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Mai 2022 und es nähert sich die Deadline für die Abstimmung beim Deutschen SF Preis. Anlässlich dessen lese ich die nominierten Kurzgeschichten erneut.
Bisher hatte ich die Geschichte nicht öffentlich rezensiert, da ich mir dachte: Da kommt man ja so schlecht heran!
Stimmt nicht mehr, denn die Autorx Aiki hat die Story für Podyssey selbst vertont.
Worum geht es?
Eine recht betagte Ich-Erzählerin ist mit ihrer langjährigen Partnerin in einer futuristischen Welt unterwegs. In der Anfangsszene befinden sich die beiden Frauen vor dem Start eines Langstreckenflugs, was bedeutet, dass sie ihren Tego, einen "allgegenwärtigen digitalen Assistenten" herausnehmen dürfen.
Beim Lesen erfahre ich sehr schnell, dass der Tego das Langzeitgedächtnis der Figuren enthält. Einen Tego zu haben, den man noch entfernen kann, ist in der geschilderten Zukunft ungewöhnlich, bei jüngeren Menschen ist der Tego fest eingebaut.
Ihre gemeinsame Tochter wird recht bald erwähnt und ich spüre die Sorge der Eltern um ihr Kind, die Sätze, die man schon nicht mehr aussprechen muss. Das Kind hier ist zwar erwachsen, doch die Sorge ist dadurch nur gewachsen, weil die Möglichkeiten, sich in Schwierigkeiten zu bringen, das ebenfalls sind. Das Kind ist noch immer "unsere Kleine".
Dieser Ausdruck zeigt mir das Zusammengehörigkeitsgefühl der beiden Frauen und auch, dass das Kind so alt werden kann wie es mag, es bleibt trotzdem immer ihr Kind.
Eisbären sind ausgestorben, pünktlich zur Geburt der Kleinen, wie die Ich-Erzählerin reflektiert. Dabei bleibt der Text ganz nah an den Gefühlen und Gedanken der Identifikationsfigur, die Handlung schreitet sehr langsam voran und zeigt dabei viel von der Welt, nicht nur technisch, sondern auch von der Stimmung und vom Familienleben.
Die Tochter ist eine Klimakämpferin, unterwegs zu einer Bohrinsel.
Die Möglichkeiten des Tego werden bereits recht früh angedeutet mit dieser Szene:
"Wir lächeln einander an, als könnten wir uns auch ohne Langzeitgedächtnis an jedem Ort und in jeder Zeit wiedererkennen"
Details! Details!
Die Autorx bietet und wieder an vielen Stellen sorgfältige Details, die die Welt und die Figuren zum Leben erwecken.
"Ich nehme ihre Hand. Sie cremt ihre Hände oft ein, sodass mir die Hand fast entgleitet, so glatt ist sie. "
-> Es ist doch bemerkenswert, wie hier mein Tastsinn angesprochen wird, ein Sinn, der beim Lesen recht selten mit einbezogen wird.
Die Liebe der Ich-Erzählerin zu ihrer Frau wird so eindringlich und zweifellos dargestellt, ebenfalls in Details. Wie sie nicht aufhören kann, ihr beim Schlafen zuzusehen.
Wenig später dann beschreibt die Autorx die Kraft der Worte, ein Thema, das offenbar am Herzen liegt. Die Metaphern und Vergleiche, die die Autorx hier wählt, sprechen eine klare Sprache.
"Explosivgeschosse"
"Sprengkraft"
"Klangdetonationen, die innerlich zerreißen sollen"
Vorsicht. Es folgen Spoiler.
Schön ist, dass es nicht reicht, die Tochter aus dem Tego zu löschen. Es muss auch ein Tattoo verändert werden. Das ermöglicht uns Lesenden, die Löschung zweimal auf unterschiedliche Art und Weise zu erleben, einmal digital und einmal blutig.
Der Höhepunkt der Trauer für die Ich-Erzählerin ist für mich dieser Satz:
Jetzt, wenn es zu spät ist, weil niemand mehr sehen wird, in welches Gesicht das Gesicht unserer Kleinen gealtert wäre.
-> Ich bin von Trauer betroffen (mein jüngerer Bruder ist gestorben, als er 28 war) und bisher habe ich immer gedacht, dass es das Schlimmste ist, dass keine neuen Erlebnisse dazukommen. Dass ich die Dinge, die ich jetzt erlebe, nicht mehr mit ihm teilen kann. Wenn ich über etwas stoße, dass er witzig oder albern finden würde, kann ich ihn nicht anrufen und ihm das erzählen (und es verblüfft mich, wie oft das immer noch geschieht, obwohl es nun fast zehn Jahre sind).
