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NOVA 31- Magazin für spekulative Literatur

Inhalt

Da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt, muss ich diesen Beitrag als Werbung kennzeichnen.

 

Die neue NOVA enthält folgende zehn Storys: 

  • Maike Braun: Die Retardierten
  • C. M. Dyrnberg: Fast Forward
  • J. A. Hagen: Am Scheideweg
  • Lars Hannig: Ein Shoppingmall-Sonnenaufgang
  • Karsten Kruschel: Unverbaubarer Blick über die Bucht
  • Dirk Alt: Die Chimäre
  • Thomas Grüter: Der Gast
  • Frank Neugebauer: Biofilm 1983
  • Iván Molina: Deutsche Einsamkeit (Übersetzung aus dem Spanischen)
  • Michael K. Iwoleit: Briefe an eine imaginäre Frau

 

Im Sekundärteil finden wir folgende Artikel (habe ich nicht gelesen): 

  • Wolfgang Asholt: Vom Terrorismus zum Wandel durch Annäherung. Houellebecqs Unterwerfung
  • Manuel Mackasare: Die Natur übertreffen. Ernst Jüngers Gläserne Bienen (1957) aus futurologischer Perspektive 
  • Helmut Wenske – ein Kurzporträt (nachgeholt von der letzten Ausgabe)

Fazit für Eilige - insgesamt finde ich die Ausgabe sehr gelungen, mit zwei klaren Favoriten unter den Storys. Die Vorworte von Michael Iwoleit zu den Geschichten gefallen mir, ich wünschte nur, ich hätte jeweils die Geschichte zuerst gelesen, da sie in einigen Fällen ein wenig spoilern oder eine Interpretation vorwegnehmen, die ich lieber erst im Nachhinein gelesen hätte, um unbeeinflusst zu sein.

Zu einzelnen Geschichten

Ich habe mich entschieden, zu sechs der Geschichten etwas zu sagen:

  • zu vieren, weil ich sie besonders gut fand und
  • zu einer, weil sie aus meiner Sicht ein Klischee bedient, das ich nicht mehr lesen möchte
  • zu einer weiteren, weil ich sie nicht verstanden habe und auf einen Austausch hoffe.

C. M. Dyrnberg: Fast Forward

Der Autor kombiniert zwei bekannte Themen, ein klares SF-Thema:  lange Reise (teilweise im Kryoschlaf) zu einem Exoplaneten und ein Thema aus dem Leben: Trauerbewältigung .

Das Besondere dabei ist, dass die Reise gefühlt nur eine Woche dauert, da der Ich-Erzähler währenddessen nur sieben Mal aufgeweckt wird, aber derjenige (oder, in einem Fall auch diejenige, weil es eine Frau ist), der ihn aufweckt, ihm jeweils erklärt, wie viel Zeit vergangen ist. Das Aufwecken ist laut der Zuständigen notwendig, um die körperlichen Funktionen zu testen und zu erhalten, was gut erklärt wird. In den Wachphasen bekommt die Figur nichts zu lesen oder zu tun, soll sich nur mit sich selbst beschäftigen.

Die Frau des Ich-Erzählers hat sich kurz vor der Reise von ihm getrennt. Wir begleiten die Figur bei seiner Trauerbewältigung. Zunächst ist für ihn nur ein Jahr nach dem Aufwachen vergangen, dann fünf Jahre, vierzig, schließlich liegen jeweils hundert Jahre zwischen den Wachphasen. 

Ich halte die Geschichte für die bisher Beste des Autors. Die Pointe kommt genau an der richtigen Stelle und ich erahne sie auch perfekterweise erst drei Sätze im Voraus. Großartige Kurzgeschichte, die gute Chance hat, am Ende des Jahres unter meinen Top 10 zu landen.

