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Gastrezension: Koloniewelten-Bände von Galax Acheronian

Überblick über den gesamten Zyklus

Dies ist eine Gastrezension von Peter Poppe - vielen Dank dafür! 

 

Eine kleine Werkschau - oder eine Halbzeitbilanz

 

Um was geht es in diesem Zyklus:

 

→     zeitlich befinden wir uns in den Jahren nach den Ölkriegen, die eine      direkte Fortführung des „Krieges gegen den Islam“ darstellen;

 

→     die Erde und ihre Kolonien fallen einer Partei anheim, die einen        globalen Gottesstaat christlich-fundamentalistischer Prägung errichtet;

 

→     trotz der Möglichkeit der Kolonisation fremder Sonnensysteme       werden die Repressionen auf das Individuum immer stärker; Frauen-         und Menschenrechte werden negiert, Dissidenten und LGBTQI*-  Personen werden als unerwünscht erklärt und in ein anderes System   deportiert;

 

→     hier beginnt sich eine liberale Gesellschaft zu formieren, die diametral        zu den mehltauartig verkrusteten Verhältnissen auf der Erde aufbaut;          Wissenschaft und Humanismus stehen im Vordergrund der dortigen     Entwicklung;

 

→     der Autor wirft Schlaglichter auf die beiden Gesellschaftsformen; deren inhärente Fehlerquellen lässt er dabei nicht unberücksichtigt.

 

Interesse geweckt?

 

Gebäck und Tee stehen bereit?

 

Let’s go!

 

Dem geneigten Leser vor Allem von Kurzgeschichten deutscher Zunge ist Galax Acheronian ein durchaus geläufiger Name. Dass er allerdings auch ein profilierter Schriftsteller längerer Erzählungen ist, erscheint aufgrund der schier unglaublichen Menge erstgenannter Kurztexte ein kaum glaubliches Faktum. Allerdings ist er in der Lage, auch noch eine Romanserie zu Papier bzw. auf den Bildschirm zu bringen, die in ihrer stringenten Dichte ihresgleichen sucht.

 

Ich gehe hier auf die bisher erschienenen Romane 1 bis 6 ein, ohne eine allzu strenge Nacherzählung des Inhalts zu beabsichtigen: dazu sind die Handlungsstränge bis in die Nebenschauplätze zu sehr miteinander verstrickt, was im Falle des zu begutachtenden Sujets wohl bedeutet: der Autor hat sein Handwerk gelernt.

 

Doch um was geht es überhaupt?

 

Die Erde hat im späten 21. Jahrhundert nach dem Mond den Mars kolonisiert, auf dem in der Hauptkolonie Red City zwei Unternehmen um die Vormachtstellung in der Gesellschaft kämpfen. Die erwähnte amerikanische Gesellschaft ist von einem großen bewaffnet geführten Konflikt, den so genannten Ölkriegen, extrem geschwächt. Dieses erfährt man aus einem Viertelsatz über den Schwund des Vertrauens in die beiden traditionellen Parteien (Republikaner und Demokraten). Diese Ölkriege sieht der Autor als unmittelbare Folge des Kampfes gegen den Islam, der schon heute geführt wird bzw. unter den Präsidenten Bush – also Senior und Junior – geführt wurde. Der aktuelle Bezug wird hierbei sehr bewusst gewählt, da dieser Konflikt ein Ziel im Auge hat und es meilenweit verfehlt: nicht die in weit überwiegender Anzahl friedliebenden Muslime sind im Visier, sondern der zum Faschismus pervertierte Islamismus. Durch die Bombardierung ganzer Wohnviertel durch den ach so aufgeklärten Westen – oder auch lediglich von ihm finanzierte Warlords – schaffen sich die Industrienationen exakt die Monster, die sie zu bekämpfen vorgeben. Die sogenannten militärischen Siege über die Zivilbevölkerung werden dem eher kurzlebig denkenden Publikum als Triumphe über den Islamismus verkauft. Religiöse Verbrämungen wie „Kreuzzug gegen das Böse“ (Zitat Bush jr.) halten den geBILDeten Otto Normalbürger schön bei Stange. 

1. Teilzyklus: "Ein kleiner Schritt"

Bewahren wir uns dieses Bild und wollen wir uns wieder den Erzählungen aus Galax’ Schreibe widmen. Im ersten Roman treffen auf dem Mars der amerikanische Polizist Marek Zintok und Ayasha Surona aus dem besiegten und – wie auch die übrigen erdölexportierenden Staaten -

kolonisierten Saudi-Arabien zusammen. Sie untersuchen eine Verschwörung bei der die Demokraten unterstützende Sherman-Stiftung Gelder zu Ungunsten des Unternehmens Pandion verschoben hat. Dieser Konzern unterstützt eine ultrareligiös-fundamentalistische Kleinpartei mit Namen National Christian Party (NCP), welche sich zum Ziel gesetzt hat, den gesamten Planeten nebst seinen Kolonien zu christianisieren und andere Glaubensrichtungen als zu vernichtenden Irrweg darzustellen.

 

Was wie ein Buddy-Plot im Sinne der berühmten Komödien der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts beginnt, wirft ein immer stärker werdendes mögliches Schlaglicht auf die Verhältnisse auf unserem Planeten in noch nicht einmal 70 Jahren. Zintok, ein tiefgläubiger NCP-Anhänger, wird von Surona über die wahren Verhältnisse aufgeklärt. Diese trägt durch verschiedene Kampfhandlungen auf der Verliererseite und fortgesetzte Tätigkeiten im Widerstand gegen die nun ihr Land ausbeutenden Siegermächte mehrere schwere Verletzungen davon, unter anderem einen metallischen Hautersatz im Gesicht, der sie in den Augen Zintoks als unattraktiv erscheinen lässt. Jedoch ist er von Suronas Gerechtigkeitssinn fasziniert, und erkennt erstaunt, dass sie dem ideologischen Gegner ohne Zögern das ihm zustehende Recht zubilligt. Dieses legt den Schluss nahe, das Zintok hier zum Wohle seiner Partei genau das Gegenteil getan hätte. Diese Bigotterie soll die Politik des um sich greifenden Regimes über Jahrhunderte prägen.

