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JOL ROSENBERG – DAS GEFLECHT (AN DER GRENZE)
Gastrezension von Peter Poppe
… oder der Versuch einer Annäherung an ein Phänomen
Jol Rosenberg ist den meisten Lesern durch ens Kurzgeschichten im phantastischen Bereich, enger gefasst auch der Science Fiction, bekannt. Der Roman »Das Geflecht (an der Grenze)« stellt den ersten Teil ens Debüt in der Romanform dar. Aus Rosenbergs eigener Bildsprache, die man getrost als nonlinear bezeichnen kann, entwickelt sich aus nicht allzu oft gelesenen Tropes eine Odyssee, die der Autor dieser Rezension in den erweiterten Bereich des höherklassigen Solar-, vielleicht sogar Ökopunks einordnet.
Der Roman spielt auf einer Welt namens Rusal, die durch eine Art natürliches Energiefeld erhalten wird, das alles Lebewesen durchzieht. Die vermeintlichen Ureinwohner – die humanoiden, aber relativ großen Surai sowie die ganzkörperbehaarten Kalok – reagieren auf dieses Energiefeld und wissen diese Art von zusätzlichem Sinn zu nutzen. Auf der anderen Seite existiert eine invasive Lebensform, die aus unserem Sonnensystem stammt. Für sie ist der Planet wichtig, da die Menschen die Energie dieses Planeten ausbeuten wollen. Aufgrund der besonderen Herausforderungen für einige menschliche Bewohner ist die bergbaubetreibende Firma Cybernetics dazu übergegangen, bestimmte, höherwertige Mitarbeiter per Implantate zu faktischen Cyborgs zu machen.
Hier wird eine Analogie zu den Eingriffen des Menschen in bestehende Ökosysteme deutlich: in Australien vermutete die Regierung eine Krötenplage, die sie mit Hilfe der Einfuhr von Katzen Herr zu werden suchte. Daraufhin gab es zwar kontinental gesehen keine Kröten mehr (man musste sie aus Tasmanien wieder züchten und großflächig auswildern), dafür aber eine Katzenplage, der man mit Abschussprämien langsam Herr wird: Katzen haben dort keine Schonzeit.
Dasselbe ist mit der Einbringung der in Europa nicht heimischen Amerikanischen Grauhörnchen zu beobachten: diese haben in weiten Teilen Europas die schon seit Jahrtausenden angestammten Eichhörnchen weitestgehend verdrängt: Die beiden Hörnchen gehören nicht zu derselben Gattung. Grauhörnchen sind größer, vermehren sich schneller und sind auf die gleiche Nahrung angewiesen, wobei Grauhörnchen aufgrund ihrer schieren Körpermasse einfach mehr benötigen, während diese nur eine Winterruhe benötigen.
Im ersten Drittel des Romans wird deutlich, dass beide Bevölkerungsgruppen nicht ursprünglich auf dem Planeten heimisch waren, aber wohl zur selben Zeit auf dem Planeten erschienen, der in seltener Übereinkunft durch beide Gruppen »Rusal« genannt wird. Dieses setzt eine weiter entwickelte Technik vor allem der Surai voraus, als man den in kleinen, fast bronzezeitlich anmutenden Dorfgemeinschaften lebenden Spezies auf den ersten Blick zugestehen möchte; dieses wird sehr eindrücklich durch einen Konflikt der Surai mit den Kalok erklärt, den Letztgenannte gewonnen haben. Aufgrund dessen waren die Surai gezwungen (worden), Ihre hochtechnisierten Städte zu verlassen und per Vertrag eine rurale bzw. prärurale Lebensweise auszuüben, als Landwirte bzw. Jäger und Sammler; Zweck dieser Übung war, beide Gruppen davor zu bewahren, den Planeten weiter auszubeuten.
Dabei setzten sich in der Vergangenheit beider Spezies die Kalok als Wächter über die Surai durch, eine Verhandlungsklausel, die nicht bei allen Surai auf Gegenliebe stößt, aber allgemein akzeptiert wird, da die Kalok mental wesentlich stärker sind und den Bandsinn – die beiden Teile die weiter oben schon angesprochene Sensibilität gegenüber allem Lebenden verleiht – deutlich weiter modulieren können als die Surai, die ursprünglich wohl nur einen unterentwickelten Sinn für die Natur besaßen. Schließlich verfügen die Kalok über rudimentäre Technik, vor allem zur Fortbewegung, welche die Surai nicht besitzen: sie sind zur Fortbewegung zu Fuß verdammt, was den Bewegungsradius auf natürliche Weise extrem einschränkt und die Dorfgemeinschaften in einer relativen Autonomie belässt.
