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In dem us-amerikanischen SF-Magazin "Analog" habe ich eine Story gefunden, die mir sehr zugesagt hat: "Wind gets her own place" von Joe M. McMermott.
Es handelt sich um längere Erzählung, nicht um eine klassische Kurzgeschichte mit einer Pointe. Eine rote Linie gibt es und das ist Winds Selbstständig-werden, wie der Titel schon sagt, macht sie das daran fest, dass sie endlich ihr eigenes Zuhause erhält.
Wind ist die siebzehnjährige Ich-Erzähler:in in dieser Novelle. Ich werde die erste Hälfte gnadenlos spoilern, sonst kann ich nicht ausdrücken, worum es mir geht. Die Story ist auch mit diesen Spoilern noch lesenswert. Wind hat mir kein Pronomen angeboten, sie könnte weiblich oder auch nonbinär sein. Ein Junge ist sie jedenfalls nicht.
Wind lebt zunächst bei ihrem Vater, der aber aufgrund einer (versehentlichen, jedenfalls laut Wind) Tötung ins Gefängnis muss. Sie zieht zu ihrer Mutter, zunächst auf den Mond. Dann möchte die Mutter gemeinsam mit ihrem neuen Lebensgefährten Jason und Wind in das System Alpha Centauri auswandern, nach Tau Ceti. Die Reise dauert 93 Jahre. Während dieser Zeit sind alle drei (und die anderen 597 Passagiere) im Kälteschlaf in Tanks. Das trifft sich ganz gut, da ich gerade zum Thema Hibernation für ein eigenes Projekt recherchiere.
Wind steckt die Hibernation gut weg, sie kommt "in one piece" an. Das gilt aber längst nicht für alle. Drei der sechshundert Personen haben die lange Schlafphase nicht überlebt, unter anderem Winds Mutter. Die Risiken sind bekannt, man unterschreibt ein entsprechendes Formular vor einer Reise. Einige Menschen werden auch von vorneherein ausgeschlossen (siehe unten), aber es ist nicht alles vorhersehbar.
Ebenfalls sehr normal sind "injuries or discolorations in our skin". Letzteres ist so häufig, dass es dazu Forschungsarbeiten gibt.
Der Partner von Winds Mutter, Jason, wird gleich von Beginn an von Trauer zerfressen und zeigt dies auch, Wind selbst ist weniger mitgenommen, da sie erst seit kurzer Zeit bei ihrer Mutter lebte und diese kaum kannte. Sie ist eher verärgert, weil sie nun bei Jason leben muss - noch ein Jahr, bis sie endlich volljährig ist und eine eigene Wohnung beziehen kann.
Die Gründe, warum jemand den langen Schlaf nicht überlebt, kennt Wind leider nicht im Detail, sie berichtet darüber:
"It could be mechanical. It could be mom just ... couldn't. The biology of survival is hard to study even after so many years, but there's always possibly some little biological quirk that causes just enough of a problem in the long sleep, or some infection creeps in, immune to the cold."
Es stellt sich auch heraus, dass man nicht gleich sterben muss, Akong, einem Freund von Wind, ist folgendes zugestoßen:
"He lost all the hair on the upper half of his body from the same mechanical failure that took his parentes and brother. His legs and feet were werdly hairy."
Viele Menschen werden auch von vorneherein von der Hibernation ausgeschlossen. So auch die Mutter von Stina, Winds Freundin:
"She said her mother didn't certify for transit because of a heart condition, and her dad had decided to got without her mom and they decided to send Stine along, and keep her brother behind for her mom. Her dad didn't make it."
Dieser Ton macht die Story so glaubhaft. Wind erzählt, und sie klingt dabei authentisch.
Queerness
Es geht in der Story nicht vordergründig um Queerness, sondern um Wind und ihr Erwachsenwerden. Doch Querness und auch Diversität ist die ganze Zeit da. Selbstverständlich, ob direkt oder nur zwischen den Zeilen.
Wind geht nicht automatisch davon aus, dass alle Menschen hetero und cis sind. Über ihre Freundin Stina denkt sie: "... if she liked guys. I didn't know what she liked."
Wind selbst ist bisexuell ist (sie bevorzugt Frauen, findet aber auch manchmal feminine Männer schick und knutscht irgendwann mit Akong). Insgesamt scheint Wind an Sex und ähnlichem aber nur oberflächlich interessiert zu sein, für eine Siebzehnjährige nimmt das recht wenig Raum in ihren Gedanken ein. Zwar macht sie sich sehr hartnäckig auf die Suche nach einem alten Freund, der vor ein paar Jahren nach Tau Ceti ausgewandert ist, dieser scheint aber auch eher aus freundschaftlichen Gründen wichtig für sie zu sein.
Akongs Ziehmutter hat ein "Guatemalan face" (offenbar ist es egal, woher man ist, Tau Ceti ist eh nicht auf der Erde, ALLE sind eingewandert) und sie hat keine eigenen Kinder.
"She took them in young. She said she couldn't have kids of her own without a surrogate. [...] but I figured out she was probably transgender, like Chad".
Nebenbei gesagt, es kommt auch eine Person, die ihr Bein durch Knochenkrebs verloren hat. Alles sehr divers. Ich habe sicher noch einige subtile Hinweise überlegen. Die Story ist toll und ich habe sie nur zweimal gelesen. Bisher.
Fazit
Alles wird geschildert in einem ernsten, aber unterhaltsamen Ton, es passiert viel, aber die rote Linie ist eigentlich nur das Erwachsenwerden. Als hätte man Anteil an einem Stück Leben einer jungen Frau, die ins All ziehen musste.
Was mir später noch einfiel: Wind ist in einem geringen Maße eine nicht ganz zuverlässige Erzählerin. Sie ist fast hundert Jahre lang im Kälteschlaf gereist. Alle auf der Erde, die sie kannte, sind tot. Auch ihr Vater. Das muss sie wissen, denkt es aber nie. Das bleibt eine Leerstelle, die wir füllen dürfen. Sicher würde mir beim dritten Lesen noch mehr auffallen.
Weltenbau
Für Wind, die dort wohnt, ist alles selbstverständlich. Wichtig ist aber folgendes:
"Homelessness is forbidden on Tau Ceti. Everyone needs to have a home."
Das ist insofern problematisch, dass Wind nicht gern nach Hause zu Jason geht und aber auch keine Alternative hat. Außerdem haben alle sehr sehr kleine Wohnungen, in der Regel nur ein Zimmer plus Bad.
Harte Fakten
Titel | Wind gets her own place |
geschrieben von | Joe M. McMermott |
wo | in der Analog vom Januar 2022 |
Erscheinungsjahr | 2022 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1529327052654092290 |
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