 

Auch wird bekannt, dass Ayasha einen Sohn hat, der eine seltene Erbkrankheit besitzt und den Großteil seines bis dahin elf Jahre zählenden Lebens im Krankenbett verbringen musste. Ob diese Krankheit ein Zufall ist oder mit den in den Kampfhandlungen verwendeten bzw. entstehenden Chemikalien in Zusammenhang steht, beleuchtet der Autor nicht; er will, dass der geneigte Leser sich selbst ein Bild anfertigt. Allerdings kommt der geneigte Leser sehr schnell auf eine juvenile COPD, gegen die zu dem Zeitpunkt der Drucklegung der Romane noch wirklich nichts gefunden wurde.

 

Dieser Sohn, Farhod genannt, wird in der Romanreihe eine mehr als tragende Rolle spielen.

 

Der überwältigende Erfolg des Unternehmens Pfandion, der durch den selbstverleugnenden Gerechtigkeitssinn Ayasha Suronas herbeigeführt wird, ist auch der Treibsatz für die Akzeptanz und schließlich der Wahlerfolge der NCP, die zunächst in den USA einen Staat nach dem anderen für sich gewinnen kann. Sie steigt von einer Kleinpartei zur stärksten durch die Bevölkerung getragenen politischen Bewegung auf. Zur gleichen Zeit finden regelrechte Pogrome gegen in den USA lebende Muslime statt, danach gegen die LGBTQI*-Community sowie gegen Atheisten. Frauen werden in einer Art gesellschaftlichen Backlash wieder von den im Zuge der Emanzipation erreichten Stati zurückgedrängt.

 

Es wird bekannt, dass ein erstes Projekt zur Kolonialisierung der galileischen Monde scheitert. In den folgenden Romanen wird dieses Verschweigen zu einer vorgeblichen Nichtexistenz: es wird durch Pfandion behauptet, dass es dieses Projekt niemals gab. Diese Verleugnung wird durch die NCP übernommen, um die Bevölkerung ruhig zu halten.

 

Dieses findet immer deutlichere Zustimmung bei Zintok, allerdings nicht bei seiner Frau, deren sowieso nie von Erfolg geprägte Ehe in die Brüche geht. Zintok findet Trost bei einer Barkeeperin, die ihm auch intellektuell ebenbürtig ist. Mit ihr zusammen ziehen sie einen Sohn groß, der ganz nach dem Vorbild des Vaters auch Polizist werden soll. Die Ehe hält auch noch, als selbst die Mutter aufgrund des gesellschaftlich stark in die konservativ-religiöse Ecke geratenen Drucks ihren Job aufgibt. Zintok nimmt sogar ihren Namen an und heißt nun Le Solda.

 

Der gemeinsame Sohn, Christian, spielt ebenso wie Farhod eine tragende Rolle in der Entwicklung der Gesellschaft. Die beiden werden sich nie persönlich treffen. Dies liegt unter anderem daran, dass Farhod in der Aussicht auf eine Heilung seiner chronischen Krankheit in der Zukunft in eine Kryokapsel gelegt wird. Dieses geschieht mit der Maßgabe, dass er nie richtig aus der Pubertät herauskommen wird. Diesen Preis zahlt Surona in der Hoffnung auf eine abschließende Heilung ihres einzigen Sohnes.

 

Diese Hoffnung gibt ihr auch die Kraft, weiterhin gegen das immer weiter um sich greifende repressive System zu agieren. Inwieweit sie hier von ihrem ehemaligen Partner geschützt wird, lässt sich nicht sagen, aber als eine Heilung in Aussicht steht, fällt eine wichtige Begründung für den Schutz von Ayashas Leben weg. Da die Überwachung immer lückenloser wird und auch ohne Skrupel auf Vorratsdatenspeicherung zurückgegriffen werden kann, wird ihr ein lässliches Fehlverhalten zum Verhängnis. Man richtet sie im Beisein des soeben erwachten und genesenen Sohnes.

 

Eine weitere, sehr umfangreiche Rezension des ersten Teils findet ihr übrigens hier. 

2. Teilzyklus: "Ein Großer Schritt"

Da der Mars für die Erde die letzte Kolonie zu werden scheint, überlässt man Pandion die Regierungsgeschäfte und legt als Zivilregierung eine klerikalfaschistische Diktatur zugrunde, die allerdings noch nicht bei allen angekommen ist und noch erhebliche Startschwierigkeiten aufweist. Daran ändert auch die Begegnung mit den I’to, einer außerterranischen Rasse nichts, deren Treibstoff, das energiespeichernde Chrys, der Menschheit den Sprung außerhalb ihres Sonnensystems ermöglicht. Mehrere Versuche, diesen Stoff nutzbar zu machen, enden in mehr oder minder schweren Katastrophen, weil die Terraner zu arrogant sind, einen Technologietransfer mit den Außerterranischen zu starten. In der Folge kommt es auf dem Mars zu einer verheerenden Explosion, in der Christian Le Solda, der sich zu Höherem berufen fühlt, eine Paraplegie erleidet. Sein Vater versetzt ihm in seiner Not eine Spritze mit einem Abfallprodukt der Chryssynthese, dem LCD, auf das der Sohn gut anspricht. Im krassen Gegenteil ist er empfänglich für den Stoff, der ihn in die Gefühlswelt seiner Gegenüber (man beachte das Plural!) eindringen lässt. Ohne es zu wollen, hat Marek aus seinem Ableger eine allmächtige Waffe geformt. Christian schwingt sich auf zum charismatischen religiösen Führer der Partei (mit anderen Worten: er hinterlässt ziemlich viele Leichen auf seinem Weg) und baut die Partei zu einem weltumspannenden Phänomen aus. Einen Freund von der Erde Russel Noah, mit dem Christian eine homoerotische Beziehung pflegte, lässt er aufgrund seiner Verletzungen, die auch Christians Genitalien vernichteten, zur Heterosexualität „umerziehen“. Hier wird Noah später einmal behaupten, dass Christian ihn zwar geheilt hätte, mit dieser Heilung aber gleichzeitig unglücklich gemacht. (Hier eine Anmerkung des Autors dieser Zeilen: es steht schon länger außerhalb jeglicher Fragestellung, dass Homosexualität heilbar wäre. Homosexualität ist weder anerzogen noch eine Krankheit, sondern eine Form der Anziehung zwischen zwei Menschen. Es bedurfte den Anstrengungen eines konservativen Gesundheitsministers, diese Praxis zu verbieten. Ich will mir nicht ausmalen, was dieser Umstand für diese unsere Gesellschaft bedeutet...)