Hier könnte man den Lebensstil der Surai ein wenig mit dem in dem Buch »Walden: a life in the woods« des anarchistischen Philosophen Henry David Thoreau vergleichen, nur auf eine multiple Gesellschaft fortgeschrieben – während Thoreau einen guten Teil eines Lebens als Eremit verbracht hat.
In diesen Dorfgemeinschaften existieren Überlieferungen einer anderen Vergangenheit der Surai als entwickeltes Volk.
Hierbei sollte erwähnt werden, dass die Gemeinschaft der Surai sehr stark an die Anasazi-Kultur im südlichen Nordamerika angelehnt ist; diese Kultur verfügte über Städte mit sehr moderner Infrastruktur; diese Kultur wurde durch fortschreitende ökologische Veränderungen zerstört und die Bevölkerung wurde in die moderne indigene Bevölkerung aufgeteilt (besonders die Ute). Auch andere sogenannte Naturvölker wie zum Beispiel die Indianer im heutigen Brasilien oder auch verschiedene pygmäische Bevölkerungsgruppen im afrikanischen Regenwald oder sogar die Induskultur mögen hier Pate gestanden haben: auch könnte man die Verbindung zur babylonischen Kultur und deren endgültiges Verschwinden durch die Parther herstellen.
Danyla, eine Jägerin der Surai, verletzt in der Ausübung ihrer Berufung einen der invasiven Menschen, der nach eigenen Angaben über dem Gebiet ihres Dorfes Vataren abgestürzt ist. Sie erhält vom Ältestenrat ihres Dorfes den Auftrag, ihn zu heilen und ihn wieder in die Gesellschaft der Menschen zurückzubringen; dieses entspricht der Tradition der Surai.
Dieser Mensch stellt sich als ‚Sugk‘ vor, was ein falscher Name ist: eigentlich handelt es sich um den Ingenieur Pako DeMorwa, einem der schon angesprochenen Cyborgs, der als letzte Gelegenheit, eine Arbeit zu bekommen und sich dadurch selbst zu ernähren, in die Fänge eines Konsortiums (Cybernetics) begeben hat, das äußerst rigide mit dem eigentlichen Schatz des Planeten – Geoelektrizität – umgeht und den Planeten in großen Bergwerksiedlungen auf diesen Rohstoff ausbeutet. Hier sei der Spoiler gesetzt, dass es sich bei dieser Geoelektrizität um genau die Eigenschaft handelt, derer sich sowohl Kalok als auch Surai mit dem Bandsinn bedienen: für Menschen kaum spürbar und auch nicht lebensnotwendig, stellt sich dieser Sinn für die Kommunikation mit der die beiden Spezies umgebenden Natur als entscheidend dar.
Erschwert wird diese Reise durch die Stummheit Sugks, die dadurch begründet ist, dass sein Kommunikationsgerät durch den Absturz soweit beschädigt ist, dass er mit Danyla sowie den Vatarenern nicht kommunizieren kann. Erst im nächsten, größeren Dorf – Rondbaren – versteht man sich auf die Reparatur des Kommunikators, nimmt ihm aber wegen des Verdachts auf Waffen alle technischen Geräte ab, mit denen sich Sugk/Pako in dem Dschungel orientieren könnte. Er ist auf die Mithilfe, ja Unterstützung Danylas angewiesen, die sich in gegenseitigem Unverständnis der jeweiligen Kultur annähern. Rosenberg stellt gerade in der Mitte des Buches die Unterschiede zwischen menschlicher und Surai-Kultur dar, ohne irgendeine Wertung vorzunehmen. Schließlich verhandelt man eine Gemeinschaft auf Zeit und erlernt die Sprache des jeweils Anderen.
In der Zwischenzeit kommt es in Barend – einer menschlichen Bergbausiedlung – zu einem Zwischenfall, bei der eine terranische Vorarbeiterin als Sündenbock für einen gescheiterten Anschlag auf den Minenbetrieb herhalten muss, sie wird durch die Abteilungsleiterin Doren Rednis als Hilfsarbeiterin in den Minen versetzt. Die vorgeschobene Begründung ist ihr Liebesverhältnis zu einem Kalok, aber eigentlich will man schon im Vorfeld eine Mitwisserin aus dem Weg räumen: auch sie ist ein durch Implantate verbesserter, augmentierter Mensch, ebenso wie Sugk/Pako, der allerdings ebenso wie Kiral über den Funktionsumfang seiner Implantate im Ungewissen gelassen wird. Hierbei wird Barend endgültig zerstört, was als Katalysator für die Handlung dient.
