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No Filter von Melanie Vogltanz in den Queer*Welten 10

Die Queer*Welten 10 sind kürzlich beim Amrûn Verlag erschienen.

 

Neben einer Handvoll anderen Kurzgeschichten (diesmal alles SF!) und Rezensionen, denen ich zum Teil schon nachgegangen bin, möchte ich mich in diesem Artikel meinem persönlichen Highlight der Ausgabe widmen.

 

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No Filter von Melanie Vogltanz

Die Autorin ist mir häufiger positiv aufgefallen: Die Idee zum Roman Shape me war auch sehr genial, einige andere Kurzgeschichten, u. a. die aus in Unsere Freunde von E Eridani, sind noch im Gedächtnis geblieben. 

 

No Filter ist eine jener seltenen Kurzgeschichten, die mich fast sofort packen und die ich gern mehrmals lese. Schöne, positive Story in einer fragwürdigen Near Future Welt.

Tolle Anker in der Jetzt-Zeit, zwei sympathische "mackige" Hauptpersonen und guter Weltenbau, der vor allem auf einen Aspekt fokussiert.

Dass die Perspektive zwischen den beiden Protagonistinnen hin- und herwechselt, bereichert die Geschichte und ist absolut passend.

 

"Manches ist zu hässlich, erschreckend, verstörend oder beunruhigend, um sich damit zu befassen."

In der beschriebenen Welt vermeiden Upload-Filter, dass unangenehme Dinge verfügbar werden. Dies betrifft sogar private Chats. Dort werden Flüche umgewandelt in Grafiken wie Gewitterwolken.

Gewalt wird in den Medien quasi nicht mehr gezeigt, man sieht so etwas nicht, weil es vorher weggefiltert wird.

Wer junge Kinder hat, wünscht sich vielleicht auch mal einen Filter, der dafür sorgt, dass der Vierjährige nicht mehr Worte wie "Scheiße", und "Arsch" aufschnappt und ich müsste nicht mehr zusammenzucken, wenn in einem vermeintlichen Kinderbuch dann im Dialog doch mal ein "Fick dich!" aufploppt. Andere Eltern würden mir (vielleicht?) auch nicht mehr im Gespräch entsetzt erzählen, dass unsere Siebenjährige im Auto von abgetrennten Köpfen und Kannibalismus erzählt hat. 

Doch welche Nebenwirkungen hat so ein Filter?

 

Semele "Sem", hat ihre Mutter verloren und ist gefangen ist einem komplexen Geflecht von Trauer, übrigens in aller Knappheit überzeugend dargestellt. Doch wie reagiert ihr Umfeld?

 

"Direkt nach dem Tod meiner Mutter war Olivia, wie die meisten anderen, noch verständnisvoll gewesen. Doch das hatte rasch abgenommen. Der mir gesetzlich zustehende Urlaub, die sogenannten Erinnerungstage, war beinahe vorüber. Alle waren der Meinung, ich müsse doch langsam mal wieder in die Spur zurückfinden - müsse mein Lächeln wiederfinden. Das Leben geht schließlich weiter."

 

Eine Reaktion des Umfelds, wie es womöglich auch heutzutage schon geschehen könnte, denn auch in unserer Alltagsrealität findet Trauer oft zu wenig Platz. Wir sollen gefälligst sofort weiter funktionieren. Im Supermarkt gehen Bekannte Personen, die kürzlich jemanden verloren haben, aus dem Weg, weil man die Konfrontation mit der trauernden Person vermeiden will. Erwähne ich meinen früh verstorbenen jüngeren Bruder, laufen die Leute weg, wenn auch oft nur gedanklich, es wird weggeschaut, schnellmöglich das Thema gewechselt. Beschäftigen wir uns doch lieber mit schönen Dingen!

Vogltanz extrapoliert dieses Verhalten, das (zumindest stellenweise) heute bereits üblich ist, in eine Welt, in der die Menschen unangenehme Inhalte gar nicht mehr gewohnt sind. Dafür braucht sie nicht viele Worte. Es ist sicher kein Zufall, dass eine der Hauptpersonen hier trauert. Das gibt uns die Chance, einen gezielten Blick auf das zu werfen, was diese Filter-Policy mit der Gesellschaft macht.

 

Außerdem - und das halte ich für eine wutschnaubende Unverschämtheit - wurde Sem nicht erlaubt, ihre sterbende Mutter zu sehen. 

