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Ihr wollt es dunkler: Die neue Story-Sammlung von Stephen King

Es ist sicher fair zu sagen, dass ich seit Jahren (Jahrzehnten?) jedes neue Buch von Stephen King kaufe und lese und es daher nicht überraschend ist, dass ich auch dieses gekauft und gelesen habe.

 

Nur wenige können offenbar sogar an Kurzgeschichten Geld verdienen, ihre Kurzgeschichten werden konsequent übersetzt und sind auch auf Deutsch erhältlich und Stephen King wird tapfer und zuverlässig vom Heyne Verlag herausgebracht.

 

Die Sammlung enthält folgende Geschichten und nicht alle sind neu, eine kannte ich schon (aus Flug und Angst).

 

Alle enthaltenen Geschichten:

  1. Zwei begnadete Burschen
  2. Der fünfte Schritt
  3. Willie der Wirrkopf
  4. Danny Coughlins böser Traum
  5. Finn
  6. Auf der Slide Inn Road
  7. Das rote Display
  8. Ein Fachmann für Turbulenzen
  9. Laurie Klapperschlangen
  10. Die Träumenden
  11. Der Antwortmann

Und ein ziemlich cooles Nachwort.

Stephen King und Kurzgeschichten

Ich stapele sicher nicht zu hoch, wenn ich von mir selbst sage, dass ich allmählich eine Kurzgeschichten-Expertin bin. Seit 2020 habe ich zwischen 3000 und 4000 Kurzgeschichten gelesen und sicherlich selbst auch mehr als zwanzig verfasst und veröffentlicht (immerhin drei davon waren mal für Preise nominiert, wenn auch noch keine den Goldpokal geholt hat). 

 

Meine Erstkontakte zu Kurzgeschichten in den neunziger Jahren hatte mir Stephen King geboten. Ich habe mir nicht nur seine dicken Wälzer wie Christine oder Es reingezogen (und war schwer, schwer begeistert, kannte ich bis dato doch eher nur Hanni und Nanni und Ronja Räubertochter und das war irgendwie ein anderes Kaliber).

 

Als ich dreizehn Jahre aufwärts war, fingen einige von uns an, in großem Stil Stephen King zu lesen und uns dazu auszutauschen und dazu gehörten immer auch seine Kurzgeschichten. Es gibt Erzählungen von ihm, die habe ich zuerst von Freundinnen erzählt bekommen (oder von einem sehr gruseligen Mädchen im Zeltlager eine atmosphärische Nacherzählung von Es, an die ich mich teilweise videographisch erinnere), dazu gehörte auch Der Überlebenskünstler, der mir zunächst von meiner Freundin Petra nacherzählt worden war, bevor ich die Sammlung in die Finger bekommen habe und die Geschichte selbst lesen konnte (nach wie vor eine der gruseligsten Erzählungen überhaupt). Oder auch Travel, die ich selbst lesen durfte und dann das dringende Bedürfnis hatte, mich mit dem Jungen namens Michael, der mir damals all seine Stephen-King Bücher nach und nach lieh (und  mir den Film Alien 2 zeigte), dazu auszutauschen. Stephen King war damals mein absoluter Erzähl-Meister. Ein bisschen später las ich auch andere, auch Kurzgeschichten, von Ian McEwan war ich lange schwer begeistert (und bin es mit Abstrichen auch heute noch). Nur merke ich bei allem, was ich heute lese, wie stark mein Lesegeschmack (und auch mein eigenes Schreiben) nach wie vor von der Art beeinflusst ist, wie Stephen King schreibt. Ich mag nicht alle seine Eigenarten (er neigt dann und wann dazu, einen guten 300 Roman auf 900 Seiten aufzublähen, der dann ungefähr 600 unnötige Seiten hat). 

 

Trotzdem, was King betrifft, bin ich voreingenommen und da er meinen Geschmack geprägt hat, ist es nicht verwunderlich, dass ich seine Prosa normalerweise sehr mag und auch fast alles gelesen habe. Vieles mehrmals.

Die Storys in Ihr wollt es dunkler

Die Erzählungen sind nicht besonders dunkel, im Vergleich zu dem, was er schon so geschaffen hat. Eigentlich fand ich nur Klapperschlangen stellenweise sehr gruselig. 

 

Es gibt keine richtig schlechten Storys in diesem Band, aber es gibt welche, die vorhersehbar sind (Das rote Display) oder offenbar zwar vor Erzähllust nur so strotzen, aber letztendlich keine Prämisse haben (Laurie).

 

Die längeren Storys sind hier am Besten, finde ich, allen voran Der Antwortmann, aber auch Klapperschlangen und Danny Coughlins böser Traum haben mir mit Abstrichen sehr gut gefallen.

 

Von den kurzen Geschichten hat für mich Auf der Slide Inn Road die Nase vorn, weil sie spannend ist, ambivalent, zwar eine zweifelhafte Aussage hat, die ich nicht ganz unterstreichen will, aber immerhin eröffnet sie in meinem Kopf Räume, wo vorher keine waren.

 

Viele der Erzählungen wirken wie frühere Stephen King Geschichten, als würde er viel bei sich selbst klauen, wie Der fünfte Schritt, das gab es zwar so noch nicht, sie ähnelt aber vielen anderen Storys oder Szenen zu Alkoholikern, die versuchen, trocken zu werden, die King bereits vor Jahrzehnten verfasst hat (und die lahme Pointe haut das nicht raus).

