Shannon Chakraborty: Die Abenteuer der Piratin Amina al-Sirafi
Orig.: The Adventures of Amina al-Sirafi, 2023
Panini, Stuttgart, 10/2023, Paperback, ISBN 978-3-8332-4396-7
Willkommen in 1001 Nacht! In ihrem neuen Roman „Die Abenteuer der Piratin Amina al-Sirafi“ entführt uns Shannon Chakraborty erneut in einen magischen Orient voller Dschinn, Dämonen, Schätze und Abenteuer. Allerdings spielt das Buch diesmal nicht zu Anfang des 19. Jahrhunderts wie der Daevabad-Zyklus, sondern zur Zeit der Kreuzzüge, und so ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte die Suche nach Gott oder jedenfalls nach göttlicher Macht.
Amina al-Sirafi ist eine Piratenkapitänin im Ruhestand. Zehn Jahre zuvor ist sie den Reizen eines Dämons erlegen, was den schrecklichen Tod ihres Freundes und Mannschaftskameraden Asif zur Folge hatte. Noch einschneidender für ihr Leben ist jedoch, dass sie von dem Dämon schwanger geworden und eine Tochter zur Welt gebracht hat – Marjana, die sie über alles liebt. Aus Angst, dass die Kleine die Wahrheit über ihre Herkunft herausfinden könnte, lebt Amina nun zurückgezogen unter falschem Namen in der Nähe von Aden und hat ihr geliebtes Schiff, die Marawati, ihrem Maat Tinbu überlassen. Doch eines Tages erhält sie Besuch von Asifs Mutter, einer reichen und mächtigen Adeligen, mit der nicht zu spaßen ist. Asifs sechzehnjährige Tochter Dunya ist von Falco Palamenestra, einem Franken, entführt worden, und Amina soll sie zurückholen. Andernfalls werden ihre Tochter und alle, die ihr lieb und teuer sind, büßen müssen. Amina bleibt keine Wahl. Sie trommelt ihre alten Freunde zusammen, die Giftmischerin Dalila, den Maat Tibu, den sie zuerst einmal mitsamt seiner Mannschaft aus dem Gefängnis befreien muss, und den Navigator Majed, bevor sie endlich mit der Marawati in See stechen und sich auf Falcos Fährte setzen kann.
Bald stellt sich heraus, dass Falco besessen ist von magischen Artefakten und sehr bewandert in magischen Künsten – und dass Dunya keinesfalls von ihm entführt wurde, sondern freiwillig mit ihm gegangen ist, um ihrer Großmutter zu entkommen. Sie hat Falco versprochen, ihn zum sagenumwobenen Mond von Saba zu führen, ein Artefakt, das seinem Besitzer göttliche Kräfte verleihen und sich in einer Höhle auf einer von Piraten beherrschten Insel befinden soll. Nur leider ist Falco nicht der Typ Mensch, in dessen Händen man ein solch machtvolles Artefakt wissen will. Und so muss Amina nicht nur Dunya und ihre eigene Tochter Marjana retten, sondern auch noch verhindern, dass Falco sich zum Gott aufschwingt. Richtig kompliziert wird es aber erst, als Aminas totgeglaubter Dämon-Ehemann wieder auftaucht und Amina notgedrungen seine Hilfe annehmen muss. Und dann landet Amina auch noch auf einer von magischen Wesen bevölkerten Insel, worauf für Menschen die Todesstrafe steht. Chakraborty flicht hier einige Anspielungen auf ihren Daevabad-Zyklus ein, dessen Kenntnis allerdings für das Verständnis des Romans nicht notwendig ist. Aber allen Widrigkeiten zum Trotz steht Amina am Ende Falco gegenüber.
„Die Abenteuer der Piratin Amina al-Sirafi“ ist ein farbenprächtiger Abenteuerroman, der alles besitzt, was für ein richtiges Seemannsgarn nötig ist: tapfere Seeleute, legendäre Schiffe, Meeresungeheuer, sagenhafte Schätze samt Schatzkarten, finstere Bösewichte, Schwertkämpfe, dunkle Geheimnisse und – natürlich – Piratinnen. Wunderbar bildhaft, atemlos spannend und stets mit einem Augenzwinkern erzählt Chakraborty von einer Jagd, die ihre Heldinnen und Helden über den halben Indischen Ozean an Dutzende exotische Schauplätze und in zahllose Gefahren führt.
