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Gastrezension: The Marriage Act von John Marrs

Im Folgenden eine Gastrezension von Chris Witt zu The Marriage Act von John Marrs.

 

John Marrs: The Marriage Act

Orig.: The Marriage Act, 2023

Heyne, München, 08/2023, Taschenbuch, ISBN 978-3-453-32273-8

 

 

In John Marrs neuem Roman „The Marriage Act“ (zu Deutsch: „Das Ehegesetz“) propagiert die britische Regierung in naher Zukunft die sog. Smart Ehe. Eine Smart Ehe bietet eine Reihe von Vorteilen: Zugang zu besseren Wohnvierteln und besseren Schulen für die Kinder, eine bessere Krankenversorgung, niedrigere Darlehenszinsen und Steuervorteile. Aber wie so oft, wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, gibt es auch einen Haken. Das Gesetz über die Unantastbarkeit der Ehe gewährt all diese Vorteile nur Paaren, die eine glückliche Smart Ehe führen, denn nur in glücklichen Beziehungen sind die Partner gesünder, seltener physisch oder psychisch krank und leben länger, wie Studien belegen sollen. Daher müssen Paare, die eine Smart Ehe eingehen oder ihre bestehende Ehe in eine Smart Ehe upgraden, zustimmen, dass in ihren Wohnungen und Fahrzeugen Überwachungsgeräte eingebaut werden, sogenannte Audites, mit deren Hilfe eine künstliche Intelligenz jederzeit Gespräche aufzeichnen und analysieren kann. Prognostiziert die KI, dass die Beziehung gestört und der Erhalt der Ehe gefährdet ist, müssen sich die Ehepartner einer Eheberatung durch einen Beziehungsbegleiter oder eine Beziehungsbegleiterin unterziehen. Kommt der Beziehungsbegleiter oder die Beziehungsbegleiterin zu dem Schluss, dass die Ehe nicht mehr zu retten ist, kann die Ehe sogar zwangsweise geschieden werden.

 

Der Roman folgt den Schicksalen von fünf Personen, deren Leben auf unterschiedliche Weise von der Smart Ehe beeinflusst wird. Er beginnt mit einem Paukenschlag. Jem Jones, eine bekannte Videobloggerin, nimmt sich vor laufender Kamera das Leben, weil sie die Hetze und die Anfeindungen, die ihr im Internet entgegen gebracht wurden, nachdem sie sich für die Smart Ehe ausgesprochen hat, nicht mehr erträgt. Erschreckend realistisch schildert Marrs die Folgen des Cybermobbings, zeigt auch, wie dieser öffentlich zelebrierte Tod politisch ausgeschlachtet wird. Erst allmählich stellt sich heraus, dass dieser Selbstmord der Regierung ein wenig zu sehr zupass gekommen ist. 

 

Roxy, eine erfolglose Videobloggerin, träumt davon, so berühmt und erfolgreich zu sein wie Jem Jones. Ehefrau und Mutter zu sein, füllt sie nicht aus. Sie will unbedingt Jem Jones‘ Nachfolge antreten, aber als ihre Karriere endlich in Schwung kommt, leidet ihre Ehe darunter. Als Frau, die im Internet die Vorteile der Überwachung durch die Audites preist, muss sie aber verhindern, dass ihre eigene Ehe als gefährdet eingestuft wird.

 

Arthur ist ein pensionierter Feuerwehrmann, der seit neunundvierzig Jahren mit seiner Frau June verheiratet ist, die an einer unheilbaren Form von Demenz leidet. Die beiden haben ihre Ehe upgraden lassen, weil sie sonst wegen zu hoher Steuern ihr Haus verloren hätten. Nun fürchtet Arthur, dass man seine kranke Frau zwangsweise in ein Heim bringen könnte.

 

Anthony arbeitet an streng geheimen Projekten für die Regierung. Mit illegalen Aktionen soll er dafür sorgen, dass die Zustimmung zur Smart Ehe und anderen Plänen der Regierung wächst, damit die Regierung die nächste Wahl gewinnt. Schnell wird klar, dass er für Jem Jones‘ Tod verantwortlich ist.

 

Corrine ist in einer lieblosen Ehe mit einem reichen Geschäftsmann gefangen. Sie engagiert sich politisch gegen die Smart Ehe, nicht immer ganz legal. Als der Versuch schief läuft, die Verbrechen eines Regierungsmitglieds aufzudecken, muss sie eine Verhaftung fürchten.

 

Und dann ist da noch Jeffrey, der als Beziehungsbegleiter für die Regierung tätig ist. Er ist psychisch krank und hat schon mehrere Paare, deren Ehe er untersuchen sollte, ermordet, weil er sich in einen der Ehepartner verliebt hat, seine Gefühle aber nicht erwidert wurden. Jedes Mal ist es ihm gelungen, den Verdacht von sich abzulenken. Sein neuester Auftrag führt in zu Luca und Noah und wieder entwickelt er Gefühle für einen der beiden.

