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Neongrau von Aiki Mira

Inhalt

Neongrau ist für mich das Highlight der deutschsprachigen SF in 2022. Und 2021. Da gab es nichts derartiges.

 

Der Roman spielt in Hamburg, in einer Welt der nicht allzu fernen Zukunft und berührt Themen des Lebens und der Menschen wie Liebe, Identität, Gaming, Terror und Klimawandel - um nur einige zu nennen.

 

Obwohl Gaming eine zentrale Rolle spielt, ist es kein typischer Gaming-Roman a la Ready Player One. Das Gaming an sich wird auch nicht "im On" beschrieben. Es geht mehr um die Welt und die Figuren darin. Die Multiperspektivität ermöglicht uns viele Facetten des Geschehens und der Welt zu erkunden.

 

Ganz besonders hervorheben möchte ich den Weltenbau, der so geschliffen und passgenau in die Handlung eingewoben wurde, derart überzeugend und authentisch wird, man möchte meinen, Autorx Mira käme aus dieser Zukunft und hätte sie  jahrelang erlebt.

Fazit

Als mein All-Time-Highlight der deutschsprachigen SF wird dieser Roman für mich sicher noch ein Weilchen ungeschlagen bleiben: Er sprüht vor Leben und Details. 

 

Die Hauptfigur ist Stuntboi/Go, und wir lernen auch noch andere kennen, zunächst aus der direkten Familie, später erweitert sich der Kreis. Es gelingt Mira hierbei, jedem ein Gesicht zu geben.

 

ELLL, Geburtsname Elba und es ist sehr interessant, auch durch andere Perspektiven einiges über sie, auch über ihre Zeit als Baby und sehr junges Kind und über ihre Mutter zu erfahren. Was für ein Leben!

 

Tayo und Ren sind die Eltern von Stuntboi/Go. Die Mutter hat die Familie eigentlich vor langer Zeit verlassen, taucht nun aber wieder in ihrem Leben auf. Das ist auch eigentlich der Startschuss für den Roman, das, was sich am Anfang ändert und die Erzählung anstößt. 

 

Schön auch Ben Wozniak und Sven Breckwoldt, "weißer Abschaum" aus Blank, die durchaus abscheuliches tun, aber auch Identifikationsmomente bieten (Wozniak jedenfalls).

 

Dazu kommen andere Figuren, von denen nicht wenige sehr interessant sind. Obwohl einige Figuren sehr krasse Dinge anstellen, bis hin zu Bombenanschlägen, verurteilt der Roman nicht, das wird uns Lesenden überlassen. 

  

Sprachlich und stilistisch ist das die Kurzgeschichten-Mira in Bestform auf Romanlänge. 

 

Der Roman fügt dem SF Kanon einiges hinzu. Alleine schon der Weltenbau (siehe dazu Zitate unten) ist auf eine so geschickte Weise vermittelt und bietet bewundernswerte Details. Dazu bremst die Handlung  nie, Informationen zur Umwelt sind geschickt verwoben in das, was gerade geschieht.

Buchaussage

 A Story (vordergründige Story): Stunboi/Go ist auf der Suche nach seiner/ihrer Identität. Alle anderen sind das aber irgendwie auch - oder auch nach ihrem Platz in der Welt.

 

B Story (hintergründige Story): Man ist, wer man ist, nicht, was die Welt gern hätte, was man ist. Und es ist viel gemütlicher, man selbst zu sein und so akzeptiert zu sein, wie man ist, als sich verstellen zu müssen aus welchen Gründen auch immer.

 

Prämisse: Jede Person hat in seinem Universum und hat in der eigenen Glaubenswelt recht und tut das Richtige

Autorx Aiki Mira

Aiki Miras Webseite findet ihr hier. Außerdem hatte ich them schon dreimal im Podcast Literatunnat, zuletzt zu Neongrau.

Kleine Auswahl an tollen Textstellen

Meiner persönlichen Ansicht nach sind treffende Details wichtig. Ab einem gewissen Detailgrad geht mein Kopfkino los und ich vergesse quasi, dass ich gerade lese und fange an, das Geschehen wirklich zu erleben, bestenfalls mit mehr als nur einem Sinn. Je mehr Details ich zu einer Figur bekomme und je besser diese passen, desto besser kann ich mir die vorstellen und werde emotional involviert.