Hierzu kommt, dass sich die Kalok – auch als Schutzmacht über die Surai – von den menschlichen Besatzern ihres Planeten absetzen wollen und die Rückgabe des besetzten Teiles fordern. Sie erkennen, dass der Vertrag über die Nutzung inhaltlich in Vergessenheit geraten ist oder durch die Führung der Menschen bewusst ignoriert wird. Diese Führung ist nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht an die Geschäftsleitung von Cybernetics, Herrn Darwon und seines Faktotums Sonia Ragdan übergegangen, die ihrerseits höherentwickelte Cyborgs sind, wobei Darwon eine leicht andere Programmierung zu haben scheint wie Ragdan.
Kiral schließt sich dem Gewerkschaftsführer und Aktivisten Tallen an, der zusammen mit den Kalok für die Rechte der beschäftigungslosen Menschen in Barend und auch Eldewan, dem mitten in der Toten Zone gelegenen Hauptort und mithin auch Firmenzentrale kämpft. Er will erreichen, dass die Angestellten Cybernetics entweder in Frieden auf Rusal – das die Terraner Beta 3 nennen – weiter existieren können oder gemeinsam den Planeten verlassen können.
Durch einen Unfall verliert Sugk/Pako das Bewusstsein und er wird durch Danylas Hilferuf, den sie via Bandsinn in die Welt schickt, durch die Kalok geheilt. Hier erfährt man, dass die Kalok in der Lage sind, diesen ‚Umgebungsnerv‘ bei nicht von Geburt aus dafür empfänglichen Lebewesen zu aktivieren (möglich ist auch, dass die Kalok den Surai dieses Sinnesorgan eingepflanzt bzw. aktiviert haben, als sie über Letztere obsiegten). Hierdurch erreicht Sugk/Pako eine höhere Verständnisebene, die ihm bislang durch die Implantate verwehrt geblieben ist.
Die Kalok sind allerdings uneins über die richtige Vorgehensweise gegenüber den Terranern. Die meisten sind für Verhandlungen, aber es existiert eine nicht sehr geachtete, dafür zahlenmäßig große Gruppe, welche die Terraner am liebsten gar nicht erst auf den Planeten gelassen hätte. Nun unterlässt Rosenberg dankenswerterweise den Fehler eine Meinung über das Vorgehen moralisch über eine andere Meinung zu stellen: im Gegenteil zieht man aus den Dialogen ein gewisses Verständnis gegenüber allen Meinungen.Trotzdem bleiben die Ganan eine Gefahr für friedliche Verhandlungen nebst ihrer Rolle als nicht zu unterschätzender Machtfaktor.
Von diesen Ganan wird Danyla und Pako – der seine Tarnung als Sugk nicht mehr aufrechterhalten kann – ein Begleiter zur Seite gestellt, der den beiden keine Hilfe ist und sich erratisch verhält – niemand weiß, welchen Auftrag Melan hat; ein Mangel an Information, der sich noch rächen soll, als er nicht mehr aufzuspüren ist.
Im weiteren Verlauf wird angedeutet, das Darwon – übrigens ein gelungenes Wortspiel zu Darwin (und durchaus auch in Bezug auf die soziale Komponente seiner Lehre zu lesen; der Autor) – mit Melan wohl ein weiterer Baustein für die Entwicklung einer auf einem ausgelaugten Planeten überlebensfähigen Spezies in die Hände gefallen ist.
Pako erleidet durch die Neuimplementierung des Bandsinnes mehrere neurologische Fehlfunktionen, die im Zusammenbruch des kybernetisch augmentierten Körpers münden. Er wacht auf der Krankenstation Eldewans auf und bekommt zunächst Besuch von seiner ehemaligen Chefin Doren Rednis, die ihm zu verstehen gibt, auf seiner Seite zu sein. Rednis erkannte schon bald, dass Ragdan ein doppeltes Spiel führt und lässt Pako wissen, dass er sich lieber auf die Seite von Ragdan als auf die Darwons stellen sollte.
Ragdan wirbt Pako für ihre Zwecke ab, unter dem Versprechen, ihn – der genau wie sie ein Cyborg ist – zur Flucht von Rusal zu unterstützen. Dabei ist Pako aufgrund seines Bandsinnes, der ihn zu selbständigem Denken befähigt, längst zu einem Rebellen gereift. In totaler Missachtung des Befehls seiner Chefin Ragdan steigt er nicht in den Raumgleiter, sondern will den Akkumulator, der jegliche Energie aus dem Planeten zu ziehen und ihn damit unbewohnbar zu machen imstande ist unschädlich machen.
