Inhalt
Mein derzeitiges Projekt - mehr anglo-amerikanische (und überhaupt internationale) Kurzgeschichten lesen. Das geht natürlich nur, wenn sie Englisch sind, denn andere Fremdsprachen beherrsche ich nicht. Übersetzt wird es ja selten.
Zuerst habe ich mir ein paar Magazine und die Hugo Awards vom letzten Jahr vorgenommen. Oft sind dank Ebooks die Geschichten sehr einfach und günstig zu haben, hier habe ich 49 Cents gezahlt.
Die Story erinnert stark an Stephen Kings Prosa, was a) daran liegt, dass ich außer King fast keine Dark Fantasy kenne und b) daran, dass auch Pinsker sehr nah an ihre Figuren herangeht und dafür sorgt, dass ich stark an den Charakteren interessiert bin, bevor die Rätsel und das Unheimliche beginnt. Außerdem (und das ist eine weitere Parallele zu King) kommt der Horror erst allmählich und subtil und - und auch das erlebe ich bei King oft - der Schluss nimmt mich nicht ganz so mit, wobei das ein generelles Problem von mir mit den meisten Horror-Geschichten sein könnte.
Zum Inhalt
Stella ist bei ihren Eltern in ihrer Heimatstadt, als sie erfährt, dass der ältere Bruder Denny ihres alten Schulfreundes Marco gestorben ist. Sie und Marco waren zu Schulzeiten in derselben Clique und eng befreundet, haben sich aber aus den Augen verloren. Das meiste erfährt man viel, viel später, wie bei einer richtig gut komponierten Story üblich.
Stella geht zur Beerdigung, trifft dort auf Marco und seinen Ehemann Justin und bietet Marco an, ihm beim Ausmisten von Denny Haus (das Elternhaus der beiden) zu helfen.
Der verstorbene Bruder Denny jedoch war ein schlimmer Messie. Das wird extrem gut beschrieben und gezeigt, auch olfaktorisch (leider). Beim Ausmisten erwähnt Stella, die eine notorische Lügnerin ist, eine "Onkel Bob Show", ist aber sicher, dass sie sich das gerade ausdenkt. Zu ihrer Überraschung erinnert sich auch Marco. Kurz darauf finden sie haufenweise VHS Kassetten der Show, Denny war als siebenjähriger dort oft im Publikum.
Die Onkel Bob Show ist gruselig, aber zunächst auf subtile Art. Stella hat beim Anschauen nicht den Eindruck, dass die Geschichten, die er dort erzählt, irgendwie kindertauglich sind. Dabei ist er umringt von Kindern, die aber mehr spielen als ihm zuhören. Ist diese Sendung überhaupt für Kinder?
Es dauert nicht lange, da macht Stella ein paar wirklich bemerkenswerte Entdeckungen, was die Show betrifft und auch ihr eigenes Leben und das würde ihr spoilern, daher dazu mehr unten nach der Spoilerwarnung.
Romanfiguren
Das ist die Stärke der Story. Alle wirken so lebendig und extrem echt. Mit Vergangenheit (auch wenn vieles im Dunklen bleibt), einer Vorgeschichte, einem Charakter. Vieles wird nur angedeutet. Stella, Marco und acht andere junge Leute gingen damals nicht mit Date zur Prom. OK, Marco ist schwul und damals offenbar noch nicht geoutet, aber was war mit den anderen? Hatten sie keine Lust drauf? Kein Date? Was genau war das für eine Clique?
Was genau stimmte mit Denny nicht? Viel wird beschrieben, kaum etwas gesagt, vieles bleibt meine eigene Rezeption. Die Figuren sprühen vor Leben, obwohl es eher ruhig erzählt ist.
Stella lügt quasi gewohnheitsmäßig. Wir erfahren das so nebenher, Marco fragt sie, was sie so treibt und wo sie lebt und sie antwortet:
"Chicago. Divorced. One son, Cooper. I travel a lot. I work sales for a coffee distributor."
Even as she spoke, she hated that she'd said it. None of it was true. [...] If he had asked to see pictures of her nonexistent son Cooper, she'd have nothing to show. Not to mention she had no idea what a coffee distributor did".
Später stellt sich heraus, dass wohl nicht einmal Chicago stimmt. Es wird auch angedeutet, dass sie das Problem mit der Wahrheit wohl auch früher hatte und sie und Marco daher den Kontakt zueinander verloren hatten. Ich bin sicher beim zweiten Lesen findet man mehr Hinweise.
