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Oft habe ich in letzter Zeit diskutiert: Wann erinnert man sich an eine Anthologie oder eine Magazinausgabe?
Die Antwort lautet, dass es mindestens zwei Highlights geben muss, zwei Storys, die es in die Best-Of und/oder auf die persönliche Nominierungsliste schaffen.
Da muss ich mich verneigen vor dieser Ausgabe: Vier richtig gute Storys mit Best-Of-Potenzial, drei weitere sehr lesenswerte Geschichten und einige, die meinen persönlichen Geschmack nicht ganz getroffen haben und zu denen ich daher an dieser Stelle nicht weiter sprechen werde. Dieser Blog dient in der Hauptsache zum Feiern der Perlen, den Platz und meine wenige Freizeit nehme ich nur zum Schwärmen her, selten für Kritik.
Perlen und Perlesperlen
Ich kann mich kaum entscheiden, welche Story mein Liebling ist, vorerst habe ich vier und werde diese am Ende des Jahres erneut lesen und mich dann schweren Herzens festlegen. Beim Wiederlesen im Dezember/Januar wird es mir leichter fallen, Entscheidungen zu treffen.
Braun, Maike: Ein vierblättriges Kleeblatt
Die Geschichte ist etwas düster, alleine schon die Tatsache, dass Tajos Eltern ihn wenig perfekt finden, ihn daher quasi "spenden" und lieber ein neues Kind machen, ist dunkeldüster wie Sau.
Es fällt mir sehr leicht, mit Tajo mitzufühlen. Plus, es gibt schöne Details (Stichwort Daumennagel und Kirchenbank).
Die Idee, Tajo als präpubertierenden Jungen zu behalten und die Deutung am Ende, was das für seine selbstgewählte Identität bedeutet, fand ich gelungen.
Hier gibt es übrigens auch entblößte Körperteile, und siehe da, man kann das auch total nicht sexualisiert beschreiben und schon ist es einfach nur Umgebungsbeschreibung.
In der B-Story lese ich auch einiges über Freundschaft heraus, sei es zwischen den Geschwistern oder auch zwischen Tajo und Bruno.
Grüter, Thomas: Brandzeichen
Ich habe von Grüter vorher mindestens drei andere Geschichten (zwei andere aus der Exodus und eine aus einem Spektrum der Wissenschaft, glaube ich) gelesen, diese hier ist bisher mein persönlicher Liebling von ihm.
Der Ich-Erzähler wird mir sofort sympathisch und nah, die Welt auch, ist unserer recht ähnlich, also near future. Ich hätte die Erklärung nicht gebraucht, warum Zeitslots für Vorträge bei Konferenzen begehrt sind, aber nun gut, vielleicht bin ich bei zu vielen Konferenzen. :-)
Die beruflich-freundschaftliche Beziehung zu Ellie (Dr. Wong) fand ich klasse, auch das Detail mit der Überwachung nett, genauso wie Phishing zum Tesla-Auto. Ellie ist außerdem in ihrer Härte gegenüber sinnlosen Anmachen empowernd, ein schönes Gegengift zu einigen weniger modernen Frauenfiguren anderer zeitgenössischer SF.
Klar, das mit dem Hund und das letzte Wort der Story waren sicher ein wenig drüber, das war ein bisschen zu arg in Richtung Klamauk, beim Hund musste ich an MIB denken.
Vorsicht Spoiler
Ich mochte die Idee mit den Aliens und dem Genom und bei gut gemachten Neandertal-Plots bin ich leicht zu haben.
Mira, Aiki: Hier leben nur die Enkel von Elon Musk
Ich habe den Überbau der Story folgendermaßen verstanden: Als es auf der Erde wirklich gefährlich wird (Seuche), können einige wenige es sich leisten, auf den Mond umzuziehen. Die "Enkel von Elon Musk". Das habe ich jetzt nicht allzu wörtlich genommen, es sind eben Personen, die abartig reich sind und leicht asozial und nur sich selbst retten.
Interessant ist, wie subtil angedeutet wird, dass die Leute auf dem Mond ja auch von der Erde abhängig sind - sie bekommen Lieferungen von der Erde, wenn es den Leuten auf der Erde zu schlecht geht, kriegen sie nichts mehr. Somit ist die Prämisse der Story für mich, dass Reichsein auch nichts nützt, wenn wir untergehen, gehen wir alle unter. Das fand ich ziemlich großartig.
Es kann auch sein, dass das nur sehr implizit drinsteckt, da ja auf dem Mond nicht ge-terraformt wird, es wird nichts angebaut, die hocken da nur und haben via Videochat Kontakt zu anderen.