 

Maike Braun: Die Retardierten

Laut Vorwort ist das ihr NOVA-Debüt. Ansonsten ist die Autorin natürlich keineswegs eine Unbekannte für das SF-Fandom. Ganz besonders positiv in Erinnerung geblieben ist mir ihre Novelle in "Eden im All", aber auch eine ihrer Kurzgeschichten in der Exodus hatte was. In der Exodus war auch regelmäßig schon etwas von ihr dabei. Allein im Jahr 2021 hat sie meiner Rechnung nach insgesamt sieben Kurzgeschichten veröffentlicht und steht damit an vierter Stelle gemeinsam mit Aiki Mira, hinter Monika Niehaus, Christian Endres und Rainer Schorm. 

 

MKI vermutet im Vorwort, es könnte um Feminismus gehen. Schließlich sind die "Retardierten" zum größten Teil weiblichen Geschlechts und die Geschichte setzt sich mit ihrer Befreiung bzw. dem Wunsch der Selbstbefreiung auseinander. Diese Interpretation ist eine gute Idee, ich persönlich habe die Geschichte anders verstanden. So sehr, wie die Retardierten in der Geschichte benachteiligt werden, fallen mir da eher andere Menschengruppen ein, die sich da eher wiederfinden könnten, nicht unbedingt Frauen. 

 

Dass es sich bei den Retardierten fast nur um Frauen (laut Geschichte 93%) handelt, kann andere Gründe haben, so ist ja auch bei den künstlichen Menschen in McEwans "Maschinen wie ich und Menschen wie ihr" das Modell "Eva" viel rascher ausverkauft als "Adam" und auch in unserer wirklichen Welt sind bei allen Arten artifizieller Menschen (auch wenn es in der Regel nur Puppen sind) die weiblichen Versionen beliebter.

 

Hier heißt die Protagonistin, eine Retardierte (zufällig?) auch Eva, allerdings handelt es sich nicht wirklich um einen künstlichen Menschen, sondern um Menschen mit einem eingebauten Neuroship, eine Entfernung ist möglich, wenn auch in der Regel erst nach einem festgesetzten Zeitraum. Die Details werden nach und nach entblättert und ich widerstehe der Versuchung, diese hier alle zusammenzutragen, um das Leseerlebnis nicht zu spoilern.

An einer Stelle wird deutlich herausgestellt, dass Retardierte keine Roboter sind und keine Besitzer haben (im Gegensatz zu dem erwähnten Roman von McEwan, in dem der künstliche Mensch Adam klar Eigentum des Protagonisten ist).   

 

Künstliche oder auch andersartige, "enhancte" Menschen und deren Andersbehandlung mögen keine neuen Themen sein, doch gelingt es der Autorin gegen Ende hin, einen Twist einzubauen, den ich sehr gelungen fand und der dem Thema einen neuen Aspekt hinzufügt.

 

Wir werden anfänglich gleich in die Geschichte geworfen, in eine etwas stressige Szene, in der vier Figuren vorkommen (Eva - offenbar eine Retardierte - Ralf, Ortrud und Torben). Die Sätze sind lang, haben viele Komata und verstärken die gestresste Atmosphäre, was passend ist, auch wenn es meine Lesefreude nicht gerade erhöht.

Es wird auch ziemlich schnell heftig und respektlos, als Torben sich laut wünscht, Eva möge einen Ausschaltknopf haben. Das macht die Geschichte für mich als Leserin recht schnell schwer erträglich - was aber sicherlich gewollt ist.

Da mehr Evas Sicht bemüht wird und diese Schwierigkeiten mit der Interpretation des Verhaltens der Menschen hat, haben wir hier fast eine Art unzuverlässige Erzählerin und müssen selber achtgeben, was denn in den gezeigten menschlichen Figuren vor sich geht. 

Der Weltenbau ist gut und geschieht wie nebenher ohne Infodump. Was ich sehr interessant fand, war die Szene, in der berichtet wird, jemand habe eine Katze mit einem 3D-Drucker erstellt (hätte ich aber lieber szenisch erfahren statt nur als nachträglichen Bericht).  Mir hat generell gut gefallen, was man alles drucken kann. Ein Bein. Eine Niere. Und das wird so schön nebenbei erwähnt. Dies ist auch insofern wichtig, da das komplexe Ausdrucken für eine spätere Szene vorbereitet werden muss.

