weh tut". Er beschreibt es mit denselben Worten, die Mio vorher in Gedanken benutzt, als er sich davor fürchtet, Ritter Kato möge ihm ein Herz aus Stein verpassen, einfach weil Mio, mein Mio von dem Stilmittel der Wiederholung lebt, so schön und so poetisch, wie selten ein anderes Werk. Und als Mio das Herz aus Stein in Katos Brust zerstört, verwandelt sich dieser (offenbar) in einen Vogel, der die Freiheit will.

 

Nun kommen wir aber zur zweiten Frage: Wenn auch Ritter Kato verzaubert worden war, wer hat dann Ritter Kato verzaubert? Wer hat aus einem Vogel einen böse Ritter mit einem Herzen aus Stein gemacht? Und was ist aus seinen Spähern geworden? Die waren ja vor ihrer Begegnung mit Ritter Kato Menschen mit einem organischen Herzen. Doch im Gegensatz zu den geraubten Kindern sind diese am Ende des Romans nirgends zu entdecken. 

 

Fragen, ohne deren Antworten ich sicher gut leben kann. Aber nicht jedes Kind von heute kann das! Unter Umständen seht ihr euch in einem Kreuzverhör eines pfiffigen Vorschul- oder Grundschulkindes ausgesetzt, dass darauf besteht, dass ihr die Antwort irgendwo aus eurem eigenen Gehirn extrahiert.

Ist Mio, mein Mio gut gealtert?

Ich bin vermutlich kein Profi, was das betrifft. Allerdings lese ich nun seit ungefähr 2017 meinen Kindern Kinderbücher vor und manchmal rüttele und schüttele ich mich schon. Manches lese ich auch gar nicht erst vor (Dickenfeindlichkeit bei TKKG). Die Fünf Freunde haben ihre Momente, aber eigentlich nervt es (vor allem in den verkürzten Hörspielen), wie Julian sich aufspielt und wie Anne das Hausmütterchen spielt. Es hilft etwas, dass Richard/Dick relativ frisch ist und George schon als nonbinär oder trans durchgehen könnte.

 

Mio, mein Mio, hat in der Hauptsache zwei Jungen, die auf eine Heldenreise gehen. Es gibt auch sehr viele Aspekte, die mir extrem gut gefallen, wie sein alleinerziehender Vater. Das ist für 1954 sicherlich extrem ungewöhnlich gewesen!

Die Pflege-Eltern behandeln Bosse (wie er in unserer Welt hieß) sehr schlecht, was eigentlich ein größeres Trauma hinterlassen müsste, aber gut erklärt, warum er so bereitwillig sein Zuhause verlässt. Die auffällige Ähnlichkeit zwischen Figuren aus seinem Leben in unserer Welt (sein Freund Benka und Jum-Jum sehen sich ähnlich und auch Mios Vater, der König, sieht wie Benkas Vater aus), legt auch eine andere Interpretation nahe:

Träumt Mio nur, dass er woanders hingehört? Ist es seine Flucht aus seinem abscheulichem Zuhause?

Das ist womöglich nichts, worüber sich Kinder in der Zielgruppe des Romans beim Lesen oder Vorlesen Gedanken machen, aber die naheliegende Interpretation von Brüder Löwenherz wäre recht ähnlich, weshalb ich es für möglich halte. 

 

Insgesamt glaube ich jedenfalls, dass ich auch 2024 Kindern von heute den Roman noch gut vorlesen kann, siebzig Jahre alt oder nicht. Bei anderen Büchern muss ich oft dazusagen: "Ja, ist ein altes Buch", hier hatte ich nicht diesen Eindruck.

 

Mio kehrt von der Heldenreise auch nicht unbedingt ganz genauso zurück, wie er aufgebrochen ist. Er hat auf seinem Weg durchaus Angst, überwindet seine Furcht aber, stellt sich seinem Schicksal. Natürlich ist es der Klassiker, den wir auch aus Star Wars, Harry Potter usw. kennen: Er ist der Auserwählte. Seit tausend und abertausend Jahren steht fest, dass er eines Tages gegen Ritter Kato kämpft und alle wissen das, sogar sein Vater. 

 

Letztendlich jedoch halte ich Mio, mein Mio für eines der interessantesten und schönsten Büchern aus dem mir bekannten Kinderbuchkanon.

Die Illustrationen: 1988 und 2022

Beide Versionen basieren auf derselben Übersetzung, von 1955, von Karl Kurt Peters. Da braucht es meiner Ansicht nach auch keine neue, die alte ist zeitlos und schön.

 

Die 1988er Version hat Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die 2022er Version hat farbige Zeichnungen, die auch mehr Raum einnehmen, hier ist ein Beispiel. Es gibt zwei wirklich coole, sehr gruselige Bilder von Ritter Kato.

 

Die Illustrationen der 1988er Ausgabe stammen von Ilon Wikland, die auch viele andere Lindgren-Bücher illustriert hat und mit deren Stil wir, die mit Lindgrens Büchern groß geworden sind, natürlich sehr vertraut sind. Aus Nostalgie-Gründen könnte da natürlich eine ältere Ausgabe zum Vorlesen passender sein.

 

Johan Egerkrans, der die 2022er Version illustriert hat, hat natürlich einen komplett anderen Stil. 

 

Der inhaltlich größte Unterschied ist, dass Mio und Jum-Jum in der älteren Version deutlich leichter bekleidet sind und ununterbrochen barfuß. Das ist ganz nett, irgendwie wirkt auf mich persönlich das feste Schuhwerk und die herbstliche Kleidung bei dem Abenteuer zum Land Außerhalb in der neueren Version aber sowohl realistischer als auch angemessener. 

 

Die Zeichnungen sind in der neuen Version etwas gruseliger, siehe Beispiel oben, die Knochen und der Schädel in ihrem Gefängnis von Ritter Kato. Die beiden sehen auch unterschiedlicher aus, Jum-Jum wirkt mehr of color, während die beiden Jungen in der 1988er Version fast zum Verwechseln ähnlich sehen. Ich persönlich finde unterscheidbare Charaktere, auch in Illustrationen, schon ganz gut.  Vor allem bei Kinderbüchern, weil das jüngere Kind mich ständig fragt, wer wer ist und ich es angenehm finde, da nicht immer rätseln zu müssen.

 

Ich möchte mich nicht eindeutig für eine der beiden Illustrationen entscheiden, da ich beiden viel abgewinnen kann. Das ältere Kind sagt, es findet die älteren besser. Da kann auch hineinspielen, dass es eben "seine" Ausgabe ist. 

 

Wer, wie ich, zwei Kinder hat, hat eine gute Ausrede, sich beide zuzulegen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Birgit Susemihl (Mittwoch, 24 Juli 2024 12:08)

    Eins meiner All Time Favorites. Ich weiß noch, wie mich als Kind tief beeindruckt hat, dass Ritter Kato besiegt werden wollte, um sein steinernes Herz loszuwerden. Das hat mich, glaube ich, mehr beschäftigt, als die Frage, wie er böse geworden ist. Und das Kind, das als Vogel in eine Fackel fliegt und - stirbt? Und ich liebe einfach die Illustrationen von Ilon Wikland. Aber die neuen klingen auch sehr schön.