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Das Verschwinden von Sandra Newman

" ... die ganze Welt war eine Mädchenumkleide" - In dem Roman von Sandra Newman verschwinden an einem Augustabend alle Männer von dieser Welt. Gilt nur für Homo Sapiens und für alle mit Y-Chromosom, auch für ungeborene Föten. non-binäre mit biologisch männlichem Körper und trans Männer. 

 

Die Welt, die daraus entsteht, ist in einer Art zu Ende gedacht, die mich sehr fasziniert hat. Es gab 2023 einen oberflächlich ähnlichen Roman, End of Men. Aber die Prämissen unterscheiden sich.

 

In End of Men werden 90% der Männer (auch hier hängt das am Y-Chromosom) von einem Virus dahin gerafft und das verändert die Welt. Nur nicht so plötzlich und auch nicht so absolut. Die Prämisse von End of Men lautet:

Wir lieben unsere Männer, aber nicht das Patriarchat.

Natürlich verhalten sich einige Männer in End of Men auch sexistisch, nicht auf Augenhöhe zu den Frauen, aber kritisiert wird eigentlich nicht so sehr das Verhalten (einzelner) Männer, sondern die patriarchalische Struktur. Insofern ist der Roman um einiges leichter zu verdauen. Es wird viel getrauert, denn wir sehen die Ehemänner, Söhne, Brüder, Väter sterben und leiden mit, trauern mit.

 

In Das Verschwinden ist die Trauer deutlich weniger präsent, dafür ist das Verschwinden zu rätselhaft und zu plötzlich, die Hinterbliebenen zu beschäftigt damit, die Müllabfuhr und einiges andere neu zu organisieren.

 

Nach und nach zeigt sich aber doch, wie stark die Unterdrückung, die Behandlung der Männer gewesen ist, wie groß der Sexismus, wie stark die Macht-Diskrepanz gewesen ist. Der Roman umfasst eine ausreichend lange Zeitspanne, um eine starke Entwicklung der Frauen, vor allem der Perspektivträgerinnen, zu erlauben. Wie stelle ich mich einer Welt ohne Männer? Welche Möglichkeiten gibt es? Wie viele sichere Räume gibt es?

 

Es stellt sich (mit Abstrichen) heraus, dass nun mehr oder minder die ganze Welt zu einem sicheren Raum geworden ist. Eben eine riesige Mädchenumkleidekabine. Natürlich gibt es weiterhin Feindschaften, Missverständnisse, Meinungsverschiedenheiten, aber es werden auch erstaunlich rasch viele Lösungen gefunden. 

Kleine Mädchen spielen angstfrei zwischen Trucks an Tankstellen. Frauen führen ihre Hunde nackt spazieren. Hotels sind die Handtücher im Rahmen des Chaos direkt nach dem Verschwinden ausgegangen, aber alle trocknen sich nackt in der Sonne auf den Balkonen und genießen das Gefühl.

Es gibt leicht utopische Züge, ja, aber machen wir es uns nichts vor: 

Eigentlich geht es in dem Roman um uns. Uns Frauen. Inwiefern nehmen wir Frauen die Strukturen hin, wie stark bemühen wir uns, gewisse Dinge nicht zu sehen, wie oft passen wir uns an, schweigen, anstatt  Sexismus anzusprechen.

Denn mal ehrlich: Wie viele von uns haben denn schon Erfolg damit gehabt, Männern gegenüber sexistisches Verhalten outzucallen? Und, falls wir es getan haben, wie angenehm war denn die Reaktion des Gegenübers? Und zwar egal, wie neutral, abstrakt und verständnisvoll es formuliert wurde?

 

Die Prämisse dieses Romans ist eine andere, was ich für mich mitgenommen habe, ist eher:

Wenn ich die sexistischen Strukturen einmal entdeckt habe, kann ich sie nicht mehr ignorieren. Ich kann nicht mehr in meine alte Welt zurück, in der ich das geduldet habe. I cannot unsee it.

Insofern ist das ein höchst unangenehmer, aufrüttelnder Roman in seiner Wirkung auf mich.  Ich bin eine heterosexuelle, weiße Cis-Frau Mitte Vierzig, verheiratet, zwei Kinder, ich genieße viele Privilegien, aber ich bin nun mal: Eine Frau.

