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Kurzgeschichte: Lesen oder nicht lesen?

Ich bin Kurzgeschichten-Enthusiastin! Aber ich habe immer zu viel zu lesen. Nicht selten breche ich einen halbwegs passablen Roman ab, weil ich mir denke: Das ist okay, aber nicht gut genug, ist meine Lesezeit nicht wert, ich finde sicher etwas besseres.

 

 

 

Im Jahr 2021 und auch 2022 habe ich mehr als 300 SF-Kurzgeschichten aus dem deutschsprachigen Raum gelesen, die im laufenden Jahr erschienen waren - zusätzlich zu Klassikern, Übersetzungen und anglo-amerikanischen Short-Storys.  Und natürlich Romanen.

 

Ende 2022 habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich zukünftig deutlich weniger zeitgenössische deutschsprachige SF-Kurzgeschichten lesen werde - und die wenigen dafür sehr gründlich und möglichst mit Rezension. Die schlechten weglassen, die besten dafür umso mehr feiern, so lautet mein Ziel.

 

 

Aber wie erkenne ich so schnell wie möglich, ob eine Kurzgeschichte lesenswert ist?

Der Anfang einer Kurzgeschichte

Das ist leider keine exakte Wissenschaft. Ich muss teilweise darauf vertrauen, dass ich gut genug vernetzt bin und mit vielen anderen SF-Fans rede, die mich ggf. auf jene Storys aufmerksam machen, die ich voreilig abgebrochen habe. 

 

Trotzdem: All die schlechten oder auch nur mittelmäßigen Kurzgeschichten  möchte ich fortan gern meiden und werde daher rasch - vermutlich auf Seite 1, aber spätestens auf Seite 3 - erbarmungslos abbrechen.

 

Liebevolle authentische Details

Am Wochenende las ich eine Kurzgeschichte, die im ersten Drittel der ersten Seite Sätze hatte wie diese:

I noticed how narrow and stiff his fingers were; waxy, like candles. When he spoke, his greasy, bald head nodded, as if he was agreeing with himself. He's got Parkinson's disease, I thought, and I wondered if he knew as well.

(Okamoto's Lens von A. N. Myers in: Best of British SF 2021)

 

Bei diesem Feuerwerk an wirklich guten, glaubwürdigen Details muss schon einiges passieren, dass ich eine Kurzgeschichte noch abbreche - wen es interessiert: Ich habe die Story zu Ende gelesen und es geht um eine Kamera, die in die Zukunft fotografiert, aber eigentlich geht es um die Persönlichkeit des Ich-Erzählers.

Wer es hinkriegt, mit so wenigen Sätzen ein rundes und interessantes Bild einer relativen Nebenfigur (wenn die Person auch wichtig ist, denn ohne sie gäbe es die Story nicht, aber sie hat recht wenig Bühnenzeit) zu kreieren, dann bin ich an Bord. Zack. Bumm. Gekauft.

 

Weniger gut wäre hingegen:

"Er traf sie an einem Mittwoch. Sie war wunderschön. Sie hatte braune Augen. Sein Herz blieb stehen. Er fühlte sich wie berauscht. Ihre Figur war fabelhaft. Sie lächelte ihm zu und sein Herz begann zu rasen."

(erdachtes Beispiel)

Das hätte gleich mehrere Einwände:

  • Langweilige, alle gleich lange Sätze, fast immer beginnend mit Subjekt
  • extrem allgemeine Aussagen statt treffender Beschreibungen 
  • Zwei Phrasen schon in einem Absatz ("Herz blieb stehen" und "Herz begann zu rasen")

Es ist fast sicher, dass ich weg bin nach diesem Absatz, weil ich sofort das Vertrauen in die Fähigkeiten der Person hinter dem Text verliere. Die Person kann es entweder nicht oder ist faul oder beides - und meine Zeit ist mir zu schade.

Preisgekrönt in 2021

Doch bleiben wir gern mal kurz in Deutschland, und auch in dem Zeitraum seit 2020.

"Jetzt, da mein Bruder Kajin tot ist, verbringt er mit mir mehr Zeit als je zuvor."

(Utopie27 von Aiki Mira aus Am Anfang war das Bild, 2021)

Diese Kurzgeschichte hat nicht nur den Kurd-Laßwitz-Preis gewonnen, sondern auch noch den DSFP.  Wenn das kein erster Satz ist, der einen total neugierig macht, dann weiß ich auch nicht.

Zwei Short Story Klassiker

Nicht zwingend der Anfang, aber doch noch auf Seite 1 kommt folgender Absatz:

 

"Ich glaube, es war Kirche. Die oben sind gegangen. Die große Maschine schluckt sie und rollt weg und verschwindet."

(Menschenkind von Richard Matheson)

 

Auch nicht ganz der Anfang, aber ungefähr:

"Heute machden sie einen Test mid mir. Ich glaube den habe ich vermasseld. [...] Ich sagde ihm dass ich einen Tindenfleck sehe. Er sagde Ja und das tad mir gut. Ich dachde das wäre alles aber als ich aufstehen und gehen wollde hield er mich  zurück."

(Blumen für Algernon von Daniel Keyes)

Wer bietet mehr?

Ihr seid herzlich eingeladen, mehr Beispiele zu bringen, welche Anfänge besonders gut (oder auch schlecht) gelungen sind, oder alles andere, das euch zu dem Thema einfällt!

 

Ggf. auch bei twitter!

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Kommentare: 1
  • #1

    Carsten (Montag, 27 Februar 2023 17:10)

    Der Einstieg zu THE COLOUR OUT OF SPACE von Lovecraft. Hier wird sofort auf beinahe poetische Art die Stimmung gesetzt, die zugleich düster und schwärmerisch ist.

    “West of Arkham the hills rise wild, and there are valleys with deep woods that no axe has ever cut. There are dark narrow glens where the trees slope fantastically, and where thin brooklets trickle without ever having caught the glint of sunlight. On the gentler slopes there are farms, ancient and rocky, with squat, moss-coated cottages brooding eternally over old New England secrets in the lee of great ledges; but these are all vacant now, the wide chimneys crumbling and the shingled sides bulging perilously beneath low gambrel roofs.”