Wir erfahren alsbald, dass man Retardierte durchaus auf eine Art ausschalten kann, nur offenbar nicht so spontan (das nennt sich hier "verlangsamter Zustand"). 

Rein sprachlich gehe ich nicht mit jeder Metapher oder jedem Vergleich mit, einiges reißt mich auch eher heraus (Beispiel: "Der Strom der Einkaufswilligen wurde nur von den Massen an Schaulustigen gebremst, die sich wie die ringförmige Rötung um einen Mückenstich um die Straßenkünstler angesammelt hatten.")

An einigen Stellen erscheinen mir die Details auch zu gehäuft, während an anderen (vorzugsweise während der Dialoge) kaum Details geschildert werden.

Ich habe die Geschichte zweimal gelesen, weil ich beim ersten Mal bei den Retardierten zunächst von anderen Voraussetzungen ausgegangen war, die sich wie gesagt erst später klären. 

 

Lars Hannig: Ein Shoppingmall-Sonnenaufgang 

Gero Berg erwacht in einer Shoppingmall, das Szenario wirkt postapokalyptisch, obwohl das definitiv nicht die gesamte Welt betrifft (was auch rasch klar wird), sondern nur den Teil der Welt, in dem er sich ab jetzt befindet. 

Sehr gelungen fand ich das Detail, das zur näheren Charakterisierung der Hauptfigur Gero genutzt wurde. Er macht Farben ("Laungeviolett, Mintgrün und Laguneblau") aus, weil seine Verlobte "darauf bestanden [hatte], jeden Bereich ihres Luxusapartments, von der freischwebenden Wendeltreppe bis hin zur riesigen Wohnküche, nach Themen zu gestalten. Das Schlafzimmer war eine Höhle aus Samtkissen und hängender Seide gewesen, in einer Farbe, die er in Gedanken als Muschirosa bezeichnete."

Das sagt uns vielerlei über den Helden der Geschichte, z. B. woher er kommt und - subtiler - was er von den Aktivitäten seiner Verlobten hier hält, und auch, vielleicht nicht ganz so subtil, was er allgemein von Frauen hält. Zeige mir einen respektvollen Feministen, der "Muschirosa" witzig findet. Alleinstehend hätte ich das überlesen, aber da noch mehr davon kommt, fällt es mir nachträglich umso mehr auf.

Anfänglich haben mich die Phrasen gestört, "quälende Fragen" und "in seiner Erinnerung eingebrannt". Das sind Satzfetzen, wie ich sie schon zu oft gelesen habe. Ich will neue Ideen und Bilder, keine alten.

Bei dem Rückblick in sein Leben, bevor er in der Shoppingmall landete, wird der Stil dann deutlich besser, diese Welt scheint dem Autor auch viel mehr zu liegen. Der Weltenbau ist m. E. nicht frei von Infodump, was auch anders hätte gelöst werden können.

Dafür wird das Frauenbild keineswegs besser. Eine (künstliche) Prostituierte wird einfach davongestoßen mitten im Akt, weil das Telefon klingelt und zu einem späteren Zeitpunkt wird sie offenbar gewürgt. 

Gut, es gibt genügend Menschen, die auf Professionelle herabschauen, das finde ich persönlich nicht schön, aber es geht noch weiter. Auch seine Verlobte Ava kommt nicht sehr gut bei ihm weg.

Textbelege, was er über sie denkt und sagt:

"Zu blöd, ihr Passwort richtig einzugeben"

"zu blöd, die Heimelektronik zu bedienen"

Als er einen Mann trifft und sich mit ihm über Ava unterhält, spricht er an positiven Dingen auch nur über ihr Äußeres. Ausschließlich. Andere Eigenschaften scheinen für ihn nicht bedeutsam zu sein. Sein Gesprächspartner hinterfragt das auch nicht, da dieser ein ähnliches Frauenbild hat.