 

Für mich ist Prosa von Aiki Mira zur Zeit die Königsdisziplin der Details der deutschsprachigen SF.

 

Trotz der Freude schmerzt Gos Körper und jeder einzelne Knochen brummt. Sie fühlt sich wie ein Instrument, das jemand zu lange zu zu hart bespielt hat.

Genial. Und tolle Personifizierung, die hier kaum auffällt.

 

Richtig schön Slice-of-Life in einer zukünftigen Welt, die mir plastisch vermittelt wird, fand ich:

 

[Tayo] kritzelt für seine Tochter eine Botschaft auf die Holo-Oberfläche des Kühlschranks, nimmt einen Proteinriegel aus dem Vorratsschrank und kontrolliert beim Hinausgehen, ob die Pilzkaffe-Tasse ausgespült und umgedreht neben der Spüle steht.

Das ist vor allem deswegen so genial, weil wir diesen Ablauf ungefähr kennen, nur trinken wir eben keinen Pilzkaffee (oder?) und schreiben auf Zettel oder Tafeln oder bestenfalls herumliegenden Tabletts (nein, wir zu Hause bei uns nicht!). 

 

Die Geschwister halten sich gegenseitig mit den Augen fest.

 

Wusstest du, dass es fast unmöglich ist, gleichzeitig zu singen und zu weinen? Unsere Halsmuskeln können nämlich nicht gleichzeitig Noten formen und offen bleiben. Das Gegenteil von Weinen ist also nicht Lachen, sondern Singen.

Wenn ich das nächste Mal weine, muss ich das unbedingt ausprobieren!

Weltenbau

Man klaubt es sich so zusammen aus Nebensätzen, Dialogstücken und dem Zusammenhang - so sind beispielsweise Schweröl und Dieselöl außerhalb von Deutschlang längst verboten.

 

ELLL hat beispielsweise Schwarzlicht-Tattoos und am Hals VR-Sensoren. "Die Sensoren sehen aus wie unter die Haut gepflanztes Licht.". Danke für die Anschaulichkeit!

 

Schön auch die "In-Augen", mit denen man andere Dinge sieht oder scannen kann.

 

Der Job von Go/Stuntbois Vater, Tayo, erinnert mich ein wenig an meine Zeit im Call Center, nur viel schlimmer: er ist gezwungen, über mehrere Stunden hinweg gewalttätigtes, pornografisches und verschwörungstheoretisches Material zu betrachten.

 

Noch vor dem Pilzkaffee kippt er sich eine Packung Darmpulver in den Hals, schluctk dazu ein riesiges Paar Alphagehirnpillen, die mit Nootropika gefüllt sind, um Gedächtnis und Konzentration zu verbessern, und träumt insgeheim von der signierten Hantel.

Ja. So kann ich mir Tayjo sofort vorstellen. Außerdem wird seine Zahnpasta sehr aunschaulich eklig beschrieben.

 

So ist zum Beispiel Hamburg größtenteils überflutet und manchmal fällt beiläufig ein Begriff wie "flutsichere Haustür".

 

Auch schön, so kriegen wir absolut mit, wie zeitkritisch es war, das Haus verlassen zu müssen:

Tayo stürzt zur Tür, stolpert hinaus auf die Straße, rennt zur nächsten Hochstation, merkt es erst in der Bahn: An seinen Füßen kleben noch die Filzpantoffeln. Vollgesogen mit Regen geben sie bei jedem Schritt ein lautes Schmatzen von sich.

Ich ticke maschin!

Casual Queerness erhält eine weitere Dimension:

ELLL mag Jungs und ELLL mag Mädchen. Lange dachte sie, alle tickten so wie sie. Mittlerweile weiß sie, manche lieben ausschließlich - ausschließlich Frauen, ausschließlich Männer, ausschließlich Maschinen.

Die absolut ekelhafteste Stelle

Richtig eklig ist die Stelle, in der die Ratten beschrieben werden, die sich natürlich auch verändert haben und im Wasser schwimmen "wie Fische".

Großartig und gelungen, eindrucksvoll beschrieben - ich wollte aber mal aufhören, hier das halbe Buch zu zitieren.

Harte Fakten

Titel Neongrau: Game over im Neonsubstrat 
geschrieben von Aiki Mira 
Verlag Polarise 
Rezensionsexemplar ja 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 522 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1623594262112641024 
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