Zwei begnadete Burschen erinnert mich sehr stark an eine ähnliche Story (die vermutlich die Ratte hieß), neu ist hier nur die überaus gelungene Darstellung sehr fremdartiger Aliens und die leichte Offenheit am Ende. 

 

Kings größte Stärke, dass alles so echt wirkt aufgrund gut beobachteter Details und der Menschenkenntnis (so würde jemand sich in dieser Situation vermutlich tatsächlich fühlen, das würde er tatsächlich denken), die bewundernswerte Art, authentische Figuren zu schaffen, ist auf seinem Höhepunkt. Gut sitzende Story mit starker Prämisse zu schaffen ist es eher nicht. 

Bei einigen Geschichten, die mir sonst gut gefallen haben, wie Laurie, gibt es dann am Ende ein So what - Gefühl bei mir. Gern gelesen, aber warum habe ich das eigentlich gelesen? Worum ging es hier eigentlich? Wenn ich versuche, eine starke Prämisse für die Story zu formulieren, erzähle ich stattdessen nur die Story nach.

 

Ganz im Gegensatz dazu die überaus kräftige Prämisse in Der Antwortmann, die sogar mehrmals im Text ausgeschrieben wird:

Andere haben es schlechter

Aber auch in vielen anderen Aspekten hat die letzte Story des Bandes den anderen einiges voraus. King gelingt es, ein ganzes Leben zu erzählen und es dabei nicht eintönig werden zu lassen, er rafft Zeitabschnitte zusammen, wird unszenisch und trotzdem klebe ich an den Seiten. Der Mann kann erzählen! 

Und das Leben, das er schildert, das dreimal (einmal als junger Mann, einmal als Familienvater und einmal als alter, sehr alter Herr) den Antwortmann trifft und ihm Fragen stellt, die korrekt beantwortet werden, ist alles andere als uninteressant, wenn auch größtenteils tragisch.

Aber: Andere haben es schlechter.

Diese Story zwingt mich, über mein Leben und die Leben, die es seither berührt hat, nachzudenken. Was habe ich eigentlich? Was habe ich nicht? Was ist mir zugestoßen? Wovor blieb ich verschont?

Ich stehe nun in meinem Leben an einem Punkt, an dem der Protagonist bei der zweiten Begegnung  mit dem Antwortmann steht, nur dass ich auf meine Fragen zu diesem Leben keine Antwort bekomme. Und dass ich hoffentlich verschont bleibe von Schicksalsschlägen dieses Kalibers.

Dennoch gibt es natürlich Menschen, die so etwas durchleben, und einige überleben das sogar, wie der Protagonist, lernen, damit umzugehen, und werden alt. Finden neue Lebensinhalte.

 

Besonders gefreut hat mich auch das Wiedersehen mit Vic, dem abwesenden Vater aus Cujo, vierzig Jahre nach den Ereignissen um den tollwütigen Hund und dem Tod seines Sohnes (wer nur den Film kennt: Im Buch ist der kleine Junge gestorben).

Klapperschlangen ist auch bei weitem die gruseligste Story, die trauernde Mutter, die er kennenlernt, die vierzig Jahre nach ihrem Tod immer noch den Buggy ihrer Zwillinge umherschiebt und mit ihnen spricht, bzw. mit der Luft, die stattdessen im Buggy sitzt, und Vics Umgang damit, der selbst die Trauer um ein verstorbenes Kind kennt. King hat diese echten, menschlichen Gefühle wirklich drauf und kann eine gute Horror-Story daraus machen, wobei mich das menschliche Schicksal viel mehr gruselt als die übernatürlichen Phänomene. Vics Werdegang, und auch der seiner Frau Donna, die drei Tage im Auto um ihr Überleben und um das Überleben ihres Sohnes gekämpft hat, zu erfahren, Jahrzehnte nachdem ich Cujo gelesen hat, hat mir außerordentlich viel Freude geboten, auch wenn es neben Licht auch viel Schatten im Leben von Vic und Donna gegeben hat. Hier wird er wieder belohnt, der langjährige Leser von King. 

 

Danny Coughlins böser Traum wirft kein gutes Licht auf die Rechtsverfolgung in den USA, aber das macht es umso bösartiger. Danny träumt davon, wo eine Leiche versteckt ist, besucht den Ort, findet die Leiche einer jungen Frau, meldet dies und wird fortan sehr hartnäckig für den Mörder gehalten. Denn woher wusste er, dass die Leiche dort ist? Danny ist unschuldig, aber die Welt verurteilt ihn, und langsam geht sein Leben stark den Bach hinunter. Wenn da nicht ein ziemlich cooler Anwalt wäre, der eigentlich von Strafrecht nicht mehr viel versteht und eine Polizistin, der doch langsam Zweifel kommen. Nur gibt es auch einen sehr üblen Protagonisten, der nicht aufhören kann, an Dannys Schuld zu glauben, und zwar völlig losgelöst von allen anderen Indizien. 

Fazit

Es gibt Humor in diesem Band, sehr viel Spannung, viele authentische Figuren, ein paar gute Plots, einige nicht ganz so gute, und nicht allzu viel richtig dunklen Horror. Mir hat die Sammlung gut gefallen, doch ich fürchte, sie hält nicht so recht mit mit früheren Sammlungen, die deutlich dunkler sind. 

 

Für King-Fans ist sie wohl ein Muss, alleine aufgrund des Wiedersehens mit Vic in  Klapperschlangen. Als Erstkontakt zu King ist es eher ungeeignet, da würde ich eher einige ältere Klassiker empfehlen.