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Hominids (The Neanderthal Parallax Box 1) von Robert J. Sawyer

Inhalt

"Let's just say we've found what we believe to be a Neanderthal specimen in, ah, remarkable condition"

 

Genau darum geht es. Die Kondition ist bemerkenswert. Der Neanderthaler, den sie gefunden haben ist lebendig.

 

Das ist ein ganz klassisch guter Roman. Damit meine ich: Keine Experimente. Er baut auf eine wahnsinnig gute Idee, die gut erzählt ist mit überzeugenden Figuren. 

 

Was die Idee betrifft: Selten habe ich so eine gute gefunden, die auch noch so gut umgesetzt wurde.

 

In einem Forschungslabor taucht plötzlich ein Mann auf - und zwar in einem Bassin voller schwerem Wasser, mit dem sie dort experimentieren. Louise und ihr Kollege Paul müssen den Mann sofort vor dem Ertrinken retten.

 

Damit steigt der Roman ein, es gibt also sofort Action und die Figuren, Umgebung usw. werden anhand ihrer Taten charakterisiert. Nach der Rettungsaktion nehmen sie den Fremden in Augenschein - und er sieht tatsächlich sehr anders aus, sehr auffällig, vor allem die Augenbrauenwulst und die große kräftige Statur. Und: Wo ist er hergekommen, in ein Labor zwei Kilometer unter der Erde?

 

Der Roman spielt ein paar Jahre nach 1998, also ungefähr Anfang des Jahrtausends. Mehr zu den Figuren und auch zur Welt der Neanderthaler weiter unten, da das sanfte Spoiler enthält.

 

 

Fazit

Da habe ich nach den Jo Walton Krimis in einer alternativen Welt endlich wieder etwas gefunden, was mich restlos begeistert. Ich werde die anderen Teile also auch noch lesen.

Ich habe auch einiges über Neanderthaler gelernt:

Dass sie vermutlich kein "i" aussprechen konnten.

Dass sie irgendwann zwischen vor 27.000 und 35.000 Jahren ausgestorben sind.

Auch über Muskeln, Körperbau, Skelett (vor allem des Schädel), Haut- und Haarfarbe habe ich einiges gelernt.

 

Die Welt, die der Autor da zeigt, wirkt plausibel. Besonders gefallen hat mir, dass sie aufgrund ihrer feinen Nase ganz andere Dinge erfunden oder auch nicht erfunden haben (Kraftwerke und Benzin stinken zu sehr) und dass Pheromone auf sie einen ganz eklatanten, spürbaren Effekt haben. Auch die Zyklen der Frauen haben eine ganz andere Bedeutung für sie. Sie treffen ihre Frauen auch nicht, während diese PMS haben, jedenfalls normalerweise nicht. Das ist aber alles respektvoll und nachvollziehbar beschrieben und keineswegs abwertend.

Romanfiguren

Ponter Boddit hat 447 Monde gesehen, ist als Mitte dreißig. Die Neanderthaler rechnen in der Regel in Monaten oder Monden (ich nehme an, da muss ich dann 28 Tage nehmen), Jahre nutzen sie nur, wenn sie klar machen wollen, dass es wirklich lange her ist. 

Ponter ist Physiker. Wie offenbar alle Neanderthaler, hat er eine "woman mate" und einen "man mate". Seine Freundin/Partnerin ist aber leider vor etwa 1,5 Jahren an Leukämie verstorben. Mit ihr hat er zwei Töchter. Er lebt gemeinsam mit Adikor, seinem "man mate".

Interessant ist auch, dass aus seiner Sicht die Homo sapiens sapiens "Gliksins" heißen. Natürlich sind in seiner Realität diese längst ausgestorben. Dies ist etwa 400.000 Monate (33.333 Jahre) her. 

Schön ist, dass später in einem Dialog mit Mary klar wird, dass Ponter und seine Artgenossen die Gliksins für nachaktiv gehalten haben, weil sie keine Augenbrauenwulst haben (dagegen, dass die Sonne sie blendet). 

Da Neanderthaler sehr stark sind, darf es bei ihnen keine Gewalt geben. Gewalt ist immer potenziell tödlich.

