· 

Bei Regen in einem Teich schwimmen von George Saunders

Inhalt

Was können zeitgenössische Autor:innen von den alten toten Russen lernen?

 

Vermutlich eine Menge, dachte ich mir, auch wenn die oft so komisch unszenisch schreiben, nur wenn die das tun, kommt das irgenwie besser als wenn jemand das 2023 tut (Ausnahmen bestätigen die Regel).

 

Michael K. Iwoleit hatte mir ungefähr 2022 schon einige russische Erzählungen (und einen dicken Dostojewksi-Roman) empfohlen, einige hatte ich auch mit Genuss gelesen, bei anderen bin ich mittendrin versackt. Alte russische Literatur ist nicht unbedingt meine Komfortzone.

 

Nun hat jemand im SF-Forum (Tobias) mir dieses Buch empfohlen und ich dachte mir: Russische Erzählungen vom Spezialisten erklärt mit Schreibtipps - kaufe ich.

Zumal ich von dem Autor mal Fuchs 8 gelesen hatte und sehr mochte. 

Alle enthaltenden Erzählungen

Es gibt:

  • Auf dem Wagen (Tschechow)
  • Herzchen (Tschechow)
  • Die Stachelbeeren (Tschechow)
  • Die Sänger (Turgenjew)
  • Herr und Knecht (Tolstoi)
  • Aljoscha der Topf (Tolstoi)
  • Die Nase (Gogol)

Von all diesen Herren hatte ich schon einiges gelesen oder gehört, meist 2022, die Nase war aber die einzige dieser Erzählungen, die ich bereits kannte.

Von all diesen Autoren schätzte ich Tolstoi am meisten, wegen der großartigen Erzählungen der Tod des Iwan Iljitsch, die übrigens auch kurz erwähnt wird. 

Inhalt und was man lernen und erleben darf

Ich fand es gut, dass die erste besprochene Erzählung (Auf dem Wagen) Seite für Seite besprochen wurde, so kam ich besser rein.

Ich bin jetzt nicht so irre unbelesen, aber auch für mich ist Literatur von russischen sehr toten Herren, die um 1850 bis 1900 herum geschrieben haben, nicht umstandslos zugänglich. 

Ein bisschen gewinne ich beim Lesen den Eindruck, man hat damals ziemlich viel klare Flüssigkeit zu sich und sich zu viel Zeit genommen, Gesichter, Körper und Hintergründe zu beschreiben. Wenn ich das auch ab und zu sogar genieße. So macht man das heute nicht mehr.

 

Hingegen gibt es viel, das man durchaus heute noch macht oder machen sollte und genau darauf konzentriert sich Saunders.

 

Interessant ist, dass einiges davon in den letzten Jahren, seit ich intensiver rezensiere und schreibe, mir schon selbst aufgefallen ist. Ziel ist offenbar, dass die Menschen dann "die Geschichten schreiben, die nur sie schreiben könnten". "Frech und froh sie selbst werden".

Ungefähr das hatte ich mir auch vorgenommen: Nur Texte zu schreiben (oder gar einzureichen), die außer mir niemand hätte schreiben können. Wozu den Markt mit noch mittelmäßigen oder gar schlechten Geschichten überhäufen? Und wenn es schon Mist ist, dann ist es wenigstens mein ureigener Yvonne-Tunnat-Mist und nichts abgekupfertes oder nachgeahmtes.

 

Ich mag viele Stellen in diesem Buch sehr. Vor allem den Humor. Bei der Besprechung zu die Nase von Gogol (zweifelsohne eine der seltsamsten Erzählungen der Welt) musste ich zwei ganze Seiten lang so lachen, dass ich dachte, gleich kommt die Lachpolizei. Einiges an dieser Erzählung ist nur haarsträubend, wenn es auch nicht unkomisch ist. Zu lesen, was jemand anderes davon hält, hat mich erleichtert und all die Fragen zu lesen, die ich mir selbst verwirrt gestellt habe, war einfach ein tolles Gefühl. Es betont auch den Humor und die Offenheit dieses Autors und Lehrers, und ich wünschte, ich könnte einen Kurs bei ihm buche, aber ich bin zu alt, zu Deutsch und vermutlich auch nicht gut genug, um durch das Sieben am Ende zu den Glücklichen zu gehören. 