Sexuelle Übergriffe habe ich seit sieben Jahren nicht mehr erlebt, in den Jahrzehnten davor, vor allem unter dreißig, war das Alltag für mich. 

Dass mir meine Kompetenz abgesprochen wird, dass ich in Frage gestellt werde, das geschieht auch im beruflichen Kontext noch immer regelmäßig. Männer redigieren ungefragt meine Arbeitsergebnisse, wissen es besser, sprechen es nicht ab, beurteilen ungefragt meine Vorträge. 

Es gibt natürlich massenhaft Männer, die das nicht tun. Das übliche "Aber nicht alle Männer." Nein. Nicht alle Männer.

 

Interessanterweise ist das ein Aspekt, der in diesem Roman fehlt, sicherlich absichtsvoll. Hier stellt sich nach und nach heraus, dass es alle Männer betrifft, alle, die erwähnt werden, vielleicht sogar schon die Kinder. Insofern kommt man mir hier zwar nicht mit dem Zaunpfahl, da die Figuren für Stereotype viel zu plastisch sind, aber mit der harten, scharfkantigen, mit Stacheldraht umwickelten Keule.

 

Und ja, vieles ist nicht einfach zu lesen.

Struktur und Inhalt

Genug des Meta-Talks, zurück zum Roman!

 

Es gibt eine Ich-Erzählerin, Jane Pearson. Sie hat in der Vergangenheit unsäglich schreckliche Dinge durchgemacht, die ich höchst verstörend, schwierig zu lesen und aber auch extrem originell (inhaltlich) und ungewöhnlich finde. In meinem Kopf macht das einen riesengroßen Raum über Schuld und Unschuld auf. 

Trotzdem ein Wort der Warnung: Es geht um Sex und die beteiligten Personen sind zwischen  vierzehn und sechzehn Jahre alt. 

Außerdem hat sie einen Mann, Leo, und einen Sohn, den fünfjährigen Benjamin. Die Familie ist zelten, als die Männer verschwinden, insofern sucht Jane zehn Tage im Wald nach ihrer Familie, bis sie aufgibt und in die völlig veränderte Zivilisation zurückkehrt.

 

Es gibt allerdings auch weitere Perspektivfiguren, die wichtige andere Aspekte beleuchten und einige der späteren Twists vorbereiten. Ganz zu schweigen davon, dass Jane attraktiv, weiß und able-bodied ist und einige der Nebenfiguren chronische Krankheiten haben, alt und nicht mehr ganz so attraktiv sind, oder Schwarz, asiatisch oder Latina.

 

Ji-Won schaut Fernsehen, als das Verschwinden passiert und sieht plötzlich ein leeres Footballfeld und die Zuschauerinnen schauen sich verwirrt um.  Sie vermisst vor allem ihren schwulen Freund Henry, zu dem sie lange eine nicht-romantische Beziehung hatte.

 

Alma vermisst vor allem ihren Bruder Henry und hütet gerade die Villa eines schwulen Paares (in der Villa bleibt sie dann auch, da diese ja aus ihren Flitterwochen nie wiederkehren). Für sie ist es vor allem ihr Bruder Billy, den sie vermisst. Das Verhältnis zu ihren Eltern ist schwierig. Außerdem ist sie trockene Alkoholikerin. Sie und ihr Bruder haben viel mit Depressionen zu tun.

 

Ruth Goldstein ist verheiratet und hat zwei Söhne, eine Tochter, aber das Verhältnis zu allen ist schwierig. Vor allem ihr ältester Sohn Peter macht Probleme. Ihr Mann hat wenig Verständnis für Peter (und irgendwie auch nicht für Ruth) und nach den einführenden Szenen wundert es mich nicht, dass Ruth ihren Mann nicht besonders vermisst. Ihre Söhne aber zunächst schon. Ihre Familie ist sephardisch-jüdisch.

 

Blanca Suerez ist vierzehn Jahre alt und hat ständig Herz-OPs. Während einer komplizierten OP verschwinden ihre Chirurgen und die OP kann zum Glück von einigen anwesenden Frauen zu Ende geführt werden, wenn dies die OP auch sehr in die Länge zieht, da es nur eine Anästhesistin für alle gerade laufenden OPs gibt. 

