P. Djèlí Clark: Meister der Dschinn
Orig.: A Master Of Djinn, 2021
Cross Cult, 09/2023, Paperback, ISBN 978-3-98666-334-6
Kairo, 1912. Aber dies ist nicht das Kairo, wie wir es kennen. In „Meister der Dschinn“ von P. Djèlí Clark hat der Mystiker al-Dschahiz mittels Alchemie und Magie im Jahr 1872 eine Maschine gebaut, mit der er die Grenzen zwischen unserer Welt und den Sphären durchstoßen hat, die von magischen Wesen bevölkert werden. Seitdem sind immer mehr Dschinn in Kairo und anderswo in Ägypten aufgetaucht und bilden inzwischen einen gleichberechtigten Teil der Bevölkerung.
Eines Nachts wird der in Kairo residierende reiche Unternehmer Lord Worthington zusammen mit den Mitgliedern einer von ihm gegründeten Bruderschaft ermordet, die nach dem Wissen des seit Jahrzehnten verschwundenen al-Dschahiz gestrebt und nach seinen Artefakten geforscht hat. Da die Morde offenbar mit Hilfe von Magie verübt wurden, wird Fatma, Agentin des Ministeriums für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen mit der Aufklärung beauftragt. Lord Worthingtons Tochter Abigail hat einen maskierten Mann mit dem Schwert al-Dschahiz‘ vom Tatort flüchten sehen, der schon bald wieder in Kairo von sich reden macht und behauptet, der zurückgekehrte al-Dschahiz zu sein. Er nennt sich „Meister der Dschinn“ und hat offenbar die Macht, jeden Dschinn seinem Willen zu unterwerfen.
Doch Fatma glaubt nicht, dass der legendäre al-Dschahiz zurückgekehrt ist, um die Dschinn zu Sklaven zu machen. Sie hält den maskierten Mörder für einen Hochstapler. Gemeinsam mit ihrer Geliebten, der von Geheimnissen umgebenen Siti, und ihrer neuen Kollegin, der Agentin Hadia, beginnt sie im Umfeld des toten Lord Worthington zu ermitteln und verdächtigt bald dessen Sohn Alexander, der augenscheinlich vom Tod seines Vaters profitiert. Fatma muss jedoch feststellen, dass es um weit mehr als nur um ein Familienimperium geht. Als der „Meister der Dschinn“ das Ministerium überfällt und Pläne einer Maschine stiehlt, mit der man wie al-Dschahiz die Sphären durchdringen könnte, steht das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel, denn es lauern noch weit mächtigere Wesen als die Dschinn darauf, die Welt zu erobern und alle ihre Bewohner zu unterjochen.
„Meister der Dschinn“ ist eine phantastische Alternativweltgeschichte, die mit dem Gedanken spielt, welche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Ägypten genommen hätte, wenn es zu Beginn des 20. Jahrhunderts die europäische Einflussnahme hätte abschütteln und mit Hilfe enormer militärischer und wirtschaftlicher Ressourcen die Kolonialmächte hätte überflügeln können. In diesem Szenario hat Ägypten durch das Eingreifen der Dschinn die Schlacht von Tel-el-Kebir 1882 nicht – wie in der realen Geschichtsschreibung – verloren, sondern gewonnen und konnte so das britische Protektorat verhindern und die Briten aus Ägypten vertreiben. In der Folge hat das Britische Empire den Großteil seiner Kolonien und seines Einflusses verloren, während Ägypten zur Großmacht aufgestiegen ist und Kairo London und Paris den Rang abläuft. Das Land hat einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, der sich auch in kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen niedergeschlagen hat. Im Gegensatz zur realen Entwicklung haben die ägyptischen Frauen in der Welt des Romans 1912 bereits weitgehende Gleichberechtigung erlangt, seit einigen Monaten auch das Wahlrecht – auch wenn deutlich wird, dass noch immer überwiegend traditionelle Strukturen herrschen und Frauen, die wie Fatma und Hadia „Männerberufe“ ausüben, die Ausnahme sind. Die FSÄ, die Feministische Schwesternschaft Ägyptens, der Hadia angehört, lässt sich unschwer als Reminiszenz an die real existierende EFU, die Ägyptische Feministische Union, deuten, die sich in den 1920er und 1930er Jahren für Frauenrechte einsetzte.
Im Roman lassen sich noch zahlreiche andere Anspielungen auf geschichtliche Ereignisse und alternative Geschehensabläufe finden wie die Jim Crow-Gesetze oder die Entstehung des Jazz, was das Buch jenseits seiner phantastischen Grundidee zu einem fesselnden Gedankenexperiment macht. Und es macht Spaß, den zahlreich auftretenden historischen Persönlichkeiten wie Kaiser Wilhem II., Präsident Poincaré oder General Schilinski zu begegnen und ihrer Entwicklung in dieser alternativen Welt nachzuspüren.
Die wertvollste Ressource in dieser Welt ist die Magie, durch die nicht nur Armeen besiegt, sondern auch wundersame Maschinen betrieben, grandiose Bauwerke errichtet oder phantastische Kunstwerke erschaffen werden können. Und so versuchen sich die Staaten überall auf der Welt der Unterstützung magischer Wesen zu versichern. In China sind es die Drachen, im Deutschen Reich die Kobolde. Nur die erfolgsgewöhnten Briten scheitern in dieser Hinsicht und drohen auf der weltpolitischen Bühne in Bedeutungslosigkeit zu versinken. So ist es kein Wunder, dass ausgerechnet ein Brite eine geheime Bruderschaft gründet, die mit ihren Symbolen und Ritualen wohl nicht zufällig an die Freimaurer gemahnt, um die Geheimnisse von al-Dschahiz zu enträtseln.