Die Mutter von Stella ist ja nur eine Nebenfigur, aber in der Unterhaltung mit Stella wird schnell klar, dass die Autorin sich zu ihr eine Menge gedacht hat. Als Mutter von zwei recht jungen Kindern kann ich mich recht schnell in Stellas Mutter hineinversetzen, wie das Leben damals für sie gewesen sein muss, als Stella ungefähr sieben Jahre alt war. Sie sagt über einen Moment, in dem Stella sicher betreut und in guter Sicht war und die Mutter aber eben auch nicht weg konnte und Kaffee mit anderen Müttern trank:
"It was the only time in my week when I didn't feel like I was supposed to be doing something else."
Wenn ich mich so umschaue: Es gibt immer so Massen an Dingen zu tun, sobald Kinder im Haus sind und in den Achtzigern war das sicher nicht besser. Dieser Satz hat für mich ausgereicht, dass ich komplett auf ihrer Seite war.
Wer mehr Eckdaten zu den Leuten will, muss hier aufmerksam sein. Stella (und so wohl auch Marco) sind 1975 geboren, Denny offenbar also 1973. Die Story scheint ungefähr jetzt zu spielen, also sind alle Mitte bis Ende vierzig. Recht jung zum Sterben also, was Denny betrifft.
Sprache und Art des Erzählens
Wenn ich King in der Übersetzung lese, fällt mir immer auf, wie viele Phrasen er doch benutzt. Auf Englisch fällt mir das nicht so auf. Ok, ich habe diese Story auf Englisch gelesen (übersetzt ist sie bisher nicht), aber ich glaube, sie kommt ohne Phrasen aus.
Ich finde sie sprachlich sehr gut, auch die Details sind toll.
Z. B. kommt Stella zum Ausmisten von Dennys altem Haus in alter Kleidung, u. a. einem "baggy, age-stretched T-shirt from the Tim Burton Batman". Und dann hat das Shirt bzw. der Film sogar noch eine Bedeutung für sie und Marco, was aber erst später klar wird.
Während sie Ausmisten, findet Stella dann kaputte Dinge, wie Porzellan und sie wirft die Dinge weg, ohne sie Marco zu zeigen und ist froh, dass er sie nicht zerstört sehen muss, denn: "The items would jog memories; their absence would not".
Das Ausräumen des Hauses ist insgesamt auch super beschrieben, ich kann direkt sehen, wie Marco die Kisten aufstellt und Dinge in "keep", "donate" oder "sell" packt.
Die Onkel Bob Show, die der Story-Aufhänger ist, wird sehr cool zusammengefasst:
That's deeply strange, even for the eighties
Stella sucht online nach Hinweisen auf die Show und findet nichts.
"I tried looking it up on IMDB, but there's no page. Not on Wikipedia, either. Our entire world is fueled by nostalgia, but there's nothing on this show. Where's the online fan club, the community of collectors? Anthing."
Einige Seiten später, zum gleichen Thema nothing online about the show:
"In the era of kittens with twitter accounts and sandwiches with their own Instagrams and fandoms for every conceivable property, it seemed impossible for something to be so utterly missing"
Was für ein toller Satz mit diesem Abschluss "utterly missing", herrlich!
Schönes anderes Detail: Der Vater von Stella ruft mittels eines "Dinner gong" zum Essen: "a custom her parents found charming and Stella had always considered overkill in a family small as theirs."
Der Blick fürs Detail ist hingegen etwas, das ich sehr charmant finde: "Their glasses were still mostly full, the melting ice having replaced what they's sipped."
Hier wird man als aufmerksame Leserin auch sehr belohnt. Der Theme Song von Uncle Bob's Show klingt dem der "Partridge Family" offenbar sehr ähnlich, was Stella erst bemerkt, als ihre Mutter eine Art Crossover der beiden Themes summt.
Später bemerkt der Archivar gegenüber Stella: "It's a good thing nobody knows about this show or they'd have been sued over this theme song." (Als Nicht-Ami musste ich mir den Song erst anhören, OMG)
Buchaussage
Darüber habe ich schon nachgedacht und die A-Story ist einigermaßen klar:
Was ist los mit Onkel Bob und seinen Geschichten über die Kinder aus dem Publikum? Das ist das Rätsel und es hat einen extrem guten Aufhänger, nämlich das Leben von Denny, Marcos großem Bruder.
Aber um Denny geht es natürlich nicht, es geht um Stella, aus deren personaler Sicht auch erzählt wird. Es ist schon erstaunlich, dass sie diejenige ist, die erzählt und man nichts, aber auch gar nichts substanzielles über sie erfährt.
Am Ende wird alles in Frage gestellt, was wir je über sie zu wissen glaubten. Das ist die eigentliche Story, die B-Story, aber es ist schwer, sie in Worte zu fassen.
Ziemlich beeindruckende Story, auch wenn ich am Ende etwas ratlos war.