Ich hatte auch überlegt, ob ich mit dem Wechsel des Gesprächspartners mitgehe, erst spricht das erzählende Ich mit einer Frau, die vermutlich nun krank wird, dann mit dem Wissenschaftler, aber auch zum letzten Mal. Vermutlich soll das zeigen, dass die Kontakte zur Erde immer karger werden. Bevor ihnen die Nahrung ausgeht, werden sie vermutlich vereinsamen und den Verstand verlieren. Unterstreicht für mich die Botschaft.
Ich fand die Story sehr geil.
However - Schlange-Klitoris und Metoo: Nun kann man sich natürlich fragen, sind das Nebenthemen, oder sind das einfach Details, wie für Mira typisch? Their Storys sind ja oft bis zum Bersten mit Leben und Details angefüllt, was fast schon ein Alleinstellungsmerkmal ist. Dass man dabei die rote Linie manchmal nicht so klar sieht, ist mir auch schon passiert (manchmal muss ich zweimal lesen). Ich diskutiere aber immer wieder gern, ab welcher Stelle Details die Story anreichern und ab welchem Moment sie ablenken. Hier fand ich, es bewegt sich im Anreicherungs-Modus.
Übrigens wird das Geschlecht des erzählenden Ichs nie enttarnt und im Lesezirkel interpretieren wir das sehr unterschiedlich. Ich hatte ihn als männlich gelesen, vielleicht auch wegen der Überschrift?
Post, Uwe: Der Flaschenwal
Das erzählende Ich ist ein Kind, elf Jahre alt, und die Perspektive ist äußerst konsistent und gut gelungen. Dinge, die das Kind noch nicht rafft, während sie geschehen, können wir als Lesende schon vorher erahnen, aber noch nicht so sehr, dass der Schluss nicht trotzdem gut sitzen würde.
Die Idee mit dem Flaschenwal ist außerordentlich gut. Dann versäumt der Autor es nicht, auch die Geschwisterkinder so zu charakterisieren, dass ich sofort im Film bin. Der Weltenbau ist sehr klar, hat mir gefallen, ein wenig plakativ vielleicht, aber in der Kürze angemessen.
Es gibt außerdem schöne Brücken zu heute, wie die Verbotsschilder (S. 41, u. a. "Nicht herumlungern" und "Eltern haften für ihre Kinder".)
Ein wenig subtiler hätte das Verhältnis des Vaters zur Tante dargestellt werden können, so war es mir fast zu klar, tut aber dem Lesespaß keinen Abbruch, wäre nur eine Chance für mich als Lesende gewesen, nochmal selbst drauf zu kommen und befriedigt "Aha!" zu rufen.
Hier könnte ich eine Prämisse versuchen, würde mich aber auf eine Elternsicht stellen. Ich hatte kürzlich in einer anderen Story mit so einer Prämisse gehadert, mich dann aber doch anders entschieden. Hier ist sie sehr gut umgesetzt:
Vorsicht, Spoiler
Trenne ich mich von meinen Kindern, damit sie ein besseres Leben woanders, aber ohne mich, haben?
Wir können durchaus noch mehr Storys zu diesem Thema gebrauchen.
Ebenfalls lesenswert:
Krieg, Lisa Jenny: Die Todbringerin
Hatte ich schon in Life beyond us auf Englisch gelesen, lese ich aber gern noch mal auf Deutsch.
Die Autorin macht etwas, was in unserer Szene leider nicht selbstverständlich ist, sie bringt plastische, menschliche Details rein (und das bei diesem Szenario, das doch sehr weit weg von unserem Alltag ist!), um eine Brücke zwischen mir und den Figuren zu bauen. Siehe hier:
"Sicherlich wartete Manna zu Hause schon mit vor Aufregung zitternden Händen und einem großen Topf dampfender Brotsuppe, mit der sie ihre Pflegetochter nach jeder Reise empfing."
Im Podcast "Writing Excuses" von u. a. M R Kowal heißt es in einer Folge, dass eigentlich 60% des Texts zum Alltag/Hintergrund der Figuren sein muss, damit es uns überhaupt interessiert, was ihnen zustößt. Sonst hilft die beste Idee nichts (zumal es die meisten ja eh schon gab). Das hat Krieg eben drauf.
Plus, ich mag das Kolonialthema. Der Essay in der Anthologie Life beyond us geht auch gut darauf ein. Hier wird mal kritisch gefragt, was wir dürfen oder sollten. Ist nicht neu, ich weiß, ist aber wichtig.
An einer Stelle weist die Hauptfigur Verantwortung von sich, als sie betont, dass sie erst 22 ist, nicht 200 und daher nichts für den Schaden kann, der vor ihrer Zeit angerichtet wurde. Ich habe ähnliches auch schon gedacht bzgl. des zweiten Weltkrieges. Aber später habe ich überlegt, ob das gültig ist. In dieser Story schwingen solche Gedanken auch ein wenig mit. Hat mir gut gefallen. Immer wieder ein wichtiges Thema und es klingt hoffentlich nicht ganz so trivial, wenn ich es auf die Prämisse runterbreche.
