Liest du auch Horror?
Eine Bekannte stellte mir die Frage, ob ich Horror lesen würde. Ganz nebenbei und zu meiner Überraschung. Meine spontane Antwort lautete: Hab ich bisher noch nicht. Warum?
Es ging um die 20. Ausgabe eines Magazins für Horror und unheimliche Fantastik, also um Genres, die mir zumindest bisher fremd waren. 18 Geschichten und gut 330 Buchseiten später lautet meine revidierte Antwort: Jetzt ja!
Und im Folgenden versuche ich zu erklären, warum.
Im Format eines Taschenbuches erreicht mich die Ausgabe. Zu meiner Überraschung, denn ich hatte tatsächlich eine Publikation im Zeitschriftenformat erwartet. Wenn man von zwei sachbezogenen Textbeiträgen am Ende absieht, hält man eigentlich eine Geschichten-Anthologie in Händen. Im Unterschied zu vielen Anthologien variiert hier jedoch die Länge der einzelnen Beiträge beträchtlich. ›Der Tschonk‹ von Moritz Boltz ist eine Kurzgeschichte mit sieben Seiten, ›Lethe‹ von Sascha Dinse ist fast achtmal so lang.
Eine Bandbreite gibt es aber nicht nur bei der jeweiligen Länge, denn man liest nicht nur die Geschichten deutschsprachiger Autor*innen, sondern auch Übersetzungen sowohl neuerer als auch alter, englischsprachiger Werke, die zum Teil über ein Jahrhundert alt sind. Unter letzteren befanden gleich zwei Geschichten, auf die ich im Folgenden besonders eingehe.
Meine Bekannte, die mit der Eingangsfrage, ist die Autorin Yvonne Tunnat. Mit ihrer Geschichte ›Der Hotelflur‹ ist sie erstmalig in dem Magazin vertreten und hat mich begeistert. Eine junge Frau befindet sich auf einer Dienstreise und checkt in einem Hotel mit ungewöhnlichen Regeln und unheimlicher Atmosphäre ein. Dort verbringt die Protagonistin eine Nacht, wie man sie wohl in einem fremden Hotel nicht verbringen möchte, und die übernatürliche sowie familiäre Verbindungen beleuchtet. Plastisch, hintergründig und gleichzeitig fesselnd; mehr sollte man über diese Geschichte nicht verraten.
›Zwischen zwölf und Mittag‹ lautet der Titel meiner zweiten, ausdrücklichen Leseempfehlung. Bei Autorin Julia A. Jorges lebt die Protagonistin in einem alternativen, dystopischen Gesellschaftssystem, das von Informationskontrolle, Bürokratie und einer Klasseneinteilung geprägt ist. Von einem Nachbarn erbt sie überraschend einen eher unauffällig wirkenden Gegenstand, der sich als ein Rückzugsort vor der bitteren Lebenswirklichkeit der Protagonistin entpuppt und ihr gleichzeitig Zugriff auf altes, nunmehr verbotenes Wissen verschafft. Um Liebe und Partnerschaft geht es in dieser Story auch, aus meiner Sicht aber nicht zentral. Die Geschichte könnte meiner Ansicht nach auch Grundlage für einen Roman sein, wurde aber gekonnt auf 28 Buchseiten verdichtet.
›Amundsens Zelt‹ ist eine von vier Übersetzungen in dem Band. Bei der 1928 erschienenen und im oder um das Jahr 1911 spielenden Geschichte geht es um den Wettlauf zum Südpol, der seinerzeit zwischen den Polarforschern Amundsen und Scott ausgetragen wurde. Autor John Martin Leahy dachte sich vor annähernd einem Jahrhundert Ereignisse um eine dritte Expedition aus, die sich eher unfreiwillig auf Spurensuche begibt und dabei Grauenhaftes entdeckt. Die 2023 fertiggestellte Übersetzung von Matthias Käther liest sich sehr flüssig und wird mit einigen hilfreichen Hintergrundinformationen eingeleitet.
›Einige unlängst gestiftete Objekte‹ des britischen Autors Timothy Granville handelt von einer Sammlung magischer Objekte, die einem Museum überlassen wurden. Deren Geschichte und Bedeutung erfährt man anhand von Aktennotizen einer Inventarisierungskartei. Der Text ist in der Ursprungssprache 2023 erstmalig erschienen und im Magazin nun mit einer autorisierten Übersetzung von Reinhard Klein-Arendt vertreten. Die Geschehnisse auf eine sehr indirekte Weise zu erzählen, steigert die Spannung und Neugier auf das Ende. Die Qualität der Übersetzung lässt bei mir keine Wünsche übrig.
Die Herausgeber Achim Hildebrand und Michael Schmidt haben mit ihrer Jubiläumsausgabe eine interessante und insgesamt lesenswerte Text-Sammlung zusammengestellt, die bei einem unerfahrenen Horror-Leser wie mir Interesse weckt, mehr dergleichen zu lesen, auch wenn mir, das gebe ich zu, nicht alle Geschichten (so) gut gefallen haben wie die oben erwähnten.
Die folgenden Geschichten sind in der Ausgabe enthalten:
o Julia A. Jorges - Zwischen zwölf und Mittag
o Nele Sickel - Ein Mädchen in Gold mit Schuhen aus Glas
o Silke Brandt - Die Burg über den Rheinwüsten
o Ina Elbracht - Mein wunderschöner Supermarkt
o Nikolaus Schwarz - Wer glaubt schon an Hexerei
o Moritz Boltz - Der Tschonk
o Maximilian Wust - Salz, Glas und Silber
o Timothy Granville - Einige unlängst gestiftete Objekte
o Christian Blum - Der Arhang
o Lena Marlier - Schnee
o Ansgar Sadeghi - Geliebte Schwester
o Karin Reddemann - Roter Regen
o John Martin Leahy: In Amundsens Zelt
o Algernon Blackwood - Hass auf den ersten Blick
o Max P. Becker - Die Hypnose
o Arthur Machen - Die Geschichte des Sergt Richard Haughton und was ihm an der Somme widerfuhr
o Yvonne Tunnat - Der Hotelflur
o Sascha Dinse - Lethe
Die Ausgabe 20 des Horror-Magazins ›Zwielicht‹ ist am 20. März 2024 erschienen und hat 359 Seiten. Neben dem Taschenbuch sind eine gebundene Ausgabe sowie ein e-Book im Buchhandel erhältlich, die zwischen 4,99 und 20 Euro kosten. ISBN: 979-8320114002
Diese Rezension wurde von Winfried Dittrich verfasst.
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