Eine Aussage hat die Geschichte durchaus und diese ist auch ganz interessant.

 

Die Hauptfigur soll nicht sympathisch sein, das habe ich verstanden. Ich als Leserin empfinde diese jedoch als Stereotyp oder gar Klischee. Um Charlie Jane Anders zu zitieren (aus der Short Story "As good as new"):

"clichés were like plaque in the arteries of the imagination, they clogged our sense of what was possible. Maybe if enough people had worked to demolish clichés, the world wouldn't have ended".

 

Meiner Ansicht nach vergibt sich der Autor eine interessante Geschichte, indem er das Klischee des sexistischen, fast schon frauenverachtenden Mannes bedient. Indem er diese (oft genutzte) Perspektive bedient, verleiht er dieser mehr Macht und Gewicht. Dass die Sicht des Autors nicht mit der des Erzählers übereinstimmt, habe ich verstanden. Trotzdem bevorzuge ich Geschichten, die einer solchen Perspektive keinen Raum bieten. 

 

J. A. Hagen: Am Scheideweg

Zwar möchte ich mich hier kürzer fassen, fände es aber unfair, die Geschichte nicht zu erwähnen, da ich

a) Zeitreisegeschichten oft sehr gerne mag und

b) diese hier stellenweise sogar spannend fand und

c) durchweg gut geschrieben.

Meiner Meinung nach fügt sie dem SF-Kanon nicht unbedingt etwas bewegend neues hinzu (muss es das denn immer? hoffentlich nicht!) und die Pointe bzw. das Ende war doch recht absehbar. 

Fazit: Lesenswert!

 

Karsten Kruschel: Unverbaubarer Blick über die Bucht

Das Lektorat/Korrektorat war in allen anderen Geschichten so gründlich, also muss es wohl Absicht sein - aber hier kommen die Frauenfiguren durcheinander.

Anfänglich, so scheint es mir jedenfalls, ist Isabel eine Maklerin, die Peter und seiner schwangeren Frau Susan, ein Haus verkauft: Mit Blick auf die Bucht bzw. auf einen Turm, der das phantastische Thema dieser Geschichte ist.

Später ist Peter von Susan getrennt und stattdessen mit Isabel zusammen (wobei nie gar klar wird, warum), in einer späteren Szene ist es plötzlich wieder Susan. Ich kann mir das nicht erklären und bin verwirrt.

Verwirrt bin ich auch von den phantastischen Komponenten, die sich zwar zuspitzen und deren Kräfte und Auswirkungen mehr und mehr beschrieben werden, aber niemals erklärt und auch der Schluss bietet mir keine Erleuchtung.

Das Lesen habe ich schon genossen, es ist gut geschrieben, stellenweise spannend und die Figuren samt Nebenfiguren (Afriâno und Pierre sogar mit Migrationshintergrund) waren gut ausgeleuchtet, jedenfalls so viel wie für die Handlung notwendig.

Dennoch habe ich keine Ahnung, was hier die A-Story war, ganz zu schweigen von einer B-Story oder einer Prämisse.

MKI erwähnt im Vorwort "Picknick am Wegesrand" und "Solaris" als Referenz, die definitiv auch jeweils nicht alles bis zum letzten Klecks erklären, bei denen ich aber erheblich mehr verstanden und nachvollzogen habe als hier. Immerhin gibt es einen Hinweis, was hinter den Türmen stecken könnte und warum der Text dem SF-Genre angehört.

Für Hinweise bin ich dankbar.

 

Michael Iwoleit: Briefe an eine imaginäre Frau

Diese Novelle schließt an frühere des Autors, vor allem an "Ich fürchte kein Unglück" stilistisch an und übertrifft diese meines Erachtens sogar noch.