Fildebrandt, Ulf: Das Chinesische Zimmer
Recht guter Einstieg, es gibt aber immer mal wieder sehr mainstreamige Formulierungen.
Auf Seite 2 hat die Story mich kurz verloren und ich wäre beinahe zur nächsten geflüchtet, dann hat es mich aber noch gekriegt und ich war von dem Dilemma begeistert. Die Untersuchung ist spannend geschildert.
Das Dilemma: Wer/wo ist das Gehirn, was/wo ist der Mensch? Sowas kann nur SF!
Am Ende wird zwar eine Entscheidung getroffen und zum Glück keine total naheliegende, trotzdem hat mich das Ende nicht sehr befriedigt hinterlassen.
Hermann, Uwe: Die End-of-Life-Schaltung
Ich finde den Titel übrigens gut und nicht spoilernd. Für mich war die Auflösung der Geschichte nämlich eine andere.
Schade ist nur, dass die Prämisse am Ende so deutlich und klar vom Sohn der Hauptfigur formuliert wird, das wäre überhaupt nicht nötig gewesen und macht mir den Lesespaß etwas kaputt.
Ich finde es nicht originell, einen Roboter Blechkasten zu nennen.
Richtig klasse finde ich es, wie der alte Mann sich daran erinnert, wie sein Sohn bei der Einschulung war. Es ist gut, eine menschliche Komponente wie diese in einer Story zu haben. Wie seltsam muss es sich irgendwann anfühlen, wenn ich alt bin und mein Kind (das jetzt noch tollpatschig und trotzig ist) plötzlich der/die Vernünftige ist und sich in mein Leben einmischt? Das ist gut beobachtet und diese Art von Nähe zu den Gedanken der Figuren so (leider) in unserer Szene nicht üblich.
Ich mag auch die Schach-Szenen und dass der Sohn den Roboter vor dem Müll gerettet hat.
Kurz bevor der Sohn uns Lesenden die Geschichte quasi erklärt, hat die Story für mich ihren Höhenpunkt.
Vorsicht Spoiler:
Dass in Wahrheit der Ich-Erzähler dem Roboter helfen sollte und nicht (nur) der Roboter dem Ich-Erzähler, war für mich der eigentliche Twist. Den wechselseitigen Sinn fand ich sehr schön und darum schien es mir hier auch zu gehen.
Als Prämisse:
Jedes Wesen möchte bis zum Ende nützlich sein oder geliebt/gebraucht werden. Auch Roboter.
Fan der Exodus
Die Exodus ist für mich DAS Highlight der deutschsprachigen SF-Szene. Klar, ich lese auch sehr gern das Future Fiction Magazine, das Weltenportal, die Queer*Welten und die NOVA, aber die Exodus ist mein Liebling und das hier ist auch noch die beste Ausgabe seit langer Zeit mit extrem guten Storys - da kommt (leider) so schnell niemand ran.
Alle enthaltenden Geschichten
Braun, Maike: Ein vierblättriges Kleeblatt
Dornemann, Volker: Treibgut
Eschbach, Andreas: Das Tor zur Goldenen Stadt
Fildebrandt, Ulf: Das Chinesische Zimmer
Frick, Klaus N.: Im Haus der vielen Fenster
Grohs, Roland: Die Stunde des Wahnsinns
Grüter, Thomas: Brandzeichen
Hermann, Uwe: Die End-of-Life-Schaltung
Hornstein, Christian: Humanicity
Krieg, Lisa Jenny: Die Todbringerin
Meder, Marcel: Die Welt in guten Händen
Mira, Aiki: Hier leben nur die Enkel von Elon Musk
Post, Uwe: Der Flaschenwal
Rodenbücher, Scipio: Ritter, Tod und Teufel
Harte Fakten
Titel | Exodus: Science Fiction Stories & Phantastische Grafik (Ausgabe 47) |
herausgegeben von | René Moreau, Heinz Wipperfürth, Hans Jürgen Kugler |
Verlag | Selbstverlag |
Erscheinungsjahr | 2023 |
Anzahl Geschichten | 14 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1661267347150102531 |
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Angelika Brox (Mittwoch, 24 Mai 2023 10:00)
Sehr gelungene, informative Rezi, deckt sich mit meinen Eindrücken.
Außerdem mochte ich auch die Story von Andreas Eschbach. Mir gefielen das Märchenhafte und das Wiederholungsmotiv der Heldenreisen.
Liebe Grüße!
Frank Lauenroth (Mittwoch, 24 Mai 2023 13:05)
Schöne Rezi. Macht Lust auf das Magazin. Ich bin da SUB-mäßig arg hinten dran. Aber das wird jetzt nachgeholt.