 

Christian baut die Gesellschaft zu einem Kastensystem um: es hat Gültigkeit dort, wo die NCP mit ihrer Unterstützung durch den ihr ergebenen Klerus (oder den Ersatzen des Klerus durch NCP-Leute – hier bleibt der Autor ganz bewusst im Unklaren) herrscht. Dieses sind immer mehr Länder, in denen die Bildungschancen nach Reichtum der Familien bzw. deren soziopolitischen Einfluss vergeben werden: die Mehrheit bildet – wie sollte es anders sein! - die dritte, unterste Kaste, die nur eine sehr frugale Grundbildung und eine äußerst dürftige Fachausbildung erhält – diese wird im Laufe der Geschichte ersetzt durch einen jederzeit löschbaren Speicher, so dass der Arbeiter in sehr vielen Arbeitssituationen eingesetzt werden kann.

 

(Hier spielt der Autor mit der Erwartung der Pessimisten, dass sich evangelikale Gruppierungen in politische Entscheidungsprozesse einmischen: das extremste Beispiel ist hier wohl der derzeitige Staatspräsident Brasiliens Jaír Bolsonaro, der seine Machtbasis in den pfingstgläubigen Erweckungsbewegungen seines Landes findet. Von den USA unter Trump ganz zu schweigen, obwohl sich der Autor vorm Bildschirm nicht sicher ist, ob Trump die Kirchen nur nutzt, um seine Machtbasis zu stärken; Bolsonaro dagegen ist sehr tief in diesem Glaubenskonstrukt verwurzelt. Ähnliche Konstrukte sehen wir auch in anderen süd- und mittelamerikanischen wie auch afrikanischen Ländern. - Anm. d. Autors)

 

Es ist bei näherem Hinsehen wenig verwunderlich, dass Marek, der Vater, sich von der selbst zugeschriebenen Allmacht seines Sohnes Christian lossagt. Marek, tiefgläubig, aber aufgrund seiner Erfahrungen mit Ayasha Surona, welche ihr Leben den Frauen- und damit Menschenrechten gewidmet hat. Kein kritikloser Parteianhänger, ist der Vater hochenttäuscht vom Machtstreben seines Sohnes und wendet sich seinem privaten Glauben zu, jenen Glauben, den er für richtig erkennt – und damit vom Regime ab. Er stirbt schließlich im Glauben an eine Heilung seiner Infektion durch göttliche Intervention; der Autor lässt offen, ob er sein Leben nicht in vollem Bewusstsein hergegeben hat, um so zum letzten Mal gegen seinen Sohn zu opponieren.

 

Zu gleichen Zeit werden die Pogrome in den Ländern, in denen die NCP herrscht fortgesetzt und intensiviert. Es werden auch Unangepasste und Dissidenten verfolgt, die sich das Recht herausnehmen, abseits der Behelligung durch die Partei an den alten – eigentlich fortschrittlichen – Werten festzuhalten, klassenübergreifend auszubilden, Frauen wie Männer gleichberechtigt ansehen etc. 

3. Teilzyklus: "Ein Fremder unter Millionen"

Da man durch das Chrys auch die Möglichkeit hat, über sein eigenes Sonnensystem weitere Welten zu entdecken, werden sogenannte Planetensäuberungen angesetzt. Die NCP herrscht praktisch auf der gesamten Welt, so dass sie Leute auf interstellare Frachter verkarren kann und auf einem Planeten ihrem Schicksal überlassen kann. Dies stellt eine ethnische Säuberung dar, und der Vergleich mit den Deportierungen von unliebsamen Zeitgenossen, vor Allem aber der Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Künstlern, Intellektuellen, you-name-it im Dritten Reich, drängen sich nicht nur auf, sondern sind ein no-brainer.

 

Ebenso wenig Zweifel lässt Acheronian an den sozioökonomischen Folgen einer solchen Politik: durch den brain drain verdummen die Terraner zusehends und müssen nun mit nach außen, auf Minderheiten gerichteten Gewalttaten bei Laune gehalten werden. Auch eine Parallele sind die Brandmarkungen der Terraner für diese Menschen, die entweder „verrückt“ oder „pervers“ sind (im Umkehrschluss kann man behaupten, eine Gesellschaft, die genügend verrückt ist und auch alternative Lebensweisen zulässt, ist auch sozioökonomisch reicher … Erkenntnisse zum Abhaken, es existieren historische Beispiele … Mr. Crisp, ein Fall für Sie!).

 

Im Zuge dieser Deportationen, die auch vor Kindern und Jugendlichen nicht halt machen (tja ja, Kindermund tut Wahrheit kund…), taucht auf dem Zufluchtsort der Ausgestoßenen, Anaximenes, ein junger Mann auf, der die eingeschworene Gemeinschaft der Outcasts auf die Nagelprobe stellt.

(Auch hier wieder ein gelungener Seitenhieb auf hiesige Verhältnisse des beginnenden dritten Jahrtausends: Anaximenes war der griechische Philosoph, dem man nachsagt, er hätte behauptet, die Erde sei eine Scheibe.

 

Auf Anaximenes organisieren sich die Ausgestoßenen in einer Art kommutaristischen Community, bei der jeder werden kann, was er möchte, wenn er nur seinen Teil zur Gesellschaft beiträgt. Brandon, der auf der Erde noch den Namen Brian trug, entzieht sich zunächst proaktiv den Eingliederungsversuchen durch diese Gemeinschaft. Dabei erfährt er Unterstützung vom Techniker der Gemeinschaft, einem gewissen Farhod Surona, der für sich nach dem Mord an seiner Mutter keinen Platz mehr auf der Erde fand

 

Brandon sieht nicht ein, warum er ausgerechnet in einer ach so freien Community einen eingeredeten Job machen soll (zu dem er sich auch gar nicht befähigt fühlt), und versucht, über eine kleinere Siedlung – New London – wieder auf die Erde zurück zu kommen. Dabei trifft er nicht nur auf ein wildes Tier, dass er zu zähmen in der Lage ist, sondern auch auf einen Agenten der Erde. Er stellt sich als Russel Noah vor und beteuert, Meldungen an die Erde so geschickt zu fälschen, dass sein Heimatplanet, auf den er keine Rückkehrmöglichkeit sieht, das Interesse an Anaximenes total verliert – ihm wird durch die anaximenischen Gesellschaft nicht geglaubt und es kommt zum ersten Prozess gegen einen Bewohner dieses Planeten: er wird dazu verurteilt, auf den Feldern zu arbeiten. Wenig später liest man seine Dateien aus und man musste Russel Noah Recht geben.