Blanca lebt nur bei ihrem Vater und was später über ihn enthüllt wird, hat mich sehr aufgewühlt.

 

Später lernen wir noch Evangelyne Morau kennen, die Schwarz ist, lesbisch, und schon in sehr jungen Jahren für eine lange Zeit ins Gefängnis kam. Außerdem ist sie die Gründerin einer interessanten neuen Politikrichtung, der ich durchaus etwas abgewinnen kann.  Trotz der Komplexität aller anderen Charaktere, vor allem Jane, ist Evangelyne bei weitem meine Lieblingsfigur, trotz all ihrer Macken. Ich habe kaum etwas mit ihr gemeinsam (eher mit Jane und Ruth), konnte mich aber sehr gut mit ihr identifizieren.

 

In Zwischenkapiteln wird noch die Show "The Men" (das war auch der Originaltitel) gezeigt, die das Rätsel der verschwundenen Männer befeuert und dem Roman noch ein Mystery-Element verleiht, das ich interessant finde, aber nicht gebraucht hätte.

Auch sprachlich und stilistisch bemerkenswert

Die Figuren sind außerordentlich plastisch. Sie kommen mit einer kompletten, oft sehr komplexen Vorgeschichte in ihre Szenen. Ihre Beziehungen untereinander sind ebenfalls gut durchdacht und haben meterdicke Wurzeln. 

 

Hier ein Stück von Jane, die auf die veränderte Welt blickt:

"Draußen hörte ich die Stimme von Holly, die ein paar kleinen Mädchen erklärte, dass sie nicht reinkommen dürften, und vergnügt fragte, was sie denn davon halten würden, wenn die Leute bei ihnen einfach so ins Bad spazierten, woraufhin die kleinen Mädchen beharrten, das fänden sie ganz toll -, in dem mich die Erkenntnis traf, dass diese neue Welt die bessere war. Schon jetzt war sie besser. Es gefiel mir hier."

 

Jane hat außerdem eine verrückte, aber glaubwürdige Fähigkeit: Sie erkennt Menschen immer wieder, egal wie viele Jahre oder Jahrzehnte sie sie nicht gesehen hat. (Seit ich Anjelica Huston in Kindergarten Daddy nicht erkannt habe, weiß ich, dass ich diese Fähigkeit nicht habe.)

Organisatorische Einschränkungen und neue Möglichkeiten

Die Hälfte der Erwachsenen ist weg, natürlich bricht einiges erstmal zusammen, Müllabfuhr, Stromversorgung, Transportwesen, Benzin-Nachschub.

 

Der Zug kann erst weiterfahren, wenn die Lokomotivführerin wieder ausgeschlafen ist, erst nach einiger Zeit fliegen wieder Flugzeuge und das nur selten pro Monat und ein Flug kostet 10.000 Dollar aufwärts.  Erst nach einer Woche funktioniert die Müllabfuhr wieder, Strom dauert etwas länger. Benzin bleibt Mangelware. 

Einige Städte brechen auch komplett zusammen.

 

Dafür gibt es bald weibliche Kardinäle und sie wählen sich die erste Päpstin und selbstverständlich gibt es nur weibliche Präsidentschaftskandidatinnen. 

 

Und im U-Bahnhof stinkt es zum ersten Mal nicht nach Urin. Dieses kleine, sehr glaubwürdige Detail hat mir fast mehr als andere klargemacht, in welcher Welt der Roman da spielt.

 

Ich kann den Roman nur empfehlen. Ein männlicher amazon-Rezensent hat laut vermutet, dass der Roman womöglich Frauen mehr Spaß macht als ihm, einem hetero-Cis-Mann. Vier Sterne hat er trotzdem gegeben.

Er hat sicherlich Recht, ich könnte ihm aber versichern, dass der Roman für mich auch nicht ganz einfach und immer gemütlich war und ich immer noch ein wenig im Schock darüber bin, wie gelassen ich die Welt, in der ich lebe seit 46 Jahren akzeptiere.

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