Die Magie erfüllt hier gleich mehrere Rollen. Sie ist zum einen die Energie, die diese neue Welt antreibt, übernimmt in dieser Steampunkwelt voller selbstfahrender Kutschen und alchemistischer Beleuchtung die Funktion, die üblicherweise der Dampfkraft zukäme. Sie ist buchstäblich der Motor des Fortschritts, sinnfällig symbolisiert durch die denkende Maschine in der Eingangshalle des Ministeriums, die die gesamte Technik des Gebäudes steuert.
Fliegende Feuerwesen, unheimliche Ghule, mürrische Flaschengeister, Flüche, Verwirrungszauber, Räume, die von innen größer sind als von außen – Clark schafft eine Welt voller Wunder und Zauber, die sich in das historische Setting mit den kaum weniger phantastischen technischen Neuerungen wie Luftschiffen oder Aufzügen verblüffend natürlich einfügen. Absolutes Highlight sind dabei die Engel, Entitäten aus einer anderen Sphäre, die mechanische, flügelbewehrte Körper mit Stahlfasern und tickenden Zahnrädern bewohnen – eine perfekte Verschmelzung von Steampunk und Magie.
Die Magie ist aber auch eine Quelle unendlichen Wissens und grenzenloser Erkenntnisse – und birgt damit zugleich die Gefahr, dass Dinge ans Tageslicht kommen, die vielleicht besser verborgen geblieben wären. Sie ist aber vor allem eine Möglichkeit, die als falsch oder belastend empfundenen Lebensumstände radikal und sofort zu ändern, sei es, indem man das eigene bescheidene Domizil durch Illusionszauber in einen Palast verwandelt, oder endlich die Stellung einnimmt, die einem nach eigener Überzeugung zusteht, nämlich die Herrschaft über die ganze Welt.
Clark gelingt dabei das Kunststück, die Gegenwart der Dschinn in ihren vielfältigen Erscheinungsformen (ob als Marid, Ifrit oder Quarin) in der ägyptischen Gesellschaft als etwas völlig „Normales“ darzustellen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, sie zahlen ihre Miete und haben Macken und Laster wie die Menschen auch. So begegnen wir dem reizbaren Archivar von der Größe eines Rhinozerosses mit den vier goldenen Widderhörnern, der jeden Besucher „seiner“ Bibliothek als Eindringling betrachtet. Oder dem Dschinn-Antiquitätenhändler mit einer verhängnisvollen Leidenschaft für Kamelrennen. Aber auch wenn die Menschen sich an den Anblick von magischen Wesen in allen Farben und Formen gewöhnt haben, haben sie deshalb Vorurteile, Rassismus und Diskriminierung noch lange nicht überwunden, wie die dunkelhäutige Hadia mehr als einmal zu spüren bekommen hat.
Dabei sind es -wenig überraschend- in erster Linie die Menschen und nicht die magiebegabten Dschinn, die die Magie für ihre Zwecke missbrauchen. Während der Großteil der Dschinn ein mehr oder weniger „normales“ Leben führt und die Magie wie jede andere spezielle Fähigkeit zum Broterwerb oder auch für persönliche Vorteile einsetzt, ist sie für die Menschen vor allem ein Mittel zur Macht. Sei es der Versuch, sich einen Flaschengeist dienstbar zu machen, oder gleich die Versklavung sämtlicher Dschinn. Und so müssen Fatma, Sita und Hadia nicht nur einen Mörder finden und einen Hochstapler entlarven, sondern auch die Dschinn vor einem grausamen Schicksal bewahren.
Mit diesem Trio setzt Clark drei starke Frauen in das Zentrum der Geschichte. Fatma, die stets in westlicher Männerkleidung und mit Bowler auftritt, gern ihrem „Bauchgefühl“ folgt und mit Befehlen und Autoritäten schon mal Probleme hat. Die „Vorzeigeagentin“ Hadia, vorschriftsmäßig in Uniform und Hidschab gekleidet, die sich entgegen des ersten Eindrucks ganz und gar nicht als naive Paragraphenreiterin erweist, sondern als engagierte Kollegin und toughe Kämpferin. Und Sita, die lebenslustige Nachtschwärmerin, die im Geheimen den alten ägyptischen Göttern anhängt und ihre eigenen Gründe hat, dem Hochstapler das Handwerk zu legen. Sie alle verkörpern auf ihre Weise moderne, emanzipierte Frauen am Beginn des 20. Jahrhunderts, die ihr Leben selbst bestimmen wollen, ganz gleich, ob es um den Beruf, politische Teilhabe, Religion oder private Lebensumstände geht. Im krassen Gegensatz dazu steht Abigail, die verwöhnte Tochter aus gutem britischen Hause, finanziell abhängig von ihren männlichen Verwandten und noch ganz in der Tradition der viktorianischen Zeit. Wie ihre Landsleute sieht sie mit Verachtung auf die ihrer Meinung nach rückständigen und unzivilisierten Ägypter und die „dunklen Völker“ herab, die sie in Wahrheit kulturell und wirtschaftlich überflügelt haben. Das stolze und angeblich so fortschrittliche Britische Empire wird als rassistisch und rückwärtsgewandt entlarvt.
Mitreißend geschrieben, spannend, witzig und voller kluger und fantastischer Einfälle – „Meister der Dschinn“ ist ein Fantasy-Schmöker mit Tiefgang, der Lust auf Mehr macht. Zum Glück ist mit „Der Spuk in Luftbahnwagen 015“, der im März erscheinen soll, schon Nachschub unterwegs.
Christine (Chris) Witt
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