Auch hier lässt der Acharonian dem Leser die Wahl, ob Noah die Falschmeldungen aus Hochachtung, vielleicht sogar Respekt gegenüber der anaximenischen Gesellschaft an die Erde verschickt hat, oder ob er vor allem Christian Le Solda und seinen Spießgesellen eine auswischen wollte.

 

Da Noah trotz der erdrückenden Beweise und der weggefallenen Begründung der Verurteilung belässt man ihn auf den Feldern, da er gute Arbeit verrichtet. Brandon erkennt dieses als Zwangsarbeit und stellt die anaximenische Gesellschaft in ihrer selbstgefälligen, potenziell geheuchelten Liberalität in Frage. Er nimmt seinen gezähmten Landog (eine Mischung zwischen Ratte und Hund) und geht als für sich freier Mann aus der Stadt heraus. Aus ihm wird der bedeutendste Taxonom der Geschichte des Zufluchtsplaneten. So hat sich die Programmatik der anaximenischen Gesellschaft wieder bewahrheitet: Du kannst werden, was Du willst.

 

Farhod Surona wird wenig später der erste Präsident auf Anaximenes. Er ist so beliebt, dass man sogar seine Spracheigenheiten kopiert. An seiner Seite steht die digitale Aufzeichnung des Wissens seiner Mutter Ayasha, die dem Bastler Farhod in allen Lebenslagen hilft und nicht selten auch wie eine Mutter milde tadelnd reagiert.

 

Farhods Ziehsohn (einen Eigenen kann er nicht bekommen, da er körperlich immer noch in der Pubertät steckt, also zeugungsunfähig ist), Steven Harding, verwirklicht seinen Traum und nimmt am anaximenischen Raumfahrtprogramm teil. Seine Eltern, ein schwules Paar, starben bei der Deportation. 

 

4. Teilzyklus: "Erstkontakt"

In den folgenden Romanen wird der Unterschied zwischen den  verschiedenen Systemen auf Anaximenes auf der einen und der Erde auf der anderen Seite verdeutlicht. Der Autor bedient sich dabei des Kniffes, die folgenden Geschichten in den Mikrokosmoi von Raumschiffen spielen zu lassen.

 

Raumschiffe stellen auch die einzige Möglichkeit, dem NCP-Regime zu entkommen: obwohl öffentlich wenig darüber bekannt wird, existieren Abertausende Terraner, die vor der auf ihrem Planeten herrschenden Regime auf vermeintlich sichere Planeten fliehen oder den Tod im freien Weltraum den alles erstickenden Repressalien der Erde bzw. ihrer Regierung vorziehen. In der nichtfreien Presse (in Deutschland durch die Publikation „SpiegelBild“ vertreten, ein genialer Schachzug des Autors, da der Spiegel kurzzeitig bei Axel Springer gedruckt wurde: beide Publikationen sind immer noch Teil des derzeitigen Redaktionsnetzwerks Deutschland)

 

Die Erde systematisiert sich immer weiter auf ein hochmittelalterliches Niveau, in dem „das Andere“ ausgeschlossen, verteufelt und schließlich aus den Augen geschafft wird. Frauen wird per se die Fähigkeit zum logischen Denken und damit die Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs genommen. Diese finden in der Öffentlichkeit nicht statt – dabei war es ja bekanntlich eine Frau, die der NCP und ihrem Geldgeber Pandion die Möglichkeit eröffnet hat, auf der Erde ihre Schreckensherrschaft zu errichten. Eine weitere Kontradiktion dieses fundamentalchristlich-faschistoiden Verhaltens ist die Tatsache, dass die NCP-Regierungen zur Aufrechterhaltung ihrer Bestrebungen, das Weltall zu besiedeln, auf den Handel mit den I’to angewiesen sind – es aber verboten ist, überhaupt zu denken, dass Außerterranische überhaupt existieren. So ist die terranische Navy, die sowohl eine Handels- als auch eine Kriegsmarine darstellt, gezwungen, immer wieder auf alte Schiffe zurückzugreifen. Hier wird auch ein Mangel an Innovationen deutlich, der aufgrund des brain drains auf der Erde immer weiter um sich greift: die Intelligenzija ist entweder auf Anaximenes oder tot, die meisten Besatzungsmitglieder werden unter der Jugend der dritten Klasse rekrutiert, die nicht nur ungebildet gehalten werden, sondern aufgrund der Einnahme eines bestimmten, die Pubertät hormonell unterdrückenden Medikaments nicht in die Pubertät gelangen.

 

Dieses Faktum ist eine interessante psychologische Komponente der terranisch-faschistischen Gesellschaft: einerseits will man hiermit verhindern, dass in dieser Gesellschaft prämaritaler Sex vorkommt (nach den Lehren der Staatskirche dient Sex einzig dazu, nachkommen zu zeugen), andererseits dürfte schon beim Kultgründer Christian Le Solda der Wunsch nach möglichst „jungfräulichen“ Knaben geweckt worden sein, ähnlich der Erlebnisse, die er als Junge mit Russel Noah hatte und hiermit eine Sexualität auslebt, die Le Solda niemals anders erfahren durfte. Diese Art von Identitätsdiebstahl wird planmäßig im Alter von 22 Jahren unterbrochen, in dem man Männer und Frauen in sogenannte „Fruchtakademien“ schickt, dieses Medikament bei beiden Geschlechtern radikal absetzt, wobei Sexualdrüsen natürlich ihre Arbeit aufnehmen und schlussendlich Frauen im besten Falle nicht vergewaltigt werden. Gesteuert wird dieses durch Zwangsverheiratungen, die selten auf gegenseitiger Zuneigung, allerdings auf die Produktion gesunder, mit höherer Wahrscheinlichkeit heterosexueller Nachkommen ausgelegt ist. Hierbei soll die Totalüberwachung eine Hilfestellung geben: wer sich ab einem gewissen Alter immer noch mit einem Vertreter des gleichen Geschlechts abgibt, wird registriert und als potenziell homosexuell einer lebenslangen Hormontherapie unterzogen. Der Proband ist dann zwar nur noch bei konträrgeschlechtlichen Menschen zeugungsfähig, hat allerdings in der Regel wenig Lust. Er ist der letzte in seiner Linie, die mit ihm ausstirbt.