"Tun Sie sich das nicht an. Glauben Sie uns. Es ist besser so."

Ich bin vermutlich nicht die einzige, die das anders sieht? Wir sprechen hier ja nicht von einem komplett verstümmelten Leichnam aufgrund eines fürchterlichen Unfalls oder gar nach einem gewalttätigen Übergriff. Es geht hier um das ganz normale Sterben. Viele von uns wissen, wir wertvoll diese letzten Tage und Stunden für Angehörige und Freund:innen sein können, noch letzte Dinge für die sterbende Person tun zu können und zu dürfen. Gar nicht erst davon zu reden, was es für die Sterbenden bedeutet, jemanden mit Liebe im Herzen in diesen Stunden an der Seite zu haben. 

Die Welt, die einen Filter über alles legt, was "hässlich" ist, wird dadurch selbst hässlich und mangelnde Reflektion lässt sie es nicht mal bemerken. 

 

Für uns (und auch für Sem) einen erfrischenden Gegenpol dazu bietet Eris. Mit erstaunlich flotten Sprüchen in Dialogen, einer sympathischen Mischung aus Respekt und einer gewissen Rotzigkeit, begegnen sich Sem und Eris zunächst in einer geschäftlichen Situation. Sem verkauft alte DVDs ihrer Mutter, unter anderen "das fünfte Element" an Eris, was offenbar zumindest von Eris' Seite aus juristisch nicht ganz unkritisch ist.

 

Eris spricht ungefiltert, nutzt Worte wie "Bullshit", "pissen" (statt regnen) und lässt es sich auch nicht nehmen, Sem mit einer Art frechem Humor zu begegnen ("tropf nicht auf den teuren Läufer" - Sem trägt matschige Turnschuhe, aber von einem Läufer ist keine Spur zu sehen).

Eris, als komplett Fremde, gelingt es auch, Sem ihr Beileid zum Ausdruck zu bringen. Auch in der relativ kurzen Begegnung begreift Sem, dass sie bei Eris nicht mit Sprüchen wie "du musst das positiv sehen" behelligt wird und hier sie selbst sein kann, auch inklusive frischer Trauer. Sie kehrt bei nächster Gelegenheit zu Eris zurück und nimmt das Angebot zu einem privaten Filmabend (das fünfte Element) an. Doch Sem ist diese Art von ungefilterter Gewalt nicht gewohnt. Eris reagiert verständnisvoll und es wird klar, dass Eris keinesfalls glaubt, alle müssten alles aushalten. Nein, Eris ist für das sorgfältige, reflektierte Auseinandersetzen mit (auch problematischen) Inhalten. 

 

Die Botschaft der Kurzgeschichte ist so unglaublich gut verpackt, das alles mit zwei perfekt charakterisierten Hauptfiguren, über die man manchmal Dinge in einem Halbsatz erfährt (Eris hat sich den Namen selbst gegeben, denn: "Der [Name], den meine Eltern mir gegeben haben, hat so gar nicht gepasst. Sie dachten bei meiner Geburt, ich würde zu einem Mann aufwachsen.") oder auch etwas wortreicher (Sem: "denn ich dachte immer vorab über alles nach, das ich verbalisierte, wälzte es mehrfach in meinem Kopf, schmiedete die Worte, bis sie sich genau richtig anfühlten. Oft dauerte das so lange, dass die Unterhaltung in der Zwischenzeit längst weiter- und an mir vorbeigezogen war.")

 

Ich lese die Geschichte auf der Sachebene pro Content Notes und kontra Zensur, auf der menschlichen Ebene darüber, wie wichtig es ist, seinen Gegenüber respektvoll anzusehen, anzuhören und in seiner jetzigen Stimmung ernst zu nehmen. Eris ärgert sich mehrfach darüber, wenn sie Sem nicht gleich richtig lesen kann und wünscht sich aktiv, sie könne mehr Schlüsse aus Sems Gesichtsausdrücken lesen, weil sie angemessen reagieren möchte. Das restliche (wenn auch knapp geschilderte) Umfeld scheint dieses Bedürfnis nicht zu teilen. Dieses "Gesehen werden" ist so wichtig und ist für mich eine der Säulen der Story, einfach gut gemacht. 

 

Unter den (durchaus bereits zahlreichen!) tollen SF-Kurzgeschichten, die ich bisher aus 2023 gelesen habe, ist das vermutlich bisher die großartigste.

 

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