Der Autor erzeugt beim Lesen ein ähnliches Gefühl, das ich schon bei "Ich fürchte kein Unglück" hatte, und zwar, dass das alles tatsächlich passiert ist und er mir nun davon berichtet. Manchmal fühle ich mich sogar so, als wäre ich eine Art Beichtmutter und er säße mir gegenüber, was ein Gefühl ist, das nur wenige Autor:innen erzeugen können und als hohes Lob gemeint ist.

 

Das kann aufgrund der vielen futuristischen Zutaten natürlich nicht sein,  trotzdem fühlt sich alles Erzählte sehr echt an. Damit fällt diese Novelle auch in eine völlig andere Lese-Kategorie als die anderen Geschichten in diesem Magazin, oder auch generell in der deutschsprachigen SF-Kurzprosa (im anglo-amerikanischen Raum finde ich so etwas durchaus häufiger). 

Ich vermute, der Autor nimmt Details aus seinem eigenen Leben, was den Ich-Erzähler betrifft, was es ihm vermutlich erleichtert, sich ihm zu nähern und dies wiederum mir hilft, mich mit dem Erzähler zu identifizieren und das, obwohl dieser mir streng genommen nicht sehr sympathisch ist.

 

Was fast noch beeindruckender als die Echtheit des Texts ist, ist die Verknüpfung von zwei Ebenen, einmal eine sehr menschliche Schwäche des Erzählers und dann die augmented Reality, das Haupt-SF-Thema der Novelle (auch wenn im Weltenbau noch einige andere gestreift werden, aber ich möchte hier keine zehnseitige Rezension verfassen). 

 

Im Vorwort wird eine Prämisse formuliert, interessanterweise habe ich aber für mich selber beim Lesen eine andere gefunden. Hier die aus dem Vorwort: "Was wird aus der Liebe in einer Welt, die scheinbar grenzenlos form- und manipulierbar ist, in der die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit verschwimmen?"

Was ich gefunden habe, geht durchaus in eine andere Richtung, aber ich habe es so interpretiert, dass die Schwierigkeit des Erzählers, mit den Makeln der Realität (vor allem beim Sex) klarzukommen, schon bestand, bevor man die Realität so sehr umformen konnte. Für mich ist das eher eine Metapher für Plakate (oder Insta-Accounts) vermeintlich makelloser Menschen und Photoshop versus der pickelbehafteten Realität. Und hier nicht aus der Perspektive eines Menschen, der versucht, selber makellos zu werden, sondern eben von jemanden, der (siehe Prämisse aus dem Vorwort) eigentlich Liebe (auch körperliche) sucht. 

Ich habe den Ich-Erzähler sogar auf eine Art asexuell gelesen (was ja ein breites Spektrum mit vielen Ausprägungen ist), da es ihm so gar nicht gelingt, Sex in der echten, stinkenden Welt wirklich zu genießen.

 

In den ersten Szenen der Novelle erfahren wir, wie unecht die Welt geworden ist und der Ich-Erzähler schaltet alle AR-Feeds ab und sieht die Welt so, wie sie tatsächlich ist, inklusive der Menschen.

Interessant ist, dass er selber eine große Kraft beim Entwickeln all dieser Dinge war, jahrelang daran mitgearbeitet hat und daher genau weiß, wie das alles funktioniert und was möglich ist. Das macht einen großen Reiz der Geschichte aus und macht den Weltenbau umso detaillierter.

Die Schlüsselszene der Novelle, in der er die Frau erblickt (und sogleich in der Menge verliert), die fortan die "imaginäre Frau" ist, spielt 2041. Wir erfahren aber auch einiges von davor, bis zurück zu seiner Kindheit, bis hin zu ihm im Alter von achtzig. 

Die Szenen, die sich um Sex drehen (meist weniger explizit den Akt betreffen, aber erstaunlich nah an den Gedanken und Gefühlen der Hauptfigur) sind extrem gelungen und lesen sich sehr abstoßend, was gewollt ist.