 

Hier vermischt der Autor geschickt die Moralpraxis der katholischen Kirche (… es brauchte schon einen Papst Benedikt XVI, um prämaritalen Sex nicht mehr zu verdammen – Anm. des Autors) mit der nationalsozialistischen Praxis des Lebensbornes und den nicht nur in islamischen Gesellschaften immer noch üblichen Zwangsverheiratungen. Dieses ist wohl das stärkste Moment, die moralische Verkommenheit der NCP und des ihm hörigen Klerus zu beschreiben.

 

Seinen schärfsten Ausdruck erfährt diese Kapitulation vor menschlichen Werten wohl im vierten Roman, in dem der Autor einen Schiffskaplan einführt. Hierbei ist zu erklären, dass die NCP die Kirche mit der Wahrnehmung der Überwachung der Moral – oder wenigstens dem, was die Partei dafür hält – zu beauftragen, schlicht: zu instrumentalisieren. Hier haben wir es mit einem besonderen Exemplar eines Schiffspatrons zu schaffen, der seinerseits eine perverse Freude daran hat, Crewmitglieder vor allem aus der dritten Klasse vor versammelter Mannschaft zu foltern und damit seine Allmacht über die Menschen unter Beweis zu stellen. Hier wähnt sich der „Patron“, wie die Schiffskaplane genannt werden, über dem Gesetz stehend. Unterstützt wird er dabei von seinem LCD-kompatiblen Geist, den er immer wieder einsetzt, um in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Gegenüber einzudringen und diese auszulesen.

 

Diese Wahnvorstellung ergibt sich aus dem Fakt, dass die zivile Gesetzgebung viel weiter gefasst ist als die militärische Gesetzgebung der Navy; an dieser Stelle sollte noch einmal daran erinnert werden, dass die Erde und die von ihr besetzten übersystemischen Gebiete einem Gottesstaat nach iranischem Vorbild gleichen und eine Zivilgesellschaft im allgemeinen in einem Gottesstaat keineswegs existenzfähig ist.

 

So tyrannisiert er nicht nur die Dienstgrade, sondern auch die Offiziersränge bis hoch zu den Captains, die formaler Hinsicht lediglich die Ausführung der zivilen und der nautischen Gesetze überwachen, in der Praxis aber aus Angst vor den Repressalien auf der Erde den informellen Weg gehen. In diese Zeit fällt auch das erste Zusammentreffen mit den Anaximenern, der zweiten bekannten raumfahrenden Nation; die Erde möchte vom technologischen Fortschritt auf Anaximenes profitieren, da auf der Erde keine technologischen Fortschritte mehr erzielt werden. Hierbei geht es um einen Schwerkraftgenerator, der auf terranischen Schiffen immer noch unbekannt ist.

Dabei kommt es immer wieder zu regelrechten Ausfällen seitens des Patrons, was die anaximenische Seite schlussendlich zu einem Verzicht auf das Geschäft mit dem Ursprungsplaneten veranlasst. Diese Ausfälle dürften auch mit einer Nebenwirkung des LCDs zu erklären sein: übermäßiger Genuss dieser Droge zersetzt das Gehirn und die Abhängigen werden schließlich geisteskrank. Ein weiterer Motivationspunkt mag seitens des Patrons darin liegen, dass er ein Aufsteiger aus der zweiten Kaste ist und dieses nicht erreichen konnte, ohne Opfer auf seinem Weg zu hinterlassen.

 

Man kommt darin überein, die Rendezvousmission als gescheitert zu erklären und die Logs zu löschen. Damit würde man zwar sowohl in der Zivilregierung als auch der diese kontrollierende Partei Aufmerksamkeit erregen, aber es würde ausreichen, jeden Kopf zu retten.  

5. Teilzyklus: "Was wirklich zählt"

Danach werden erste Schritte in Richtung einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Anaximenes und Erde gemacht. Während der Mission der Erde trifft die Crew auf im Raum nomadisierende Außerirdische, deren Existenz vom für dieses Schiff zuständigen Patron zunächst negiert wird. Als es zu einem Austausch zwischen den Fremden und der Schiffsbesatzung kommt, wird auch dieser Patron übergriffig und foltert einen Vertreter der Aliens, die Warem genannt werden, zu Tode, womit die Existenz seines Stammes besiegelt ist.

 

Die Crew weiß, dass der dortige Kapitän eine laisser-faire-laisser-passer-Politik fährt, was dazu führt, dass fast keiner der Dienstgrade sich mehr an das Gebot der Einnahme des pubertätsinhibierenden Hormoncocktails hält. Selbst homoerotische Avancen werden durch den Befehlshaber toleriert; er selbst unterhält eine heimliche Beziehung zu einer Frau aus der Supporting Crew (was in diesem Kontext nicht mehr als eine Küchen- und Reinigungskraft ist); die beiden können sich nur während der Pausen treffen, da der Frauenbereich konstruktionsbedingt vom Mannschaftsbereich getrennt ist.

 

Als ein Handelsabkommen mit den handelstreibenden Warem geschlossen werden soll und dieses durch das Verhalten des in seinem Rassismus aufblühenden Patrons torpediert wird, kommt es zu einem Aufstand, der das Schiff manövrierunfähig hinterlässt und den Patron tötet. Fast die gesamte Crew kann sich auf einen bewohnbaren Planeten retten. Durch ein Missverständnis verliert Commander William Boltemore  – der Kadett aus dem vierten Roman – seine große Liebe. Trotz der Rettung seiner Crew bleibt er vereinsamt zurück.