Mit echtem Piratenunwesen, mit brutalen Überfällen, ermordeten Seeleuten oder dem Verkauf in die Sklaverei hat das Ganze wenig zu tun. Amina verkörpert vielmehr die romantische Vorstellung von einer Piratin, wie man sie aus alten Hollywoodfilmen kennt, tollkühn, charismatisch und ein bisschen verrückt. Sie überfällt zwar Schiffe, aber tötet nur, wenn sie muss, und kämpft irgendwie immer auch für das Gute. Und so sind auch ihre Freunde, selbst die Giftmischerin Dalila, keine gnadenlosen Verbrecher und Mörder, sondern gewitzte und charmante Gauner, die mit ihr durch dick und dünn gehen und das Herz auf dem rechten Fleck haben. Überhaupt spielen Freundschaft und Loyalität eine wichtige Rolle in dem Roman. Amina wird zu ihrer Reise gezwungen, aber sie unternimmt sie letztlich auch, weil sie gegenüber ihrem verstorbenen Freund Asif Schuldgefühle hat. Erst jetzt, da für Amina alles auf dem Spiel steht, lernt sie den Wert der Freundschaft, die sie mit Dalila, Tinbu und Majed verbindet, wirklich zu schätzen. Ohne sie wäre Amina mehr als einmal verloren. Und am Ende findet Amina Hilfe und Loyalität an völlig unerwarteter Stelle.
Vor dem historischen und kulturellen Hintergrund erscheint eine Piratenkapitänin zunächst überraschend, aber Chakraborty räumt schnell mit der Vorstellung auf, das Leben einer Frau im Orient habe sich damals stets hinter Schleiern und Mauern abgespielt. Sie setzt den vornehmen Damen hinter den Sichtschirmen die Frauen aus dem einfachen Volk gegenüber, die sich in der Öffentlichkeit zeigen und ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, auch wenn das ihr Ansehen herabsetzt. Für Amina ist ein Leben im Harem ebenso fern und ungewöhnlich, wie für die Frau eines Franken, aber es ist gleichwohl ein selbstverständlicher Teil ihrer Kultur für sie. Chakraborty schildert sie als Kind ihrer Zeit, nicht als moderne Vorkämpferin für Frauenrechte. Sie ist sich der Beschränkungen, die den Frauen auferlegt werden – nicht anders als im Rest der Welt – bewusst, ist aber nicht bereit, sie hinzunehmen - nicht aus Gründen der Gleichberechtigung, sondern weil sie selbst über ihr Leben entscheiden will und das auch jedem anderen zugesteht. Und damit steht sie nicht allein. Allen von Chakrobortys weiblichen Charakteren ist gemein, dass sie selbstbestimmt und willensstark sind, ob sie nun an Deck eines Schiffes die Meere befahren, als Ehefrau und Mutter ihre Familie versorgen oder aus den Tiefen ihres Palastes die Geschicke anderer Menschen bestimmen.
Unaufgeregt und pragmatisch behandeln Chakrabortys Protagonisten das Thema Religion. Dalila ist Christin, Tinbu Jude und Amina und Majed sind Muslime. Sie alle üben ihren Glauben anders aus, aber in ihrer buntgewürfelten Schicksalsgemeinschaft auf dem Schiff spielt das für sie ebenso wenig eine Rolle wie in ihrer Freundschaft zueinander. Angesichts der Gräuel, die von den Kreuzfahrern im Heiligen Land begangen wurden, aber auch der Verbrechen an Juden und Christen, erscheint dieser selbstverständliche und tolerante Umgang miteinander vielleicht ein wenig zu idealistisch, zumal die Protagonisten alle durch Angehörige anderer Religionen Verletzungen erlitten haben. Das gilt erst recht, wenn man die Verbrechen betrachtet, die heutzutage im Namen der Religion verübt werden. Aber Chakraborty geht es hier ersichtlich darum zu zeigen, dass Freundschaft und Toleranz diese angeblich so bedeutenden religiösen Unterschiede überwinden können. Falco verkörpert den Gegenentwurf hierzu. Er ist ein ehemaliger Kreuzritter und von der Suche nach Gott besessen – einer Suche, bei der ihm jedes Mittel recht ist, ganz gleich wie viele Menschen er dafür foltern und töten muss. Er verkörpert den fanatischen Gläubigen, der in der Religion nicht Trost und Vergebung sucht, sondern Macht, und so ist es nur folgerichtig, dass er sich selbst zu einem Gott machen und die Magie dazu nutzen will.
Trotz aller Gefahren und der Angst um ihre Tochter ist das Ganze für Amina und ihre Freunde aber auch die Chance auf ein letztes großes Abenteuer. Sie sind alle nicht mehr ganz jung - Amina hat ein schlimmes Knie, Dalila sieht nicht mehr so gut -, aber sie wollen es noch einmal wissen und blicken mit der Abgebrühtheit ihrer mittleren Jahre auf das Geschehen. In einer wundervollen Szene erzählt Amina wie angenehm es sei, dass sie inzwischen in einem Alter sei, in dem sie über die Straße gehen könne, ohne ständig von jungen Männern angegafft zu werden oder sich ihrer Zudringlichkeiten erwehren zu müssen.
„Die Abenteuer der Piratin Amina al-Sirafi“ ist ein praller Schmöker, randvoll mit Wundern und Abenteuern, der einfach Spaß macht. Und vielleicht – so lässt es der Schluss hoffen – waren das noch nicht Aminas letzte Abenteuer.
Christine (Chris) Witt
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