Vor allem die Beziehung zu der Kellnerin Susan ist gruselig. So sieht er sie:

" .. Susan auf ihre vielen, für einen VR-Profi offensichtlichen, Makel abzuchecken: ein gewisses Ungleichgewicht zwischen ihrer weiten Hüfte und der recht flachen Brust, ihr spitzes Kinn, das ihren schmalen Mund ein wenig wie einen Vogelschnabel erscheinen ließ, und andere, intimiere Mängel, die mir auffielen, als sie das erste Mal neben mir im Bett lag."

Zuerst dachte ich, der Erzähler habe den Anspruch, eine Frau solle makellos schön sein und dies hinge mit einem sehr schwierigen Frauenbild zusammen, aber dann begriff ich, dass genau das sein Leiden ist. Laut Autor selber (siehe Prämisse im Vorwort) aufgrund der Möglichkeit der Perfektion in der virtuellen Realität, laut meiner eigenen Lesart ist das bereits in der Figur verankert und wird durch die augmented Reality lediglich befeuert.

Denn es ist nicht so, dass seine Ansprüche sich nur auf seine Gegenüber beziehen, auch sich selbst sieht er so: "Jede Form körperlicher Annäherung eines anderen Menschen machte mir sofort alle Unvollkommenheiten und Eigentümlichkeiten meiner eigenen physischen Existenz bewusst"

Er empfindet das als Einschränkung der Realität, während in der VR alles möglich wird (auch, wie später gezeigt wird, Dinge, die ihn befremden).

Susan zeigt beim Sex einen gequälten Gesichtsausdruck, beim Lesen schwer zu ertragen. Ich frage mich, warum sie nicht einfach aufhören und auch die Hauptfigur sieht das in der nachträglichen Reflektion kritisch.

Was für mich zeigt, dass Sex in der normalen, schmutzigen Realität generell nichts für die Hauptfigur ist, ist dieser rundum gelungene Satz:

"Manchmal waren die Gerüche unserer sexuellen Aktivitäten - Schweiß, leicht saurer Atem, Sperma, Vaginalsekret - so aufdringlich, als hätte mir jemand eine faule, organische Substanz tief in den Rachen geschmiert".

Viele der Gedanken haben schon heute Gültigkeit, nun, hatten schon in den neunziger Jahre Gültigkeit, wie: "Man vergisst so leicht, dass man mit einem realen, lebenden und atmenden menschlichen Wesen am anderen Ende des VR-Interface verbunden ist."

Der imaginären Frau jagt er also irgendwann hinterher, ohne eine echte Chance, sie zu finden. Dabei lernen wir seine Tochter kennen (er hat 12% des Erbguts beigetragen, toller Weltenbau was die Poolmenschen betrifft, dazu schreibe ich jetzt mal nicht mehr) und seine Assistentin, beide Frauen haben übrigens deutlich mehr Profil als beispielsweise Susan.

Die Herangehensweise an das Thema ist sehr mutig, da hat der Autor sich nah herangewagt an eine sehr komplexe Figur und das alles eingebettet in eine absolut überzeugende Welt. 

Für mich war es rein formal an einigen Stellen ein wenig zu narrativ, nicht immer klebte ich an den Seiten, schade, dass so wenig szenisch erzählt wurde, auch wenn das zum Titel und zur Dauer der erzählten Zeit durchaus passt. Auf einige wenige Beschreibungen der Welt hätte man auch verzichten können, die waren sehr informativ, aber insgesamt ist der Weltenbau doch beeindruckend und wurde auch gut in die Handlung eingebettet. 

In den vergangenen Tagen, seitdem ich die Novelle gelesen habe, habe ich einer Handvoll Menschen davon vorgeschwärmt und unter anderem dies hier geschrieben:

"Seine Fähigkeit, ein Stück von sich selber zu nehmen, in eine fiktive Figur zu übertragen, sich dieser dann zu nähern und eine so krasse und schwierige Botschaft zu transportieren mit Szenen, die unter die Haut gehen und auch echt ein Seelenstriptease sind, ist wirklich bemerkenswert. Das hat in der deutschsprachigen SF meiner Meinung nach sonst keiner drauf. Ich bewundere das, wenn ich auch trotzdem noch genug zu meckern habe."