 

Es wird zwar nach den Regeln der Erde und zur Verwunderung der auf dem Planeten ansässigen Flüchtlinge eine Kirche gebaut, aber diese wird mit Ablauf der Zeit immer weniger frequentiert. Der Autor will zu recht insinuieren, dass der blinde Glaube an Gott vom eigentlichen Wesenskern menschlichen Zusammenlebens wegführt. 

 

6. Teilzyklus: Mischka

Der vorerst letzte Roman der Reihe Mischka beleuchtet die Zustände auf der anderen Seite: die irdische Navy übergibt ihre gesamte fünfte Flotte, auf das die Anaximener die Flüchtlingsbewegungen an ihren Grenzen selbst überwachen (dass sich Jene aus ihrer humanistischen Weltanschauung heraus eine Willkommenskultur in Gesetzesform gegossen haben, steht für den Leser genau so außer Zweifel wie die Ignoranz der Terraner um dieses Gesetz; nur notorische Querulanten werden zurückgeschickt, was die irdische Regierung immer wieder als großen Sieg verkauft – was angesprochene Individuen allerdings nicht vor der Exekution zu schützen vermag).

Ausgestattet mit den großen Schiffen entspinnen sich gleich drei Storystränge, die der Autor geschickt miteinander zu verweben weiß:

 

eine Story um die Erforschung einer Sonne

eine Coming-of-Age-Story sowie

  eine Flüchtlingsgeschichte;

 

dieses alles wird eingepackt in eine Mantelgeschichte, die sehr an höhere Hard SF erinnert. Die Schiffe stellen sich als bessere Wracks heraus, die es zunächst zu reparieren gilt. Trotzdem will eine ältere Wissenschaftlerin zunächst ihr Lebenswerk vollendet sehen, die Erforschung eines ausbrennenden Sternes, den die Forscherin schon zeit ihres Lebens erforscht und den sie beinahe zärtlich „Mischka“ (russisch für Teddybär, wie man erfährt) nennt; hier kann man davon ausgehen, dass sich Medwedew schon seit Kindesbeinen um diesen Stern „kümmert“.

Jener Wunsch der Vermessung dieses Sternes wird ihr gestattet.

 

Der Flug ist nur auf wenige Tage angesetzt (der geneigte Leser wird schon jetzt erahnen: das wird nix! - Anm. d. Autors); hier wiederum eine Reminiszenz an jede bessere SF-Serie der letzten rund 60 Jahre.

 

Im Laufe der Geschichte stellen sich immer wieder Fehler ein, wenn sie unter Mithilfe des Omegas springen wollen. Erst später wird sich herausstellen, dass die Erde mit ihren Spionagesonden dafür verantwortlich ist.

 

Ein junger Techniker wird zusammen mit 20 anderen technisch ausgebildeten Akademieabsolventen an Bord gebracht. Jene sehen die Mission als Sprungbrett für eine glänzende Karriere. Dieser Junge hat gerade eine Liebesbeziehung hinter sich und trauert um seinen Freund, der seine Gedichte nicht beantwortet. Während einer Suche nach der Fehlerquellle eines misslungenen Sprungs entdeckt der junge Techniker Marconi „Marc“ Stevens einen verschüchterten Flüchtling von der Erde, der sich allerdings für die anaximenische Crew als Glücksfall herausstellen soll, ist er doch im Aufbau und der Reparatur des Schiffes versiert. Durch Stevens lernt der junge Terraner, Jacob Arrow, die freiere Gesellschaftsstruktur auf Anaximenes kennen und schätzen. Als geübter Leser dieser Reihe vermutet man stets eine Finte der Terraner, was allerdings durch sein Geständnis, in den Augen des Regimes ein „Perverser“, also schwul zu sein, zum ersten Mal entkräftet wird. Marc führt ihn auch in die liberale anaximenische Auffassung über Homosexualität ein und es entwickelt sich eine für beide Seiten fruchtbare Beziehung. Marc zeigt Jacob den Weg, mit seiner Sexualität zurechtzukommen, was beide zu genießen wissen. Viel schwerer ist der Weg, den er von der gesellschaftlichen Missachtung auf der Erde bzw. auf Anthenor (einer monarchisch regierten Erdwelt) und der eingeübten Achtsamkeit der „Naxis“.

 

Diese wird immer wieder teils süffisant, teils eher rüde von einem ansonsten desillusionierten Petty Officer namens „Ace“ Lennox begleitet. Dieser ist sich seiner schwachen Leistungen auf der Akademie bewusst und versteckt seine Unsicherheit hinter einem vorgeblichen Machogehabe, bis ein weiterer Vorfall während eines Sprungs ihn zusammen mit Leutnantin Paris in einem Lift einsperrt. Sie weiß ihn zu entschlüsseln, und zwischen beiden entwickelt sich eine Beziehung. Er löst sich immer mehr von seinen inneren Dämonen und seine vorlaute Art wird als witzig goûtiert (wenn er es auch manchmal immer noch übertreibt).

 

Hier hinein gerät ein altes terranisches Raumschiff, dessen Crew von einer Frau geleitet wird. Dieser Umstand ist bemerkenswert, da terranische Frauen ansonsten nicht einmal in die Nähe einer höheren Position kommen. Das Schiff ist ein im Mischka-System gestrandetes Flüchtlingsschiff, und durch den Mangel an AC-K5, dem Hormoninhibitor nebst dem an Respekt für Frauen kam es an Bord zu mehreren Revolten, die in Massenvergewaltigungen endeten, zumindest bis Kapitänin Wilson die Männer in Schach halten konnte, auch unter Aufbietung ihrer eigenen Integrität.

 

Die männlichen Flüchtlinge sind sich unsicher, was ihre Berührungsängste gegenüber den Anaximenern, mehr oder minder hochachtungsvoll „Naxis“ genannt, die es innerhalb von ein paar Jahrzehnten geschafft haben eine funktionierende Gesellschaft sowie ein ehrgeiziges Raumprogramm auf die Beine zu stellen. Der terranische Flüchtling stellt sich mutig vor die gläubige, in der alten Messe des Raumschiffs (eine Art Schiffskapelle mit angeschlossenen elektronischen Beichtstühlen) betenden Terraner und erklärt ihnen in einem furiosen Monolog, dass sie mit dem Festhalten an den traditionellen Werten den falschen Gott anbeten. (Hier muss der Autor dieser Zeilen erwähnen, dass er nur sehr selten auf einen dermaßen packenden Monolog gestoßen ist, der in sich stimmig die diametralen sich gegenüberstehenden Gesellschaftsentwürfe erläutert).

