Inhalt
Der Roman spielt im Jahr 2043, in Deutschland. Smart Phones bzw. Tablets haben sich weiterentwickelt, so auch Schulen (nicht mehr viel Unterricht vor Ort), das Gesundheitssystem hingegen scheint sich zurückentwickelt zu haben und nun ein Niveau wie in den heutigen USA zu haben - jedenfalls für Menschen in der sozialen Klasse von Mikas Familie. Mika ist der Ich-Erzählerin in diesem Roman.
Mika hat einen "Save-the-Cat"-Moment auf Seite 55, als er seinem jüngeren Bruder einen wichtigen und extrem aufmerksamen Gefallen tut. Da habe ich genau beobachtet, wie Mika in meiner Achtung und Sympathie sehr hoch steigt - insgesamt muss ich aber zugeben, dass mir sonst nicht so direkt aufgefallen ist, wie die Autorin es schafft, dass mir ihre Charaktere so ans Herz wachsen. Und sie wachsen mir alle ans Herz, nicht nur Mika.
Auf Seite 1 muss ich noch schmunzeln, weil Mika, ein siebzehnjähriger kurz vor seinem Schulabschluss, offenbar ein Problem damit hat, sich zu langweilen. Wann habe ich mich das letzte Mal gelangweilt? Aber später ändert sich sein Alltag doch sehr drastisch und ich will keinesfalls tauschen. Zu Beginn des Romans möchte Mika sich unbedingt ein RedPad C kaufen, die neueste Generation eines Tablets (was aber offenbar auch als Telefon dient), die eine Machine Learning App beinhaltet, die seinesgleichen sucht.
Mika stammt jedoch aus sehr bescheidenen Verhältnissen und ich frage mich schon (da ich natürlich mal wieder den Klappentext nicht gelesen habe), wie er das finanzieren wird, als mir klar wird, dass er irgendetwas spenden wird. Etwas, das nur in bestimmten Abständen gemacht werden darf. So wie ich es aus früheren Zeiten von Blutplasmaspenden kenne. Aber damit finanziert man doch keine teuren Endgeräte? Bald wird klar: Mika spendet glückliche Kindheitserinnerungen. Diese dienen anderen, kranken (beispielsweise depressiven) Menschen als Therapie. Das wird ausreichend gut bezahlt, so dass er sich das RedPad C leisten kann.
Im Warteraum sitzt er neben einem Mädchen, das ihm gleich auffällt. Die beiden kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus: Sie kennt ihn. Nur er kann sich an sie nicht erinnern. Sie ist Lynn, seine liebste Kindergartenfreundin, doch er hat alle Erinnerungen an sie bereits weggespendet.
Die beiden nähern sich trotzdem erneut an und schließen Freundschaft. Lynn leidet selber unter schlechten Kindheitserinnerungen (fies: das Verhältnis zu ihrer Mutter, die sie stets klein gemacht hat und der Weggang ihres Vaters, beides übrigens sehr schön zu Ende gedacht) und ist depressiv. Sie denkt darüber nach, eine Memospende in Anspruch zu nehmen. Außerdem ist es möglich, schlechte Erinnerungen durch ein ähnliches Verfahren loszuwerden. Doch Lynn zögert.
Das ist nur der Beginn einer der besten Romane, die ich in 2021 gelesen habe - und, so muss ich sagen - bisher der beste deutschsprachige aus diesem Jahr. Dreimal war ich emotional so mitgenommen, dass meine Augen nass wurden und das bedeutet, dass ich den Figuren sehr nah war. Plus, die Idee ist absolut nicht ausgelutscht. Klar, das Verlieren von Erinnerung wird oft thematisiert, aber das Verkaufen der Erinnerungen für andere, die damit Krankheiten heilen und auch jene Aspekte, die später im Roman noch hinzukommen, beleuchten das Thema noch einmal von einer sehr interessanten Warte aus.
