Mir ist völlig klar, dass ihr alle die Augenbrauen so weit heben werdet, dass sie unter euren Pony verschwinden, wenn ich euch sage, dass ihr doch einen 900-Seiten-Wälzer, der mich selbst als Schnellleserin vierzehn Tage in Atem gehalten hat und sicher vierzig Stunden Lesezeit gekostet hat auf Englisch lesen soll.
Bleibt bei mir - wenigstens für die Länge dieser Rezension. Wenn schon nicht selbst gelesen, ist es sicherlich nützlich, wenigstens ausführlich von diesem Roman gehört zu haben.
Wie hat man mich überhaupt zum Lesen gekriegt?
Der gute Locus-Rezension Ian Mond schrieb, The Deluge und Terrace Story seien die besten Bücher, die er 2023 gelesen habe. Nun. Terrace Story war das beste Buch, das ich 2023 gelesen habe (und ein Reread in 2024). Nur ist Terrace Story kurz und bündig und the Deluge hat einen Umfang, der so dermaßen krass ist, dass ein Ein-Sterne-Rezensent bei amazon sich über das Gewicht und die Unhandhabbarkeit des Buchs beschwert hat. Was mich als Ebook-Leserin ja nicht stört.
Rezensent Mond hatte ein ganz ähnliches Problem, einen Riesen-Stapel ungelesener Bücher und trotzdem hat er The Deluge gelesen, aufgrund einer anderen Rezension, nämlich James Bradleys "effusive praise". Eine Rezension in der Los Angeles Times erwähnt Mond ebenfalls. Nun hat also James Ian überzeugt und Ian mich und ich überzeuge vielleicht dich.
Und ja, Mond bemerkt ganz richtig, dass ein richtig dickes Buch (sofern es richtig gut ist) ein ganz spezielles Lese-Erlebnis ist, dass es etwas leisten kann, was eben die kurzen Bücher gar nicht schaffen können. Ich denke da für mich eher an Säulen der Erde und der dunkle Turm oder The Stand, Werke, die ich schon sehr oft gelesen habe und sicher wieder lesen werde.
The Deluge umspannt dreißig Jahre, und diese Beobachtung und Entwicklung der Figuren und des Plots und der Welt kann eine kurze Story selbstverständlich nicht leisten. Auch die Struktur und das Zusammenfinden der einzelnen Fäden wäre bei einer kürzeren Geschichte völlig anders und nicht vergleichbar.
Aus vielen Gründen ist The Deluge mein neues Lieblingsbuch (vielleicht nicht ganz so wie der dunkle Turm, aber die Bücher sind auch eher schwerlich vergleichbar). Obgleich es nicht das perfekte Buch ist, hat es mindestens ein halbes dutzend Szenen/Kapitel, die ich nie wieder vergessen werde und die so dermaßen gut geschrieben und mitreißend sind, ich wäre fast ins Buch gekrochen und hätte wahlweise die Figuren geschüttelt, ihnen das Leben gerettet oder wäre ihnen um den Hals gefallen. Das. Ist. Großartig.
Die meisten Bücher haben solche Szenen gar nicht, wenn man richtig viel Glück hat, weist ein großartiges Buch ein oder zwei davon auf. Aber sechs? Bitte. Nein.
So können nur sehr wenige Menschen schreiben und die Bandbreite des Autors ist beeindruckend. Nicht nur schafft er es, auch ambivalente Trauer (über geliebte, aber nicht immer gemochte Personen) adäquat zu beschreiben, er kriegt auch Angst/Schock/Terror hin, eine Schießerei, einen Bombenanschlag, eine Rettung aus einer brennenden Stadt, einen verzweifelten Rettungsversuch in eine überschwemmte Stadt, Gefühle der Liebe, Gefühle der Angst, Gefühle der Hoffnung, Verzweiflung - und das alles mit frischen Worten und authentischen Stimmen. Ohne melodramatisch zu werden (komplett ohne!) traut der Autor sich an die Gefühle seiner Figuren so nahe heran, dass es unmöglich ist, davon nicht bewegt zu werden.