 

Als ich mit meiner Tochter Harry Potter las, machte ich sie regelmäßig darauf aufmerksam, wie JKR schon in Buch 1 Bälle in die Luft warf, die sie erst viel später wieder auffing. Daran hatten wir großen Spaß.

Erstaunt war ich, dass Saunders für Erzählungen quasi dieselbe Metapher verwendete:

"In der ersten Phase einer Erzählung ist der Autor wie ein Jongleur, der Keulen in die Luft wirft. Der Rest der Erzählung besteht daraus, sie wieder aufzufangen."

Darauf muss ich viel mehr achten, wenn ich Kurzgeschichten schreibe! Das ist beim Lesen ja so befriedigend.

 

Auch wie man komplexe Figuren schafft, ist endlich mal direkt erklärt. Ich fragte mich, wie genau King das macht und kam nicht drauf. Klar, irgendwas mit Details, aber welche Details? Was genau müssen wir über eine Figur erfahren, damit sie für uns dreidimensional wird? Russische Erzähler hatten es da vielleicht einfacher, weil allwissend und nicht per se szenisch, die konnten einfach ausreichend viel über alle Figuren (nicht nur die Perspektivfigur) erzählen und zack, war es erledigt. Heutzutage müssen wir das unter Umständen ein wenig anders machen, aber mit der Hauptfigur geht es auf jeden Fall und für den Rest müssen wir dann eben kreativ werden. 

 

Und wozu brauchen wir überhaupt Beschreibungen? Laut Saunders erhöht eine spezifische Beschreibung "die Glaubwürdigkeit von etwas komplett Erfundenem". 

An einer anderen Stelle zeigt er auch, dass die Umgebung oft widerspiegelt, was in der Erzählung gerade so los wird. Wird der Weg für die Pferde schwieriger, wird er das auch für die Hauptfigur? Spiegelt das Wetter die Stimmung? Oder steht im Kontrast? Vor allem hat alles einen Sinn, steht für etwas, jede Figur ist wichtig. Jede Szene ist wichtig. Der Rest kann weg. Das wusste ich irgendwie zwar, aber eine Erinnerung schadet nicht, manchmal stehlen sich eben doch Szenen in sogar meine kürzesten Geschichte, die dort keinen Sinn haben.

Genauer:

Jedes strukturelle Element muss "für sich genommen unterhaltsam" sein und "die Handlung auf eine nicht triviale Weise voranbringen".

 

Auch wie man Banalitäten (oder auch Klischees) vermeidet, wird gleich anhand der ersten Erzählungen festgemacht.

 

Auch wichtig fand ich, wie man Seximus und andere Ismen vermeiden kann. Natürlich ist auch das wieder anders, wenn man keinen allwissenden Erzähler hat, aber da muss man eben auch kreativ werden. Es ist ja eben noch nicht sexistisch, wenn eine Figur sich sexistisch äußert - aber wenn dazu alle nur nicken und schweigen und auch die Figur sich nicht wehrt, wird es unangenehm. Laut Saunders ist das "unausgeglichenes Erzählen" und er meint, dass "jede Erzählung, die moralische Schwächen aufweise [...] wenn diese Fehler behoben werden [...] eine bessere Erzählung" würde.

Es ist also im Sinne der Literaturschaffenden (selbst wenn ihnen dieser Ismus total egal ist), das unausgeglichene Erzählen zu vermeiden, da ihre Erzählungen besser werden, wenn sie eben nicht vergessen, all den weiblichen Figuren eine Agenda zu geben. Oder der queeren Figur. Oder der im Rollstuhl. 

 

Schlusswort: Eine Erzählung ist wie eine Black Box. Wer liest, geht in einem Gemütszustand hinein und in einem anderen wieder raus. Das ist "das Ziel des Schriftstellers. Was dort drinnen passiert, soll aufregend und nicht trivial sein". Alles klar! Ich denke, das Buch werde ich nicht zum letzten Mal gelesen haben.

Harte Fakten

Titel Bei Regen in einem Teich schwimmen: Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen 
geschrieben von George Saunders 
Verlag Luchterhand Literaturverlag 
Rezensionsexemplar leider nein, habe Geld ausgegeben :-) 
übersetzt von Frank Heibert 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 545 
Anzahl Geschichten enthält auch sieben russische Erzählungen 
Original Twitter Tweet  https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1627955213171580928
Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0