Darwon fliegt seinem potenziell abtrünnigen Faktotum nach, wird aber wieder zurückgerufen, nachdem man ihm klar macht, dass er in sein Verderben fliegt (die Kalok haben eine effektive Luftabwehr installiert). Er wird durch Raswin, dem Informationssammler der Kalok, durch Anwendung physischer Gewalt dazu gezwungen, den Akkumulator auszuschalten. Geschlagen verbringt er die Zeit im Gefängnis.
Danyla muss wieder zurück zu ihrer Dorfgemeinschaft, die sie ohne Pako sehr viel schneller erreicht. Pako erkennt seine neue Aufgabe im postrevolutionären Eldewan, er spricht sowohl Suraimi wie auch Kaloki und ist deshalb als Vermittler zwischen den Welten von unschätzbarem Wert.
Rosenberg greift zu einem ungewöhnlichen, aber hoch interessanten Stilmittel: en nimmt in diesem Roman in jedem Kapitel eine andere Perspektive ein, was den Text so ungewöhnlich zu lesen und beileibe nicht trivial im Verständnis macht. Diese Nonlinearität setzt en außer in den letzten zehn Prozent dieses Romanerstlings – der den ersten Teil einer Dilogie darstellt – gekonnt ein. Man erlebt durch die permanenten und stringenten Perspektivwechsel mit, wie die einzelnen Motivationen aufgebaut sind und lässt den Leser an den permanenten Veränderungen lebhaft teilhaben. Dabei wird der geneigte Leser Zeuge der Korruption dieser Motivationslagen, die perfide und gekonnt umschrieben sind, so dass der Leser einen eklatanten Mangel an Logiklücken zu beklagen hat.
Gerade im Mittelteil wird das Verhältnis zwischen Sugk/Pako und Danyla aufs Atom genau beschrieben. Diese Gabe, Handlungen und Motive der Protagonisten bis ins kleinste Detail auszuleuchten und dabei immer interessant zu bleiben, schaffen nur Autorx, die sich akribisch auf ihren Text vorbereiten. Hierbei ist der Anteil des Infodumps dem Sujet entsprechend angenehm hoch, trotzdem werden in der Trennschärfe der Beobachtungen Rosenbergs die Handlungsstränge niemals langweilig. Vor allem die Tiefe des Rechercheaufkommens für diesen inhaltlich erstklassigen Roman beeindruckt sofort. Logiklücken besitzt dieser Text nicht, und ja er ist angenehm phrasenarm.
Der Autor dieser Zeilen wartet gespannt auf den zweiten Teil der Dilogie, da noch viele Fragen ungeklärt sind: der größte Cliffhanger – ich habe davon mehrere gezählt, die ab 50 % des Romanes geschickt gestreut vorkommen – betrifft den Plan Darwons: hat er die Fäden noch in der Hand, oder gerät ihm seine Hybris zum Nachteil.
Rosenberg hat sich schon mit ens Romanerstling in die erste Riege der großen Erzähler katapultiert und steht damit in einer Reihe mit den deutschen Größen wie Gabriele Behrendt oder Galax Acheronian – sollten die Drei auch jeweils ein anderes Gebiet in der großen weiten Landschaft der Science Fiction bedienen.
Der Roman gehört ganz eindeutig in die Kategorie des Cyber-/Eco-/Solarpunk in naturwissenschaftlich-utopischer Ausrichtung, das alles in der Handlung einer nur auf den ersten Blick dystopischen Erzählung im Bereich der social fiction (vor einem Umweltplot!), wie sie sonst nur bei Ursula K. LeGuin zu lesen ist. Er ist im besten Sinne eigensinnig, eigenwillig und eigenständig. Einer der besten Romane, die ich bis dato gelesen habe.
Man darf nach diesem Highlight der kontemporären SF auch auf die nächsten Romanprojekte aus dem Hause Rosenberg gespannt sein.
Saarbrücken, 27.01.2023
Peter Poppe
Über Autorx
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Harte Fakten
Titel | Das Geflecht (An der Grenze) |
geschrieben von | Jol Rosenberg |
Verlag | OhneOhren |
Rezensionsexemplar | Gastrezension |
Erscheinungsjahr | 2022 |
Seitenzahl | 605 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1620764390571270150 |
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