Und gerade bei diesem Thema, das für uns Menschen weltweit das zurzeit wichtigste Thema (vielleicht auf Generationen) darstellt, kommt man ohne diese Gefühle nicht aus.
Ich könnte noch anderes loben, wie die Recherche (sogar die AfD wird erwähnt), die Struktur, die Verschachtelung, der absolut gelungene letzte Satz, der Einstieg, aber ich konzentriere mich in dieser Rezension auf die Figuren und meine Lieblingsszenen.
Zum Plot sei gesagt, dass der Roman ca. 2014 startet und etwas nach 2039 endet und beschreibt, wie die Welt versucht (wenn auch aus sehr amerikanischer Sicht, aber mit Beachtung der restlichen Welt) die Klima-Katastrophe abzuwenden oder zumindest weniger gravierend werden zu lassen, aller massiven Widerstände zum Trotz. Der Plot und auch der Schluss sind mir als außerordentlich realistisch erschienen.
Doctor Tony Pietrus (the oceanographer and climatologist)
Es gibt sechs Perspektivfiguren. Abgesehen mal von einigen Zeitungsartikeln und anderen Essays zwischendurch (vor allem im ersten Viertel des Romans) oder den "Kästchen" in Shanes Kapiteln und einem zwei-Stunden-langen Kapitel in der zweiten Hälfte des Romans sind alle Kapitel aus der Sicht einer der sechs Figuren.
Ich mochte Tony am liebsten, vielleicht auch, weil er der erste war, weil "sein" Kapitel, mit dem der Roman startet, mich absolut für ihn und den Roman eingenommen hat. Ich musste dann natürlich ziemlich lange auf ein Wiedersehen mit ihm warten, da erst die fünf anderen eingeführt wurden.
Ganz zu Beginn des Romans wird Tony Opfer eines mutmaßlichen Anthrax-Anschlags und wie er da sitzt, den Umschlag, das Pulver und seine Hände anstarrt, unfähig, etwas zu unternehmen, sich zu rühren, zu begreifen, was da gerade geschieht, das war spannend, lesenswert und hat mich sofort geankert. Die Rezension von Ian Mond hat mich nur so weit gebracht, mir die Leseprobe herunterzuladen, aber gekauft habe ich das Buch wegen Tony Pietrus.
Mein Best-Of-Moment mit Tony:
Obwohl ich all seine Kapitel liebe und mich immer gefreut habe, ihn wiederzusehen, war doch mein Lieblingskapitel das, in dem er sich aufmacht in die brennende Stadt in Kalifornien, in der seine Tochter Kat mutmaßlich bewusstlos und zugedrogt nicht bemerkt, dass um sie herum die Stadt niederbrennt. Nur mithilfe der (sehr schrägen) Hilfe von Ash, einer weiteren Perspektivfigur, schafft er es überhaupt dorthin, erhält Hilfe von einem Hund und einem Obdachlosen und der unwahrscheinlichsten Person aus seiner weitläufigen Familie. Rezensent Mond hat dieses Kapitel als "cinematic" bezeichnet. Absolut. Lese ich lieber als dass ich mir einen tollen Kinofilm anschaue. Wobei gern jemand aus dem Roman eine dicke Serie machen darf, gern mit sechs Staffeln.
Tonys späterer Konflikt, sich um sich selbst und seinen extrem gefährlichen Gesundheitszustand zu kümmern oder weiterhin dabei mitzuhelfen, dringend notwendige Pläne gemeinsam mit einer Task Force zu erstellen, damit seine Enkelin nicht irgendwann als unzivilisierte Teilzeit-Kannibalin endet, ist beispiellos. Absolut überzeugend.