Schöne Details
Der Autorin gelingt es an sehr vielen Stellen, durch Details etwas zu zeigen. Sei es Armut oder Reichtum. So findet Mika beispielsweise in einer Szene seinen Brotbelag direkt auf dem Brot wieder, ohne Butter darunter. In einer späteren Szene, zeigt er sich verwirrt, dass ihm jemand Milch reicht, weil er schon seit Wochen seine Cornflakes ohne Milch isst und er zunächst nichts mit der Milchpackung anfangen kann.
Als er seine deutlich wohlhabende Freundin Lynn das erste Mal besucht, gleitet das Tor zu ihrem Haus "ohne das geringste Schleifgeräusch" auf.
Andere Dinge, wie Liebe, Zuneigung, Abneigung, werden ebenfalls mit gekonnt gesetzten und gut beobachteten Details unterstrichen oder gezeigt. Insgesamt hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass Figuren und Plot mit viel Einfühlungsvermögen, wenig bis keiner Naivität und sehr viel Umsicht gezeichnet wurden. Ich habe mich beim Lesen daher rundum wohl gefühlt und stets darauf vertraut, dass alles gut durchdacht ist - und ich wurde nicht enttäuscht.
Romanfiguren
Hier kann ich nur überall "Sehr gut, setzen" sagen. Alle Figuren - bis hin zu den Nebenfiguren - wirken, als wären sie direkt aus dem echten Leben gesprungen. Allen voran natürlich Mika und Lynn, sowie Mikas Vater, aber auch die Bösen fand ich (obwohl sie recht wenig "Bühnenzeit" haben) sehr plastisch.
Buchaussage
Die vordergründige Story (A-Story) ist die, was das Spenden der Erinnerungen für Mika bedeutet - für ihn, sein Leben, seinen Charakter. Am Ende kommt noch ein wenig Action und die Lösung eines Rätsels dazu in einem Showdown, der für mich etwas überraschend war, aber keinesfalls aufgesetzt oder unnötig (wie es so oft bei Romanen ist, wenn die letzten zwanzig Seiten sich im Stil und Geschwindigkeit so sehr vom Rest unterscheiden - hier war das sehr passend).
Die hintergründige Botschaft (B-Story) war für mich hauptsächlich, dass diese Spenden (ob legal oder ggf. auch illegal) von Menschen vorgenommen werden, die in wirtschaftlich prekären Situationen leben und dass diese eigentlich keine Wahl haben. Das wird auch sehr direkt thematisiert ("Ausnutzung benachteiligter Jugendlicher").
Das wird zusätzlich verschärft dadurch, dass in der Welt, in der der Roman spielt, die Krankenversicherung von Mikas Vater nicht alle Kosten übernimmt, sondern Dialyse und Schmerzmittel selber bezahlt werden müssen.
Man könnte aber auch durchaus noch ein paar andere Nebenstränge in dem sehr dichten und gelungenen Roman entdecken, wie zum Beispiel die Freundschaft zwischen Lynn und Mika, die durch das Ungleichgewicht (sie erinnert sich an eine tolle gemeinsame Kindheit, er lernt sie quasi gerade erst kennen, weil er seine Erinnerungen an sie längst gespendet hat) sehr beeinflusst wird. Oder Depressionen und Depressionsbehandlung und auch Ursache, was als Thema aber eher nur angeschnitten wird. Plus, noch einige andere Dinge, was Wissenschaft und Forschung betrifft und diesbezügliche Moral, was aber hier zu sehr spoilern würde.
Es wird auch gut gezeigt, dass man als junger Mensch aus ärmlichen Verhältnissen oft keine Chance hat, daraus auszubrechen - das wird dadurch unterstrichen, dass das soziale Netz im Setting des Romans deutlich mieser ist als in unserer heutigen Lebensrealität.
Rezeption
Andere Rezensionen bei einem Online-Buchhändler sind durchweg positiv. Powerschnute hat mich mal wieder beim Lesen überholt. Ihre Rezension kommt bald.
Über die Autor:in
Harte Fakten
Titel | Memories of Summer |
geschrieben von | Janna Ruth |
Verlag | Moon Notes |
Erscheinungsjahr | 2021 |
Seitenzahl | 304 |
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