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Passage von Connie Willis und Kälte (Cold People) von Tom Rob Smith

Klar, Connie Willis schweift gern aus. In Passage fällt das besonders auf. Irrungen und Wirrungen überall, auf mehr als einer Seite denkt die Protagonistin Dr. Joanna Lander nach: "Wo habe ich das schon gehört?" "Was hat das zu bedeuten?". Das mag ermüdend wirken, doch die Stärken des Romans überwiegen.

 

Willis gelingt es sogar Nebenfiguren mit nur drei Wortbeiträgen ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Jede Figur hat ihre eigene Agenda und sei es nur, Dr. Lander davon abzuhalten, ohne Anmeldung ihre alte High School zu betreten. Überhaupt, die Atmosphäre passt. Es wird so viel detailreich geschildert auf dem Weg zur Erkenntnis, dass ich richtig mitgehe, sehr nah am Alltag und an den Gedanken der Hauptfigur bin und den Eindruck habe, ein Weilchen an ihrem Leben teilnehme. Das ist großartige Prosa!

Ja, man muss Zeit mitbringen, aber ich werde auch belohnt.

 

Plus, es ist ungewöhnliche SF, es darum, wie Nahtoderfahrungen (bei Herzstillstand) ggf. dazu genutzt werden könnten, Leben zu retten. Klingt abgefahren, war aber so gut erklärt, dass ich jedes Wort davon gekauft habe.

Anders Kälte (Cold People) von Tom Rob Smith, das zwar vielversprechend beginnt, aber zum Ende hin immer mehr absackt. 

 

Die Ideen sind durchaus schön - aber macht man etwas draus? Nein, macht man nicht. 

Der Roman hat seine Momente, gefällt mir aber in der Struktur überhaupt nicht. Wenn man (wie ich) einfach anfängt zu lesen, wird man mehrfach von der Struktur überrumpelt. 

 

Das erste Kapitel spielt in ferner Vergangenheit, ist sprachlich angenehm, scheint aber weglassbar zu sein.

Es folgt ein Kapitel, das inhaltlich sehr interessant ist, über jemanden, der in der Antarktis forscht und allmählich den Verstand verliert. Das Kapitel ist aber auch unwichtig, weil die Figur später nur mal am Rande erwähnt wird.

 

Erst danach, mit Liza und Atto in Portugal, lernen wir Figuren kennen, die (wenigstens rudimentär) den gesamten Roman hindurch immer mal wieder auftauchen. Wir erleben die Alien-Invasion aus ihrer Sicht. Viel erfährt man von den Alien nicht. Sie stellen ein Ultimatum, das sie nicht weiter begründen: Alle Menschen müssen innerhalb von dreißig Tagen in die Antarktis umziehen. Es wird nie gesagt, was mit denen passiert, die das nicht schaffen, aber irgendwie wird davon ausgegangen, dass für diese dann das Spiel aus sein wird. Und so kommt es auch. Das war es dann aber auch schon mit den Aliens, um die geht es gar nicht.

 

Die Reise zur Antarktis war nun schon fast der solideste Teil (wenn auch nicht der innovativste) des Romans. Aber kaum sind sie dort angekommen, springt die Handlung zwanzig Jahre vorwärts und plötzlich geht es um genmanipulierte Menschen, an das Leben im Eis angepasst. Das wäre ja noch okay - aber nun werden ständig neue Figuren eingeführt und es gibt mehrere Rückblicke nach 2023, was mich irgendwann nicht mehr interessiert. Der Showdown ist nicht überzeugend. Das Ende zu offen. Wie war hier eigentlich die Prämisse?

Doch zurück zu Willis

Willis hat ein sehr klar umrissenes Thema, das sie nicht verlässt: Die Erforschung von Nahtoderfahrungen. Hier sind zwei Mediziner:innen, die jeweils ihre Gründe haben, Nahtoderfahrungen erforschen zu wollen und die sind angenehm pragmatisch. 

Der Alltag der Forschung, mit allen Rückschlägen und nur vorsichtigen Fortschritten wirken auf mich extrem authentisch, spannend selbst in den Details und machen den Roman zu einem befriedigenden Lese-Erlebnis. 

 

Es gibt so viele liebenswerte Figuren und auch Szenen. Selbst die "Bösen" (eher nervigen) Figuren lese ich gern. So fühlen sich Dr. Joanna Lander und ihr Partner Dr. Wright immer wieder von Dr. Mandrake verfolgt, der fest an daran glaubt, dass man bei Nahtoderfahrungen Nachrichten aus dem Jenseits mitbringen kann und auch mehr als nur leicht religiös angehaucht ist. Er und einige aus seiner Anhängerschaft gelten als antagonistische Kräfte, sind aber nicht auf dem Niveau eine Darth Vaders.  Solche Figuren sind typisch für Willis, man erinnere sich nur an die Geldgeberin in To say nothing of the dog (Farben der Zeit).

Ebenfalls typisch ist das viele Verirren und Verlaufen, das leicht chaotische. Die Figuren wissen oft nicht, wo sie sind und was sie als nächstes tun sollten, sind auf der Suche, aber ich gewinne nie das Gefühl, dass die Autorin den Überblick verliert und fühle mich bei ihr in guten Händen. 

 

Nebenfiguren wie der alzheimerkranke ehemalige Englischlehrer und seine ihn pflegende Nichte gewinnen rasch mein Herz, und einige schöne rote Nebenfäden wie die "Dish Night" (in Filmabend, bei dem man ungesunde Dinge snackt) bei Dr. Landers Freundin Vielle tragen zum Gewinn des Romans bei. 

 

Besonders die neunjährige Maise hat es mir angetan, die tapfer auf ein neues Herz wartet und dabei mit energetischem Eifer Desaster untersucht. Das ist ihre Art, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander zu setzen. Und auch der plappernde Ex-Marine hat mir viel Spaß gemacht. 

 

Weder die Handlung noch die Figuren werden mich nach dem Lesen so rasch wieder verlassen.

Fazit - wem werde ich zukünftig folgen?

Lebenszeit ist begrenzt, Lesezeit ist begrenzt. Um Tom Rob Smith mache ich zukünftig einen Bogen. Offenbar hat der Mann gute Ideen, die er aber strukturell nicht ausreichend gut umsetzen kann. 

Willis hingegen - das ist mein fünfter Roman von ihr und einige Kurzgeschichten kenne ich auch. Ich werde wohl früher oder später alles von ihr lesen. Gekauft sind schon drei weitere Romane.

Für mich spielt ihre Prosa in der Liga von meinem All-Time-Favorite Stephen King (auch wenn der manchmal Unfug treibt) und Paul Auster. 

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