Matthew Stanton (Partner von Kate Morris)
Matthew kommt relativ spät vor und sein Fokus liegt weniger auf sich selbst, sondern auf seine spätere Langzeitpartnerin Kate Morris, die eine zentrale Figur im Roman ist und sehr einflussreich, aber wir erhalten ihre Perspektive nie direkt, immer durch andere (viel durch Matt, später auch durch Jackie). Was schlau ist.
So bleibt Kate voller Leerstellen, für uns genauso wie auch für Matt oder Jackie oder alle anderen. Kate symbolisiert viel mehr als alle anderen Figuren, worum es in diesem Roman eigentlich geht: um unsere Erde.
Es geht nicht um Ruhm, ein Vermächtnis einer Einzelperson oder darum, Geschichte zu machen. Es geht Kate (und dem Roman) darum, zu zeigen, wie wertvoll unsere Erde ist und dass wir sie retten sollen, nicht nur um unserer selbst willen, auch, weil sie für sich selbst genommen rettenswert und schön ist.
Well. Nun. Vielleicht ist es besser, das auf neunhundert Seiten zu sagen als zu versuchen, es auf drei Sätze herunterzukochen.
Durch Matts Augen lernen wir Kate kennen und durch seine Liebe, aber auch durch seinen Ärger auf sie, bleibt sie plastisch und ambivalent. Das ist ein äußerst cleverer Griff, viel besser, als Kate direkt eine Perspektive zu verpassen.
Matthew hat das letzte Wort in dem Roman und ich bin Fan seines Vaters, der zwar eine Nebenfigur bleibt, dessen Ende mich aber dennoch tief bewegt hat. Es gab Tränen, wenn auch nicht so viele wie bei Tony.
Das letzte Kapitel von Matthew ist es auch, was nicht nur sein bestes und größtes war, sondern auch den Roman perfekt abrundet und abschließt. Mond schrieb, das Ende sei ihm zu gehetzt. Es mag etwas weniger szenisch und etwas zusammenfassender gewesen sein als der Rest, ja, aber sonst hätte Markley wohl noch weitere vierhundert Seiten schreiben müssen und viele hätten das Buch nicht mehr ohne Hilfe anheben können.
Aber auch Matts letzte Begegnung mit Kate hat mich sehr stark mitgenommen, so etwas kann ein Roman wirklich nur leisten, wenn er einige Jahre mit seinen Figuren verbringt.
Shane Acosta (the ecoterrorist)
Das Einstiegskapitel war wirklich interessant und rätselhaft, da Shane sich mit einem alten Liebhaber, Murdock, trifft. Es ist noch unklar, warum. Murdock ist Bombenspezialist und sie will ihn für die Terrorgruppe 6 Degrees akquirieren.
Shane kommt mir vermutlich am wenigsten nah, auch wenn es einiges in ihren Kapiteln gibt, das mich sehr beeindruckt hat. Im Laufe der Handlung wird sie Zeugin einer Exekution. Sie zweifelt an der Richtigkeit dieser Handlung, genau wie auch ich, aber schon im nächsten Kapitel wird klar, warum es keine Alternative gab. Absolut überzeugend.
Was Shane betrifft, wurden für mich nicht alle Fragen beantwortet, ich mache mich beim zweiten Lesen auf die Suche danach.
Ashir al-Hassan (scientist)
Wir lernen Ashir sehr jung kennen. Er ist genial und er ist Autist. Was zunächst nach Stereotype klingt, bleibt keine, dafür ist der Charakter viel zu komplex. Ja, Ashir bleibt schräg und seine Kapitel sind sehr interessant strukturiert. Auch seine Begegnungen mit anderen Figuren (zuerst Tony, später auch anderen) sind aufschlussreich. Wie wirkt dieser Mann auf andere?
Es gibt später im Buch ein Kapitel, in dem Ashir nach dem Tod seines Mannes seinen kleinen Sohn und sich mit nur tausend Kalorien pro Tag ernährt, als Experiment, weil eine Hungersnot droht. Die Kapitel sind so eindringlich und krass geschrieben, dass ich fast ins Buch gekrochen werde. Es hilft nichts, wenn ich mir sage, dass das, was da geschrieben wird, nie "in echt" passiert ist, für mich war es beim Lesen echt. Der Autor hat es für mich lebendig gemacht, absolut echt, ich konnte dem nicht ausweichen, weder intellektuell noch emotional.