 

„The Marriage Act“ ist als Thriller konzipiert und wird auch als solcher beworben. Tatsächlich jedoch wirkt der Roman dort am überzeugendsten, wo er nicht von Serienkillern und perfiden Regierungsplänen handelt. Viel erschreckender als die dunklen Machenschaften, die Anthony zu realisieren hilft und die man in jedem Verschwörungsthriller findet, oder die beeindruckende Liste an Morden, die Jeffrey verübt hat, sind die als ganz normal betrachteten Umstände, vor denen die beiden Männer agieren. Marrs schildert ein Land, in dem ein Großteil der Bevölkerung es als Selbstverständlichkeit ansieht, nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in der – grundsätzlich besonders geschützten – eigenen Wohnung vom Staat überwacht zu werden. Nicht etwa, weil Großbritannien sich in ein offen repressives Regime verwandelt hätte, sondern weil die Menschen dieser Überwachung selbst zugestimmt haben – im Austausch für finanzielle Vorteile. Es ist ein perfider, aber wirkungsvoller Trick, mit dem sich der Staat Zutritt zur Privatsphäre seiner Bürger verschafft und ihr Wohlverhalten erzwingt, denn eine gescheiterte Ehe bedeutet den Verlust all der zuvor gewährten Privilegien, zieht regelmäßig den Verlust der Wohnung und des Jobs und schließlich den sozialen Abstieg nach sich. Dasselbe Schicksal droht allen, deren Ehepartner versterben und die sich nicht umgehend um eine neue Beziehung bemühen. 

 

Anders als beim Sozialkredit-System, wie es in China auf alle Bürger Anwendung findet und in dem Punkte für erwünschtes und Punktabzüge für unerwünschtes Verhalten berücksichtigt werden, haben die Bürger in Marrs Roman vermeintlich die Wahl. Sie müssen sich aktiv für eine Smart Ehe entscheiden. Personen, die nicht in einer Beziehung leben, und Paare, die eine „normale“ Ehe führen, erkennen jedoch schnell, dass ihnen berufliche und soziale Aufstiegschancen verwehrt bleiben. Sie werden zu Bürgern zweiter Klasse mit schlechteren Jobs, schlechteren Wohnungen und schlechterer medizinischer Versorgung. Marr flicht hier immer wieder interessante kleine Details ein. So hätten Arthur und seine Frau ohne ein Upgrade Steuern auf ihre Schlafzimmer zahlen müssen. Daher lassen die Protagonisten in Marrs Roman ihre Ehe aus finanziellen Gründen upgraden – und nehmen die Überwachung als notwendiges Übel in Kauf.

 

Die wahre Macht des Staates in Marrs Roman offenbart sich aber erst, wenn die Algorithmen der KI eine „Gefährdung“ der Ehe festgestellt haben. Die Ehepartner erhalten keine Informationen darüber, warum ihre Ehe als gefährdet gilt. Sie erfahren lediglich, dass eine Gefährdungsstufe erreicht wurde. Ob tatsächlich Ehestreitigkeiten oder nicht viel eher laut geäußerte Kritik an der Regierung der Grund dafür ist, bleibt ungewiss. Die Ehepartner sind daher hilflos dem staatlichen System ausgeliefert, müssen eine Inquisition ihrer intimsten Privatsphäre, sogar ihres Sexuallebens erdulden und ggf. sogar zulassen, dass ein Beziehungsbegleiter oder eine Beziehungsbegleiterin sich wochenlang in ihrer Wohnung einnistet und ihre Ehe analysiert – und die Macht besitzt, ihr Leben zu zerstören. Dass es bei der Eheberatung tatsächlich nicht um den Zustand der Ehe geht, sondern vielmehr um staatliche Kontrolle, wird schon daraus ersichtlich, dass es keiner psychologischen Ausbildung bedarf, um Beziehungsbegleiter zu werden, sondern nur eines kurzen Lehrgangs – und dass echte Eheberater ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen. So ist das eigentlich Gruselige an der Figur des Beziehungsbegleiters Jeffrey nicht seine mörderische Natur, sondern der Umstand, dass er sich, mit umfassender staatlicher Autorität ausgestattet, Zugang zu den Wohnungen und dem Leben seiner Opfer verschaffen und ihr Vertrauen erschleichen kann, in dem Bewusstsein, dass sie völlig von seiner Entscheidung abhängig sind.

 

Wer aber regierungstreu ist, die Werte von Ehe und Familie hochhält und der Überwachung durch den Staat zustimmt, wird vom Staat belohnt. So erkennt die clevere Influencerin Roxy recht schnell, was der Beziehungsbegleiter von ihr hören will. Dementsprechend setzt sie sich auch lautstark dafür ein, die Überwachung durch Audites auf die gesamte Bevölkerung auszuweiten – was sich am Ende für sie auszahlt.

 

Da erscheint es nur folgerichtig, dass Ehepartner, die alt oder unheilbar krank sind, ihrer Familie und dem Staat nicht zur Last fallen sollen. Und so werden die Ehepartner der Smart Ehe angehalten einzuwilligen, dass man sie in diesem Fall in eine Klinik bringt, wo sie „sanft hinübergeleitet“ werden. Es ist eine perfide Form von „Sterbehilfe“, die Arthur und seine Frau in panische Angst versetzt. Immer offener zeigt sich rechtsradikales Gedankengut auch in den Plänen der Regierung für Jugendliche, die nicht genug Leistung erbringen (als „Minderleister“ bezeichnet) und in speziellen Häusern interniert werden sollen.

 

Immerhin gibt es in Marrs Großbritannien der Zukunft noch Menschen, die Widerstand leisten, sich in Parteien und Organisationen zusammenschließen, um einen Regierungswechsel und eine Aufhebung des Ehegesetzes zu erreichen. Trotz aller Intrigen und finsteren Machenschaften ist die Regierung noch nicht so mächtig, dass sie die Opposition ausgeschaltet hat. 

 

Gegen Ende des Romans nehmen die Handlungsstränge um Anthony und Jeffrey breiten Raum ein, wobei die Handlung leider teilweise recht vorhersehbar ist. Der Schluss wirkt dann ein wenig zu dick aufgetragen, um wirklich zu überzeugen. Insgesamt betrachtet ist „The Marriage Act“ jedoch ein hochspannender Roman über eine beklemmende, angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen auf der Welt aber vielleicht gar nicht so ferne Zukunft. 

 

 

Christine (Chris) Witt

 

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