 

Eine zusätzliche Gefahr besteht in der „Inobhutnahme“ einer terranischen Beobachtungssonde, die seit Start des Raumschiffes alles aufzeichnete und auch für die misslungenen Sprünge verantwortlich zeichnet. Wenig später tauchen auch die Eigentümer dieser Drohne, ein großer Kampfkreuzer auf und fordert die Drohne zurück. Da man sich auf Anraten Kapitänin Wilsons schon vorher dazu entschieden hat, die Drohne bis auf die wenig spektakuläre Startsequenz zu löschen, erweckt man zwar das Misstrauen der an Bord gekommenen Techniker, allerdings zeigt sich der ranghöhere Officer als durchaus interessiert an der anaximenischen Bordtechnik und herrscht seinen gleichermaßen wenig gebildeten als auch gehobelten Adjudanten an, im Angesicht der Anaximener ein wenig Contenance zu bewahren – was ihm zwar auch nicht immer astrein gelingt, vor allem, da er ahnt, dass sich auf dem gastgebenden Schiff noch mehr verbirgt als die Naxis zugeben mögen, ihm dieses allerdings völlig egal zu sein scheint, weil er sich von der Technik der mitgeführten Sternwarte begeistert zeigt. Als ihm doch mal eine Bemerkung herausrutscht, die deutlich über das erträgliche Maß an unmenschlicher Zumutung herausgeht, stellt ihn die todkranke Professorin Medwedew dermaßen zur Rede, dass er seinen Fehler zugibt und auch davon spricht, dass in seiner Heimat nicht Jeder die Ansichten der NCP oder der Kirche voll vertritt.

 

Inzwischen bangt Jacob um sein Leben, denn er ist der Einzige, der ohne funktionierenden Schutz dasteht. Lennox vermutet, dass die terranischen Besucher eher auf Äußerlichkeiten achten und rät zu einem Uniformentausch mit Marc. Ansonsten bittet er den jungen Mann, kein Wort zu sagen, da seine noch nicht altersgemäß entwickelte Kinderstimme den Sprecher verraten könnte – noch ist der Hormoninhibitor in seinem Blutkreislauf, obwohl man schon unter den anderen Jugendlichen eine leichte Veränderung bemerkt. So verbleibt er stumm und auch die nicht unbedingt eingeweihte und relativ überraschte Crew des Forschungsschiffes spielt in dieser erfolgreichen Scharade mit.

 

Hier mag Galax Acheronian einen kleinen Cliffhanger eingebaut haben. Regt sich auf der Erde etwa Widerstand gegen die Kirche/NCP? Und: welcher Art ist dieser Widerstand? Zu vermuten ist, dass viele kritisch denkende Terraner durch die Zusammenarbeit mit Anaximenes Aufwind bekommen haben.

 

 

Auch der Kapitän des Erdenschiffes, der sehr ungehalten auftritt, vermutet ein Komplott gegen die Kirche und den durch sie getragenen Staat, aber er kann nichts beweisen. Die Kommunikation wird abgebrochen und das anaximenische Schiff beschossen. Erst im letzten Augenblick zerplatzen die auf das Schiff gelenkten Raketen und der (neu eingesetzte?) Patron des Schiffes gibt seinen Fehler zu, verspricht den Anaxmenern freies Geleit, unter der Maßgabe, dass man die weitere Entwicklung beobachten werde. 

Fazit

Der deutsche Autor Galax Acheronian entwirft in seinem „Koloniewelten“-Zyklus eine Dystopie in einer Utopie und auf der anderen Seite eine Utopie, die sich aus ebenjenem dystopischen Umfeld entwickelt. Er zeigt den Aufstieg einer klerikalfaschistischen Partei zu einer weltumspannenden Macht auf, unter der sich der uralte Traum von der Besiedlung fremder Welten endlich erfüllt. Der Preis dafür ist totale Überwachung, lebenslang währende Vorratsdatenspeicherung, Einrichtung eines Kastensystems, dass die meisten Menschen in Unbildung hält und daraus entstehend eine Abneigung gegen alles Fremde – was stets der oberen Kaste obliegt, diese Definition des „Fremden“ zu verändern.

 

Somit wird die Basis geschaffen für Völkermord, Planetenreinigungen (= Deportationen) und Hass auf das „Andere“. In einem Handelsvertrag mit einer außerirdischen Rasse kommt die Erde in den Besitz einer Substanz, die fast unbegrenzt erhöhte Mengen an Energie aufnehmen kann. Das Regime negiert diesen für die Menschen vorteilhaften Deal sowie die Existenz außerirdischen Lebens. Entsprechende Filme und Medienerzeugnisse werden verboten und die Presse gleichgeschaltet. Die Kirche steht mehr für die Abschreckung, als dass sie von der Liebe Gottes zu den Menschen spricht. Sie wendet auch durchaus selbst Gewalt an und steht dabei unter der Protektion der „Nationalen Christlichen Partei“.

 

Hier erfährt man die Bedeutung des goethe’schen Wortes: „Wer da hat Musik, Kunst und Literatur, bedarf keines Gottes. Wer diese drei Dinge nicht hat benötigt Gott!“

 

Ganz in diesem Sinne erfährt man im dritten Werk des Autors von der Kolonie Thalespoint auf Anaximenes, eine Gemeinschaft von Outcasts jeglicher Couleur, Dissidenten, LGBTQI*-Personen und Wissenschaftlern (Freiwillige sind auch darunter!), die sich entschlossen haben, auf der Grundlage eines gelebten Humanismus liberaler Prägung eine Gesellschaft aufzubauen, welche die Erde übertreffen möchte, in der sie das exakte Gegenteil von dem ist, was die Bürger dieses Gemeinwesens auf der Erde erfahren haben. So entsteht eine kommutaristische Gemeinscahft auf der Grundlage der Freiheit ex positivo:

 

Jede*r hat die Freiheit das zu tun, was er möchte, so lange es für die Gemeinschaft insgesamt förderlich ist und für die Freiheit des Anderen nicht hinderlich. So ist es auch zu verstehen, dass der terranische Spion (der sich nachmals als proaktiv gegen die Erde arbeitend herausstellt), nicht mit seinem Leben bezahlen wird, sondern sich als bezahlter Feldarbeiter für das Gemeinwesen auf Anaximenes stark macht (ob ihm das nun gefällt oder nicht, überlässt der Autor der Phantasie des Lesers). Auf der Grundlage des masssiven brain drains auf der terranischen und des exponentiellen Zuwachses von brain power auf anaximenischer Seite (Bildung wächst statistisch gesehen immer exponentiell, nie linear!) starten jene erfolgreich den Versuch einer eigenen Raumflotte.

