Jaana Redflower: Ersatzkind
Jaana Redflowers Ersatzkind ist eine der besten Kurzgeschichten des Jahres 2022, die bisher erschienen ist (und ich kenne 300 davon) und ich kann es gar nicht laut genug rufen, weil ich fürchte, dass die Geschichte sonst hier gar nicht beachtet wird.
Erschienen in einer Anthologie, die vielleicht in der SF-Szene nicht so viel Aufmerksamkeit erregt hat, daher mache ich lieber sehr zeitnah auf sie aufmerksam.
Die Webseite der Autorin ist hier, sie schreibt nicht nur SF, aber durchaus auch und hat auch bereits Romane veröffentlicht. Man kommt dann übrigens in Versuchung, ein wenig in die Musik hineinzuhören, ich jedenfalls ...
Was ist das Thema der Kurzgeschichte?
Es beginnt damit, dass Alex (Protagonistin) ihr Leben aufschreibt, möglichst ohne große Abweichungen. Zunächst erfahren wir nicht, warum sie dies tut. Das erzeugt Spannung, weil klar ist, dass sie dies aus einem konkreten Grund und auch mit einer Deadline (morgen Mittag!) im Nacken erledigt. So erfahren wir nebenher natürlich einiges aus Alex' Leben und auch, wie sie dazu steht.
Wir beginnen langsam zu ahnen, was da losgeht, nach und nach erhalten wir mehr Informationen.
Die Figur Alex kommt mir recht schnell nah, weil sie ihre Biographie ein wenig aufhübscht und mir dadurch sympathisch wird. Später sind einige ihrer Gedanken sehr düster, aber auch das erzeugt Nähe, keine Distanz.
Ihre Mutter Alisa ruft an, offenbar ist etwas sehr einschneidendes vor siebzehn Monaten und elf Tagen geschehen - aber was? Ihre Mutter will zudem nicht, dass Alex ihren Plan (den wir noch nicht kennen) durchzieht. Dann endlich erfahren wir, was geschehen ist: Alex hat ihre Schwester, die Mutter ihre Tochter verloren. Brianne. Und auch den Vater.
Durch viele Details und Dinge, die schiefgehen könnten (ungewollte Handlungsstränge) sind wir schnell im Sog des Textes, ich will wissen wie es weitergeht und ausgeht.
Die Mutter insistiert, kommt vorbei, diskutiert mit Alex, ich erfahre mehr über Alex' konkrete Pläne. Die Idee, wieder mit verstorbenen zusammen zu sein, virtuell die Vergangenheit erneut zu durchleben, gefällt mir. ("Ein ganzes Leben in wenigen Wochen" lautet der Werbslogan) Aber natürlich geht es nicht darum, wie ein Twist am Ende zeigen wird. Dieser ist überraschend, wurde aber hervorragend vorbereitet, die beste Art der Pointe.
Weltenbau
Wir in die Geschichte eingeflochten und das recht geschickt, in die Handlung der Story. Kein Infodump oder Erklärbär. Vieles ist nur für die Atmosphäre wichtig und ich habe Ideen wie den "Trimm-Dich-Bot" sehr genossen.
Als Alex später draußen unterwegs ist, trifft sie Holos und hat Schwierigkeiten, diese von echten Dingen zu unterscheiden (Stichwort Zebras). Interessant die Bemerkung:
" ... - hatten einzelne Menschen ihre verstorbenen Angehörigen bereits als Hologramme nachbilden lassen und lebten nun mit diesen zusammen" (eine schöne Inspiration für eigene Storys, wenn das Thema auch nicht neu ist).
Die Nebenfigur in der Psychiatrie, die Vier gewinnt spielt hat mich übrigens an LOST (Fernsehserie) erinnert.
Stil, Sprache, Struktur
Personale Sicht von Alex, einer Frau (sie/ihr), geschrieben im Präteritum. Abwechslungsreich (Variation der Länge der Sätze, Satzanfänge, Satzkonstruktion), hier hat sich offenbar jemand Gedanken zur flüssigen Lesbarkeit gemacht.
Ich mag es sehr, wenn nicht einfach geschrieben wird: "Sie lebte alleine und war einsam", sondern stattdessen etwas wie: "Eine Zahnbürste im Becher - nur eine - ...". Genauso möchte ich das lesen, ich raffe den Rest dann schon von selbst.
Auch die Darstellung des Klimas ist gelungen, siehe hier: "... im Sommer schmplo die Schokolade in den vorderen Regalen".
Schön auch: "Fehlte nur noch, dass sie mit dem Gesicht auf einer der Tasten gelegen und immerzu EEEEEEEEEEEEE geschrieben hatte." Genau solche Details sind zwar für die eigentliche Handlung nicht zwingend, aber für meine Lesefreude entscheidend.
A-Story, B-Story, Prämisse
Da das massiv spoilern würde, muss ich hier dazu leider schweigen. Sonst würde ich viel Lesespannung nehmen. Ich kann die Story nur empfehlen. Die Sammlung kostet als Ebook nicht viel (3,99 Euro) und ist auch bei Kindle Unlimited zu haben.
Alle enthaltenen Geschichten der Anthologie
Frederic Brake Sweet Home Aldebama
Anja Kubica 2152: Homo sapiens vs. Sapionide
Andreas Tillmann Die Ceres-Station
Kornelia Schmid Zerbrochenes Glas
Nob Shepherd Der Flug der Ana Konda
Adriana Wipperling Im Sturz durch Zeit und Raum
K. Theo Frank Jewgenijs Reise
Stefan Junghanns In größeren Dimensionen
Jaana Redflower Ersatzkind
Matt de'Winters Calypso
Axel Aldenhoven Der Weg des Gal
Erschienen in:
Titel | Dimension Null: 2022 Album of Science Fiction Stories herausgegeben von |
herausgegeben von | Peggy Weber-Gehrke |
Verlag | Verlag für Moderne Phantastik |
Rezensionsexemplar | nein, aber Kindle Unlimited |
Erscheinungsjahr | 2022 |
Seitenzahl | 538 |
Anzahl Geschichten | 11 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1600435509905399810 |
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