Über das fehlende Altern habe ich hingegen nie nachgedacht. Mein Gesicht wird älter und älter und nähert sich der Mitte meines Lebens, hat dies womöglich schon längst überschritten. Er hingegen bleibt immer jung, immer 28, wird immer nur ein einziges weißes Haar haben, keine Falten, immer, immer in unseren Gedächtnissen bleibt er jung.
Dieser kleine Gedanke in dieser Kurzgeschichte hat meiner Erlebniswelt der Trauer eine Idee hinzugefügt, die ich sehr zu schätzen weiß.
Das Echo der Eisbärin. Den Verlust der Eisbären (der für das gesamte Universum gilt) und den Verlust der "Kleinen" (der nur für die beiden Hauptfiguren gilt) zu verknüpfen, macht die Geschichte dicht und sehr greifbar.
Die Nähe der Eisbärin zur Tochter, zur "Klimakämpferin", macht noch etwas Anderes: Sie charakterisiert die Tochter als Menschen, als Person. Eisbärin sind stark, sind durch ein dichtes Fell geschützt, aber eben dennoch bedroht. Obwohl so stark, sind sie hier dennoch ausgestorben. Die Tochter war ebenfalls stark, trotzdem ist sie gestorben. Das steht so nicht direkt im Text, wird aber klar transportiert, wenn man der Geschichte ein wenig Raum zum Nachwirken gibt.
Aussage
Vorsicht. Das spoilert.
Vordergründig geht es für mich um die Entscheidung der Ich-Erzählerin, ihre Frau vor der Trauer und dem Verlust um ihre gemeinsame Tochter zu beschützen. Sie fällt eine Entscheidung zu ihrem Schutz, aber eben auch über ihren Kopf hinweg. Es wäre ja auch möglich gewesen, das zunächst zu besprechen und dann gemeinsam zu entscheiden.
In einer völlig anderen Geschichte las ich letztens, dass man ohne die Trauer um das Kind ja eben gar nichts mehr habe und die Trauer sei besser als gar nichts.
Ich traue mich nicht, hier eine Entscheidung zu treffen (erst recht nicht für andere). Dadurch, dass die Ich-Erzählerin so handelt, wird die Geschichte aber erst erzählenswert.
Ich habe die Story nun dreimal gelesen. Für mich löscht die Ich-Erzählerin die Tochter ebenfalls aus ihrem Gedächtnis bzw. hat dies vor, kurz bevor die Kurzgeschichte ihren letzten Satz findet.
Beim Wiederlesen ist mir aufgefallen, dass das so explizit nicht im Text steht, schließlich hat sie den Tego ihrer Frau im Ohr, als sie die entsprechenden Handgriffe durchführt.
Selbst wenn sie die Tochter auch bei sich löscht: Sie selbst hat vorher ausgiebig trauern dürfen.
Eine andere interessante Frage ist: Inwiefern ändert die Geschichte sich für mich, wenn ich weiß, dass sie die Erinnerung bei sich selber ebenfalls löscht oder wenn sie dies nur bei ihrer Frau macht?
Eine andere Frage stellt sich nach der Motivation: Löscht die Ich-Erzählerin die Tochter aus dem Gedächtnis der Frau, weil sie sie schützen möchte und ihr die Trauer ersparen?
Oder tut sie dies vielmehr, weil sie die Trauer ihrer Partnerin nicht aushalten möchte?
Ich finde den zweiten Gedanken nicht so böse wie es vielleicht scheint. Ich hätte einiges dafür getan, die Trauer meiner Eltern um meinen Bruder nicht erleben zu müssen. Meine eigene Trauer konnte und kann ich weit besser aushalten als ihre.
Trotzdem erscheint mir die Idee, ein Kind aus dem Gedächtnis eines Elternteils (oder aus beiden) extrem unfair. Ich bin froh über jede Erinnerung, trotz all der Trauer, und ich vermute, dass es vielen anderen trauernden Menschen ebenso geht.
Es gibt auch genügend SF-Geschichten, die genau das thematisieren, die Möglichkeit, sehr konkret und oft sogar zum Anfassen in die eigene Vergangenheit zurückzukehren und jene Menschen wieder zu erleben, die in der Gegenwart nicht mehr existent sind. Via Tagtraum mache ich das ständig, sei es die eine Oma oder die andere oder eben mein Bruder oder meine vielzähligen verstorbenen Onkel. Keine einzige Erinnerung an diese Menschen gebe ich her!
Die Geschichte und vor allem ihre Aussage flutscht mir ein wenig durch die Finger (als hätte ich sie zu gut eingecremt) und gerade deswegen ist das erneute Lesen alles andere als langweilig.
Diversität
Die beiden Hauptfiguren sind lesbisch und außerdem sehr alt, ein wenig altmodisch in der Welt, in der sie sich befinden.
Harte Fakten
Titel | Universum ohne Eisbärin |
geschrieben von | Aiki Mira |
erschienen in der | c't (2021) |
zu hören auch hier | Podyssey |
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