Inhalt
"Jemand eilt an Anna vorbei, eine Sanitäterin. Ihr brauner Stiefel tritt auf den Käfer, zermalmt ihn. Bestimmt geht sie Leben retten."
Dieses kleine Zitat ist die Prämisse des Romans in einer Nußschale. Tiere, Menschen und die (innerhalb der Welt des Romans) unklare Grenze dazwischen. Unsere Sicht auf Menschen und auf Tiere. Welches Leben werten wir mehr und warum?
Ich muss beim Lesen immer an ein Zitat aus der Insel des Dr. Moreau denken, "Sind wir nicht Menschen?". Selbstverständlich hatte das eine andere Prämisse, gemein haben die beiden Romane aber die verschwimmenden Grenzen, wenn es auch bei Moreau anders entstand und irgendwie dem Horror näher war.
In diesem Roman starten die Wesen als Menschen und werden mit Tier-DNA "hybridisiert", und zwar normalerweise aus gutem Grund, den sowohl der Weltenbau als auch das persönliche Schicksal von Anna hergeben:
Das Kind, das in Anna wächst, hat nur mit Tier-DNA eine Chance auf Überleben, da es Genschädigungen aufweist. Es ist beileibe auch nicht das erste Kind, dem so geholfen werden kann. In Annas Welt gibt es viele (auch erwachsene) Menschen, die Hybride sind, einige deutlich sichtbar, andere viel subtiler. So verschwimmen hier die Grenzen zwischen Tier und Mensch, haben kleine Mädchen ggf. einen Schnabel, oder Federn statt Haare, Flossen statt Armen oder einen Schwanz.
Was zumindest auf mich abschreckend gewirkt hätte, wird aber so einfühlsam und aus überzeugender Perspektive erzählt, dass ich mir permanent vorstellen kann, wie so eine Welt aussieht und auch Annas Haltung dazu nachvollziehen kann.
Annas Schicksal ist daran geknüpft, nicht nur, dass sie selbst auch in der Lage ist, unter Wasser zu atmen (zumindest theoretisch, praktisch verlangt das von ihr starke Überwindung), ihr jüngerer Bruder wurde hybridisiert und das ist schiefgegangen, da ihre Eltern auf eine teure, zertifizierte Behandlung verzichtet hatten, um Annas Ausbildungsfond nicht anzugreifen.
Der "kranker-Bruder"-Sideplot bringt mir Anna besonders nahe, wenn auch aus sehr persönlichen Gründen.
Teilweise ist es etwas langsam erzählt und ich hätte auf einige Erklärungen verzichten können, da diese sich für mich aus dem Rest natürlich ergeben hätten. Dadurch wirkt die Erzählweise etwas länger als es für mich nötig gewesen wäre.
Ich bin sehr nah an der Hauptfigur Anna in Teil 1 dran, genau wie ich es sein möchte, weil ich mich vor allem mit ihr als Wissenschaftlerin, mit ihrem großen Interesse für die wilde Schildkröte und mit ihrer Sorge für ihr ungeborenes Kind identifizieren kann.
Nun endet aber Annas Geschichte, nachdem es ihr gelungen ist, die DNA des ungeborenen Kindes durch Hybridisierung zu reparieren und es folgt Teil 2, in dem Anna nur noch eine Nebenfigur ist.
Teil 2 könnte als längere Novelle komplett alleine stehen, auch wenn das für Leute mit schlappem Phantastikmuskel wie mich vermutlich inhaltlich eine krasse Hürde gewesen wäre. Durch die sanfte Vorbereitung in Teil 1 bin ich bereit, mich darauf einzulassen. Für Leute wie mich ging es daher wohl nur so. Außerdem hat Teil 2 den absolut perfekten Schluss!
Trotzdem bleibt ein dicker Wermutstropfen für mich: Nicht überraschend und im Rahmen der Handlung auch sinnvoll ist nun Annas Kind Nisha die Hauptfigur, nicht mehr Anna. Deren Konflikte und Probleme liegen mir viel ferner und ich kann mich nicht halb so gut mit ihr identifizieren wie Anna. Zudem gibt es eine längere Passage, in der die Handlung nur durch Briefe zwischen Mutter und Tochter vorangetrieben wird, was mir nicht hundertprozentig gelungen erschien oder ich jedenfalls nicht so gern gelesen habe.
Der Schluss hingegen hatte etwas postapokalyptisches und hat mich komplett abgeholt. Leider wechselt natürlich erneut die Perspektive in Teil 3. Für mich heißt das konkret, dass ich mich nicht einmal mit neuen Figuren anfreunden muss, sondern ich muss diese Arbeit dreimal erledigen und vermisse dabei stets meine bereits bekannten Identifikationsfiguren. Das ist natürlich ein internes Yvonne-Problem, das ich manchmal auch bei Romanen "aus einem Guss" habe, wenn es zu viele Perspektivwechsel gibt.