 

In den letzten drei Romanen erkennt man im Brennglas die Unterschiede der einzelnen Philosophien anhand der Mikrokosmoi der terranischen und anaximenischen Raumcrews.

 

Auf der einen Seite die unterdrückten, in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung gehemmten Männer der terranischen Flotte, die unter einem auf jedem Schiff üblichen Kaplan, „Patron“ genannt, zu leiden und wenig bis gar nichts zu lachen haben, nebst den rechtlosen weiblichen Crewmitgliedern der SuppCrews, die für Küchen- und Putztätigkeiten abgeordnet sind und in von den Mannschaftsquartieren abgetrennten Bereichen leben. Hier regiert das Misstrauen, die Angst vor dem Verrat durch den Nachbarn, Neid und Missgunst.

 

Auf der anderen Seite eine bunt gemischte, ziemlich lockere Schar von Crewmitgliedern jeglichen Geschlechts, ohne geistigen Beistand, dafür hochgebildet bzw. fachlich in der ersten Liga spielend, die sich gegenseitig über Rangbezeichnungen hinweg Duzen („Captain, Sir, Du…“ - bei Terranern absolut unerhört! Übrigens duzen Anaximener auch Terraner, was diese regelmäßig zur Weißglut treibt - und dem Leser immer wieder die Mundwinkel nach oben treibt). Sie sind es auch, die den Terranern eine Zusammenarbeit zwecks Technologieaustausch anbieten. Was zunächst am Verhalten des verknöchert erstarrten Klerus scheitert, wird zur Keimzelle einer leichten Korrektur der terranischen Verhältnisse (zumindest ist dies zu hoffen).

 

Vorliegender Text ist eine Art Halbzeitkritik. Die Romane hat der Verfasser dieser in einem Zug durchgelesen (er ist dabei immer an seinem Heimatort geblieben!). Der Autor des „Koloniewelten“-Zyklus versteht es, seine Leser durch einen gereiften Erzählstil zu fesseln, ohne dass die Aussage des Textes allzu sehr hinter dem berühmten page-turner-Status verschwindet.

Acheronian möchte keine Aussage treffen: „wen hat Gott lieber“ – die Ausgestoßenen oder die Frommen, oder gar die alte Frage nach der Existenz eines höheren Wesens noch einmal neu diskutieren. Er möchte die Entwicklung eines saturierten Systems hin zu einem Gottesstaat – mit allen negativen Auswirkungen wie z. B. Der Aussetzung der Grundrechte für Alle – aufzeigen und dem einen Gesellschaftsentwurf entgegen stellen, der sich seiner Freiheit und den damit einhergehenden Verpflichtungen situativ und global bewusst ist.

 

In der vorbildlich praxistauglichen pazifistischen Gesellschaft der Anaximener wird auch der Vorschlag geboren, mit dem ehemaligen Heimatplaneten einen Technologietransfer zu vereinbaren und so wieder in gemeinsamen Kontakt zu treten. Dieses geschieht allerdings auch erst in der Verbannung nachfolgenden Generation.

 

Dies geschieht wohl nicht ohne Hintergedanke, denn auf Anaximenes erkennt man, dass sich die Entwicklung im terranischen Einzugsgebiet in einer Sackgasse befindet.

 

So lässt Acheronian seinen nicht immer geschmackssicheren Frechdachs Lennox im letzten Roman sagen:

 

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

 

Dieses Motto (Ursprung: Wilhelm Busch) könnte über der anaximenischen Gesellschaft hängen, aber auch über dem bisherigen Werk Acheronians, dem „Koloniewelten“-Zyklus (jedenfalls: so far!). Der Autor weiß zu fesseln, zu unterhalten, oftmals mit einem leichten, humanistischen Unterton versehenen Wortwitz und einer unwahrscheinlichen Formulierungsgabe.

Acheronian gehört zu den führenden Erzählern deutscher Zunge (bzw. Feder) und braucht den Vergleich auch mit internationalen Größen nicht zu fürchten.

 

Man darf gespannt sein, was da noch auf den geneigten Leser zukommt.

 

Rezension von Peter Poppe

Harte Fakten

Gastrezension Ja, von Peter Poppe
Titel Koloniewelten Band 1 bis 9
geschrieben von Galax Acheronian 
Verlag Selbstverlag 
Erscheinungsjahr 2011 - 2021
Seitenzahl insgesamt ca. 3500 
Anzahl Bände bisher
Original Twitter Tweet https://www.rezensionsnerdista.de/2021/12/13/gastrezension-koloniewelten-b%C3%A4nde-von-galax-acheronian/ 
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Kommentare: 1
  • #1

    Axel Aldenhoven (Sonntag, 19 Dezember 2021 12:24)

    Eine großartige Rezension für einen hervorragenden Autor.
    Yvonne, Du bist eine echte Lesemaschine. Ich finde Deine Arbeiten - ob Rezension oder Podcast - beeindruckend gut.
    Den Text zum letzten Bandes werde ich aber erst lesen, wenn ich selbst fertig mit dem Lesen des Buches bin. Ich finde, dass Galax uns hier auf die Enterprise von Captain Picard entführt. Es ist sowas von geil startrekig, dass ich manche Szenen mehrfach lese und das Buch immer wieder beiseite lege, um sie nachwirken zu lassen. Vergleichbar mit einem guten Wein oder Käse, den man auch nicht einfach verschlingt.
    In dem Buch steckt Reife und Geduld.

    Ich freue mich, dass Du diese Seite mit Leben füllst und hegst.

    Ich verlinke Dich jetzt mal auf meinem Blog, um auch viele Leute auf Deine großartige Arbeit hinzuweisen.

    Danke, dass Du das alles machst. <3 <3




    LG

    Axel