 

Adikor Huld ist die Hauptperson auf der "Neanderthal-Seite" des Romans. Er wird des Mordes an Ponter beschuldigt. Da er nachweislich Probleme damit hat, seine Wut im Zaum zu halten, macht er sich tatsächlich verdächtig, obwohl er natürlich komplett unschuldig ist und auch Ponter keineswegs tot ist. Es kommt zu einer Verhandlung. Dies ist ungewöhnlich für die Welt von Adikor, eigentlich kann man anhand der Aufnahmen des Companion jederzeit seine Unschuld beweisen - nur funktioniert dieser leider in dem Labor, in dem Ponter verschwunden ist nicht, da dies unter der Erde ist.

 

Mary Vaughan (38 J.) ist die Hauptperson auf der "Homo sapiens sapiens"-Seite des Romans. Sie kommt erst in Kapitel 6 ins Spiel, als die meisten anderen Figuren bereits bekannt sind. Gleich zu Beginn widerfährt ihr eine Vergewaltigung. Jemand Fremdes, Maskiertes, lauert ihr auf, bedroht sie mit einem Messer und nimmt sie mit Gewalt. Zunächst habe ich nicht eingesehen, warum diese Szene notwendig ist, aber später wurde das dann klarer. Die posttraumatischen Auswirkungen auf Mary fand ich plausibel dargestellt.

Mary ist Genealogin, geschieden, kinderlos und katholisch. Schöner fand ich die Charakterisierung in Details wie diesen:

"[She]... filled a mug with the now-ready coffee, which she poured a little chocolate milch into from a half-liter carton - she didn't know anyone else who did that, and she had given up trying to get it in restaurants."

 

Louise Benoit (28 J.) ist ein Postdoc aus Montreal. Sie rettet zu Beginn des Romans dem Neanderthaler Ponter das Leben. Später verliert sie aber an Bedeutung, zwar ist sie weiterhin mit von der Partie, aber der Roman konzentriert sich mehr und mehr auf Mary, Ponter und Adikor.

 

Paul Kiriyama, ein Grad Student, ist anfänglich bei Louise, um sie bei der Rettung von Ponter zu unterstützen. Er ist aber nur eine Nebenfigur und abgesehen mal davon, dass er von Louises Schönheit eingeschüchtert ist, erfahren wir nicht viel über ihn.

Sprache und Art des Erzählens

Mir hat die Sprache gut gefallen. Das Englisch ist ok verständlich, obwohl natürlich einige Stellen sehr wissenschaftlich anmuten (Hard SF). 

 

Angenehm ist, dass die Kanadier größtenteils das metrische System nutzen und in Grad Celsius rechnen, das macht es mir als Europäerin deutlich einfacher.

 

Schön war auch, dass der Autor für die Neanderthaler Phrasen/Sprichworte erfunden hat, bei denen man genau merkt, dass sie typisch ihn ihrem Sprachgebrauch sind.

 

Einige Stellen hebe ich gern beispielhaft hervor:

 

"But then the alarm sounded again, and yet again, and then stayed on, a solid, unending electric beep like a dying man's EKG".

 

Schön, wie die Unterschiede herausgearbeitet werden, z. B. hier aus Ponters Sicht, der im Krankenhaus erwacht:

 

"And the pillow was an amorphous bag stuffed with - he wasn't sure what, but it certainly wasn't dried pine nutzs, like his pillow back home".

 

"He [Adikor] could feel his scrotum contracting, as if its contents wanted to climb into his torso, out of harm's way"  

Buchaussage

 

Die A-Story lautet: Schafft Ponter, der Neanderthaler es wieder nach Hause? 

Die B-Story ist interessanter. Dadurch, dass wir Menschen uns durch die Augen des Neanderthalers sehen, müssen wir unsere Handlungen reflektieren. Nicht nur jene, die wir selber auch wirklich verschuldet haben, sondern auch jene, die 25.000 Jahre her sind. 

Und wir Leser:innen lesen die Kultur der Neanderthaler und können diese beurteilen. Dies bleibt auch uns überlassen, der Autor trifft keine Aussage. 

Er lässt aber Ponter bezüglich der Homo sapiens sapiens am Ende zu einem Schluss kommen. 

Wie bin ich zu dem Buch gekommen?

Ich hatte die Hugo-Awards von Hardy Kettlitz gelesen und eine Riesen-Merkliste daraufhin erstellt. Nach und nach lese ich immer mal wieder einen Hugo-Roman. Das ist ein weiterer, nach z. B. The Time Traveller's wife und die Vereinigung jiddischer Polizisten.