Ich mag Ash. Trotz allem. Ein weiteres Highlight für mich.
Jackie Shipman (the rich woman)
Anfänglich finde ich Jackie ziemlich normal, sie ist mir selbst am ähnlichsten, später wird sie dafür viel zu reich. Ich habe mich lange gefragt, warum ich sie in einem Kapitel kennenlerne, in dem sie einen One Night Stand mit einem berühmten Schauspieler hat. Da dieser Schauspieler später sehr am Schwurbelrad dreht, sich "the pastor" nennt und sogar Präsidentschaftskandidat ist (und gegen Abtreibung ist, was einen zusätzlichen Beigeschmack hat, weil wir wissen, dass er Jahre zuvor mit Jackie ohne Kondom geschlafen hat), weiß ich: Der Autor weiß, was er tut. Ich kriege hier keine unnützen Dinge erzählt.
Jackies ambivalentes Verhältnis zu ihrer Familie, allen voran ihrer Mutter, hat mich beeindruckt. Sie sucht ihre Mutter in einer überfluteten Stadt. Wie sie sie findet (und eine Notiz, auf der nur steht "The floor is wet"), bleibt eine der eindrucksvollsten Szenen des Romans.
John Gerald (Keeper) (the poor drug addict)
Zugegeben, anfänglich habe ich diese Perspektive (in der zweiten Person Singular) überhaupt nicht ausgehalten. Das ging so weit, dass ich manchmal schnell gelesen, quer gelesen oder sogar übersprungen habe.
John Gerald ist kaum auszuhalten. Oder war kaum auszuhalten. Das ändert sich, aber das dauert Jahre.
Er findet eine Frau, die er liebt, hat mit ihr ein Kind, Toby, das er ebenfalls liebt. Johns finanzielle und organisatorische Situation ist überaus prekär, teilweise lebensbedrohlich, vor allem für Toby, der Asthma hat und stark hörbehindert ist. Johns Szenen mit Toby sind - ich kann's gar nicht beschreiben. Vor allem, wenn man weiß, was John für ein Typ ist.
Anfänglich unerträglich, dann ambivalent bis hin zu erstaunlich liebevoll, gegen Ende fast heldenähnlich, aber die ganze Zeit über extrem echt. Wie er diese Perspektive so überzeugend hingekriegt hat, ist mir ein Rätsel. Der muss sehr weit weg von der Erlebniswelt und der Gefühlswelt des Autors gewesen sein. Viel weiter noch als die Frauen oder der autistische Wissenschaftler.
Fazit
Der Roman ist nicht einfach, selbst nicht für jemanden, der seit 2005 größtenteils Prosa auf Englisch liest. Das ist kein "Ich haue 900 Seiten in fünfzehn Stunden runter"-Buch. Vierzig Stunden waren es sicherlich.
Vor allem das erste Viertel hat einige Längen. Ich war versucht, aufzugeben und etwas einfacheres zu lesen. Selbstverständlich war das nach dem Kapitel, in dem Tony seine Tochter aus einem Feuer rettet, keine Option mehr, da wusste ich, was ich da für ein Lese-Erlebnis in Händen hatte.
Ich würde niemandem empfehlen, den Roman zu lesen, der nicht gemütlich auf Englisch lesen kann. Vielleicht auch etwas Mut zur Lücke hat, wenn's zu anstrengend wird (nicht jeder Zeitungsartikel ist zum Verständnis notwendig).
Es ist nur einfach der helle Wahnsinn, wie gut dieses Buch ist. Wie hochprofessionell, echt und mitreißend gewisse Szenen sind. Die werde ich noch genauer analysieren und erneut lesen.
Das ist nicht mein letzter Kontakt zu diesem Roman.
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