Die Geschichte rechtfertigt diese Teilung in drei absolut, nur für mich als Leserin, die an emotionalen Bindungen zu den Figuren interessiert ist, war das schade.
Dafür ist Teil 3 dann inhaltlich gleich wieder viel passender für mich, weil hier erneut Wissenschaftler:innen am Werk sind. Hier ist die Hauptfigur dann Annas Enkelin, Lokapi. Später kam Lokapi mir durch ihre Suche nach ihrer Mutter (oder generell nach ihren Wurzeln / einem Platz in der Welt) sehr nahe. Dieses Thema zieht sich in verschiedenen Farben auch durch die drei Teile. Anna weiß, woher sie kommt, hat aber ihre komplette Familie verloren. Nisha lebt bei ihren Eltern, fühlt sich aber dort gar nicht zu Hause, entscheidet sich später aber (recht überraschend) anders, was aber nur indirekt und nicht mehr aus ihrer Perspektive erzählt wird. Lokapi hingegen weiß fast nichts darüber, woher sie kommt und muss danach suchen.
Romanfiguren
Die Figuren werden hier durch ihr starkes Bemühen ausgezeichnet. Zunächst Anna, die ihr ungeborenes Kind retten und ihm ein Leben bieten möchte.
Nisha, die Lebensraum für sich und ihre Freund:innen sucht.
Dann Lokapi, die unter anderem auf der Suche nach ihrer Mutter ist.
Anna war da für mich am sorgfältigsten ausgearbeitet oder kam mir einfach aus persönlichen Gründen am nächsten. Bei den anderen beiden hat es mit der Identifikation ein wenig länger gedauert, war aber stets interessant genug, um weiter folgen zu wollen.
Einige Nebenfiguren waren ebenfalls sehr plastisch und wurden durch Details oder ihre Handlungen charakterisiert, stets szenisch, nicht so sehr beschreibend. Manchmal kam das auch durch die Sorge (v. a. von Anna) rüber.
Buchaussage
Vordergründiges Thema: Einen Platz für sich und ggf. sein Kind finden, wenn die Welt sich ändert, Lebensbedingungen schwieriger werden. Plus, einen Platz finden, der zu meinem Körper passt (kann ich in der Tiefsee atmen/ komme ich mit dem Druck klar, kann ich wieder ins Trockene und wenn ja, wie?).
Hintergründiges Thema: Neben all den praktischen Implikationen steht noch die Frage: Was macht Menschlichkeit aus? Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Können wir Tiere lieben? Können Tiere uns lieben? Wenn die Grenzen verschwimmen, welche Möglichkeiten bietet das?
Bedeutung von Familie (Muttersuche, auch (in Teil 1) Bruderliebe), ggf. gehören Tiere aber zur weitläufigen Familie oder sind gar die Mutter (in einer Nebengeschichte).
Ggf. auch: Welches Leben ist etwas wert? Es gibt eine Schlüsselszene in Teil 1, die meines Erachtens in Frage stellt, ob das Leben eines Menschen tatsächlich mehr wert ist als das eines Käfers oder zumindest andeutet, dass man auf dem Weg zum Menschenretten trotzdem auch auf Käfer achtgeben könnte ...
Außerdem verfremdet die Hybridfeindlich einiges, was wir auf der Welt an Feindlichkeit gegenüber dem vermeintlich Anderem haben, sei es Queerfeindlichkeit oder Rassismus.
Wie bin ich zu dem Buch gekommen?
Klar lese ich das Buch! Mindestens eine der Kurzgeschichten hatten mir sehr gut gefallen und außerdem ist es deutschsprachige SF und es versprach, ein wenig origineller zu werden.
Rezeption
Mal schauen was noch so kommt!
Über die Autor:in
Bisher kannte ich Kurzgeschichten, und bei twitter ist sie auch. Webseite hier.
Diversität
Da ist einiges los, ich laufe nur Gefahr, die Hälfte zu vergessen, wenn ich es hier aufzähle. Zwar scheint (nicht zwingend) eine der drei Hauptpersonen explizit queer zu sein, aber einige der anderen Figuren (oder Elternteile von ihnen), und auch sonst ist einiges los an Diversität, wenn auch eher auf Entstellungen und Krankheiten oder Neurodiversität bezogen. Alles eher casual.
Harte Fakten
Titel | Drei Phasen der Entwurzelung |
geschrieben von | Lisa Jenny Krieg |
Verlag | Wortschatten Verlag |
Rezensionsexemplar | ja, danke dafür |
Seitenzahl | 440 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1602674714719174661 |
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