"Der kann das. Der kann über echte Menschen schreiben und nicht nur über Ideen."

Meiner Meinung nach ist das inzwischen fast sein Alleinstellungsmerkmal.

Ich hoffe sehr, dass ich bald wieder eine neue Novelle von ihm lesen kann. Aber ich habe ja zum Glück noch nicht alle alten durch, wobei, den Band "Die letzten Tage der Ewigkeit" habe ich schon vor Monaten gelesen.

Rezeption

Hier wird zumindest darüber gesprochen, Thread im SF-Forum.

Diversität

Mir war schon einmal aufgefallen, dass in der NOVA ein sehr großer "Herrenanteil" veröffentlicht. Auch das NOVA Team hat das bemerkt.

 

Ich erkenne den Wunsch, das zu ändern. Erstens haben sie Marianne Labisch mit ins Team genommen - nicht nur, dass sie eine Frau ist, sie ist auch eine äußerst fähige und erfahrene Lektorin (siehe ihre Tätigkeit für das Zwielicht-Magazin) und hat bereits sehr gute und hochwertige Anthologien herausgegeben, auch im SF-Bereich.

 

Zweitens fordert nicht nur Marianne direkt dazu auf, dass doch Frauen ihre SF-Kurzprosa einreichen mögen, sondern es wurde auch die Story von Maike Braun ganz an den Anfang gesetzt und ihr geht ein respektvolles Vorwort voraus, das den Einfluss einiger SF-Autorinnen auf das Genre betont.

 

Ich als Leserin freue mich, demnächst in den NOVA Ausgaben mehr Prosa von nonbinären Personen und Frauen zu lesen.

 

Den Elefanten im Raum möchte ich nicht ignorieren. Dirk Alt hat eine Geschichte beigesteuert und in der Vita wird seine Tätigkeit für die rechte Zeitschrift Sezession ausdrücklich erwähnt. Es wurde in der Vergangenheit darüber bereits gesprochen und viele haben ihre persönlichen Schlussfolgerungen daraus gezogen. Ich selber gehe vorerst so vor, dass ich die NOVA weiterhin lese, aber - sollten Geschichten von Dirk Alt dabei sein - werde ich diese in meiner Rezension nicht besprechen.

Michael Haitel hat mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zukommen lassen, außerdem schätze ich seine Arbeit und auch die von Marianne und kann mir nicht helfen, auch Michael Iwoleit zu bewundern, auch wenn ich mir an dieser Stelle persönlich wünsche, er hätte anders entschieden.

Harte Fakten

Titel NOVA 31: Magazin für spekulative Literatur 
Verlag p.machinery 
Rezensionsexemplar ja, danke dafür 
Erscheinungsjahr 2022 
Seitenzahl 440 
Anzahl Geschichten 10 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1491695437098766336 
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Kommentare: 1
  • #1

    Michael Iwoleit (Donnerstag, 10 Februar 2022 14:16)

    Hallo Yvonne, ich habe gerade Deine Rezenion von Nova 31 und Deine lobenden Worte zu meiner neuen Novelle gelesen. Im SF-Netzwerk bin ich nicht mehr aktiv, daher auf diesem Wege noch eine Anmerkung: Die Novelle wurde ursprünglich auf Englisch geschrieben. Die englische Fassung ("Letters to a Non-Existing Wife") wird noch in InterNova erscheinen, unserem internationalen Schwestermagazin, das bald wieder gestartet wird (drei Online- und eine Printausgabe pro Jahr). Ich glaube, die englische Fassung ist sogar noch ein Stück besser, hat mich dafür aber auch extreme Anstrengungen und etwas zwischen 200 und 400 Arbeitsstunden gekostet. Wenn Du magst, schicke ich Dir die englische Fassung gern mal zu*. Könnte interessant sein. Schöne Grüße, MKI
    * Adressen auf meiner Homepage mki.worldculturehub.net