Wie bin ich zu dem Buch gekommen?
Hugo-Award! Und, wie ich aber erst später feststellte, auch der Nebula-Award.
Und mein Vorsatz, mehr aktuelle internationale Kurzprosa zu lesen.
Über die Autor:in
Sie hat Prosa in einigen der Magazine, die ich gekauft habe, also werde ich mehr Geschichten von ihr lesen.
Diversität
Marco, die zweite Hauptfigur, ist seit fünfzehn Jahren mit Justin verheiratet. Seine Sexualität wird nur in einem kurzen Gedanken der Hauptfigur wichtig, als sie sich daran erinnert, wie er gekichert hat, als sie mal herummachen wollten.
Es gibt eine Trans-Person, die am Rande auftaucht und später noch einmal erwähnt wird und das ist herrlich eingeflochten- es ist davon die Rede, dass die Person früher einen anderen Namen hatte. Komplett sicher bin ich mir auch nicht (immerhin ist das für mich eine Fremdsprache), aber es kam mir so vor.
Ganz nebenher ist auch offenbar der Archivar, den Stella später aufsucht, kleinwüchsig, was ebenfalls ziemlich nebenbei, aber eindeutig eingeführt wird.
Harte Fakten
Titel | Two Truths and a lie |
geschrieben von | Sarah Pinsker |
Verlag | Tor Books |
Erscheinungsjahr | 2020 |
Seitenzahl | 34 |
Original Twitter Tweet | https://www.rezensionsnerdista.de/2022/01/27/two-truths-and-a-lie-von-sarah-pinsker/ |
Spoiler Warnung
Nicht jede:r geht nun hin und liest die Story, sie ist zwar sehr günstig und leicht zu kriegen, aber eben auch auf Englisch und nicht jede:r will oder kann das.
Es ist eindeutig kein SF, die Geschichte spielt im Hier und Jetzt und ich erkenne auch keine alternative Realität, auch wenn die "Uncle Bob Show" wohl eindeutig erdacht ist.
Sie wird als Dark Fantasy beschrieben und es dauert sehr lange, auf Seite 24 von 39 erst wird ein übernatürliches Element eingeführt.
Uncle Bob erzählt eine Geschichte über einen Jungen, der gern schnell fuhr. Im Publikum befindet sich ein Junge, Dan Heller, der sich später in einem Autorennen zu Tode fuhr.
Diese Art Geschichten häufen sich. Es gibt auch eine über Stella, die recht beängstigend ist, in der es darum geht, dass sie lügt und sich selber neu erfindet, sich dabei selbst verliert und eines Tages nach Hause kam ohne sich selber und niemand es bemerkt.
Denny hat damals im Publikum seine Geschichte gehört, in der es darum ging, dass er zu rasch zu groß wird, seinen Bruder beschützt und dass ihm nie ein Ding gehören wird. Er hat offenbar massiv dagegen gearbeitet, seinen Bruder komplett sich selber überlassen und wurde ein Messie, dem hunderttausend Dinge gehörten.
Es gibt auch eine Geschichte mit Uncle Bob selber, da wechselt er in die Ich-Perspektive beim Erzählen. Da wird es für mich etwas schwer beschreibbar, weil es nicht ganz gut zu packen war. Doch auf die Spuren dieser Geschichte begibt sich Stella am Ende und landet offenbar in dem Cottage, in dem Bob mal gewohnt hat. Hier verlieren sich die klaren Fäden der Geschichte und sie wandert im sehr vagen phantastischen Bereich, der mehr Interpretationsmöglichkeiten bietet. Bob selber kommt nicht in Persona vor, was mich irgendwie überrascht hat.
Die Geschichte bietet mir die Möglichkeit, dass Stella tatsächlich gar kein Leben hat, irgendwann nach dem College zurück zu ihren Eltern gegangen ist und dort nun wohnt, beziehungslos und berufslos. Sie hat ihre Lügen über ihr Leben, die sie allen erzählt, selber geglaubt. Wer ist sie wirklich? Hatte sie überhaupt ein Leben? Wer sieht sie? Sieht sie sich selber?
Wenn man das Titelbild betrachtet, scheint ja auch einiges in der Schlussszene mit dem Hügel hinter dem Cottage los zu sein, der als Motiv auch früh auftaucht, verstärkt wird und auch am Gipfel der Story erneut zum Tragen kommt. Ist sie dieser Hügel? Wird sie dieser Hügel? Verwächst sie mit ihm?
Ich komme ja nicht gut klar, wenn es zu phantastisch wird, trotzdem halte ich diese Geschichte für absolut großartig. Zumal das sehr Phantastische auch nur die letzten ein bis zwei Seiten betrifft.
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