Über die Autor:in

Von dem Autor wurde kaum etwas ins Deutsche übersetzt. Dieses Buch allerdings schon - "Die Neanderthal-Parallaxe" (Festa, 2005), allerdings gibt es das nicht als Ebook. "Flash" (orginal: Flashforward) wurde ebenfalls übersetzt, darauf basiert die Fernsehserie, die damals leider mit einem irren Cliffhanger nach einer Staffel abgesetzt wurde. Das Buch hatte ich damals auch gelesen (erinnere mich nicht mehr, in welcher Sprache), nachdem die Serie so unabgeschlossen war. Ich empfehle aber ganz klar dieses Buch statt Flash.

Plus, dieses hier hat zwei Fortsetzungen, die vielversprechende Titel haben.

Diversität

Das ist absolut perfekt, meiner Meinung nach. Wenn jemand weiß ist, wird das extra erwähnt. Es hat auch einen Sinn, denn bei den Neanderthalern gibt es keine unterschiedlichen Hautfarben. Dafür scheinen die Neanderthaler grundsätzlich bisexuell zu sein. Es wirkt außerdem, als seien dort die Frauen tatsächlich gleichberechtigt. 

Auch in der wissenschaftlichen Umgebung auf unserer Version der Erde sind die Frauen als Wissenschaftlerinnen mit Mary und Louisa stark vertreten.

Außerdem kommen die Figuren von überall her: Reuben Montego ist Jamaikaner, der behandelnde Arzt zu Beginn des Romans ist ein Sikh, der Kollege von Louisa in Kapitel 1 ist Schwarz, die beratende Studentin in der Uni ist ebenfalls Schwarz. 

Die Welt der Neanderthaler

Dieser Abschnitt erhält zwar keine Spoiler zur Handlung, verrät aber sehr viel von dem, was die Welt der Neanderthaler von unserer unterscheidet und würde so einigen Lesespaß nehmen. Daher empfehle ich das Lesen nur, wenn das Buch eh bekannt ist oder euch solche Spoiler nichts ausmachen - oder ihr eh nicht plant, das Buch in Kürze zu lesen.

 

Die Welt, in der statt der Homo sapiens sapiens die Neanderthaler überlebt haben, sieht anders aus. Sie haben nie angefangen, in großen Stil Tiere zu züchten und Ackerbau zu betreiben. Im Großen und Ganzen sind sie Jäger und Sammler geblieben. Daher isst Ponter nur Fleisch, Obst und Gemüse und verschmäht Milch und Brot. Ich könnte mir vorstellen, dass er Gluten und Laktose eh nicht vertragen würde.

 

Sie sind auch nur 180 Millionen insgesamt auf der Erde.

 

Technologisch sind sie pfiffig, hatten aber komplett andere Prioritäten. Sie waren nicht auf dem Mond. Dafür haben sie einen ausgebufften Computer, den sie am Handgelenk tragen, den "Companion". Der Companion sorgt auch dafür, dass jede Sekunde ihres Lebens irgendwo aufgezeichnet ist. Man muss den Zugang zwar beantragen, aber theoretisch bleibt nichts geheim. Mary findet den Gedanken fürchterlich (Privatsphäre), aber sie merkt bald, dass es bei den Neanderthalern keine Tabus gibt, oder jedenfalls deutlich weniger. Sie schiebt es auf die fehlende Religion. Ich halte das ja für zu kurz gedacht, da spielt noch eine Menge anderes mit hinein, wobei Religion sicherlich zumindest historisch ein Faktor ist.

 

Ich persönlich finde die Sterilisation von Kriminellen viel gruseliger als die Aufzeichnungen der Companions. Ich glaube aber auch nicht so recht daran, dass Kriminalität vererbbar ist. Gab es da nicht mal ein Buch von Ken Follet, der dritte Zwilling? Das Buch hat aber eher die Prämisse, dass es zumindest zum Teil vererbbar ist, wenn auch die Erziehung einen hohen Anteil hat. 

Harte Fakten

Titel Hominids (The Neanderthal Parallax Box 1)
geschrieben von Robert J. Sawyer 
Erscheinungsjahr 2017 
Seitenzahl 346 
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