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Die Stunde der Rotkehlchen (Inspektor Carmichael 1) von Jo Walton

Inhalt

Warum habe ich dieses Buch gelesen?

Ich mag alternative Zeitlinien und habe schon "Vaterland" von Robert Harris sehr genossen. Das hier ist sogar noch besser. 

Ein wenig hatte mich an den Rezensionen abgeschreckt, dass es sehr politisch zu sein schien, beim Lesen fand ich das aber gerade spannend. 

 

Thema

In unserer Zeitlinie hat sich Churchill 1941 geweigert, auf Hitlers Angebot einzugehen. In der Zeitlinie des Romans hat sich ein gewisser James Thirkie, ein politischer Gegner Churchills, dafür eingesetzt, auf diese Weise den Krieg zu beenden. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland auf dem Kontinent expandiert und weiterhin Juden einsperrt (und wohl auch vergast, wenn die Arbeitskraft aufgebraucht ist) und Hitler auch 1949 noch lebt.

 

Auch in unserer Zeitlinie war es zu der Zeit gefährlich, in den UK homosexuell zu sein. Hier ist es noch schlimmer. Außerdem ist es auch für Juden mehr und mehr unangenehm, auf englischem Boden zu wandeln - und die USA lässt sie gar nicht mehr einreisen. Lediglich Kanada oder einige südamerikanische Länder.

 

In diesem Setting geschieht ein Mord - an ebenjenem James Thirkie. Hatte es politische Gründe? Oder doch private? Nur fünfzehn Menschen kommen für den Mord in Frage, sonst hatte niemand die Möglichkeit.

 

Einstieg

Ich hatte zunächst die Leseprobe und die hat mich noch vor Ablauf überzeugt. Gut geschrieben. Zwei wechselnde Perspektiven: Inspektor Carmichael selber in einer relativ distanzierten personalen Sicht. Dazwischen immer wieder Lucy Kahn als Ich-Erzählerin, geborene Eversley, die den Juden David Kahn geheiratet hat und dadurch in ihrer Familie und auch gesellschaftlich in ihrem Ansehen sehr gesunken ist. Eine Liebesheirat. Das hat noch nicht ganz gereicht, um mich sofort für Lucy einzunehmen, aber im Laufe des Romans hat sie mich definitiv gepackt.

 

Zum Roman 

Der Roman spielt Anfang Mai 1949. Ähnlich wie bei anderen historischen Romanen, die in den UK spielen wie "Wulvering Heights" muss man bedenken, dass das Erbrecht hier die Herren sehr bevorzugt und Frauen kein Land und Besitz erben können, höchstens Geld.

 

Die Klassenunterschiede in der Sprache werden in der deutschen Übersetzung offenbar nicht so deutlich wie im Englischen Original, was ein Austausch auf Twitter offenlegte. Die Dialoge sind aber in jedem Fall auch auf Deutsch überzeugend.

 

Die Erzählweise ist sehr gut, immer szenisch, Informationen werden - vor allem in Carmichaels Kapiteln - sehr subtil eingeflochten und nicht einfach so behauptet. Stilblüten habe ich nicht gefunden, aber auch nicht unbedingt Metaphern oder Bilder, die ich ausschneiden und auswendig lernen möchte.  Wobei, das hier ist ganz cool:

 

"Sie starrten einander nur regungslos an. Angelia triumphierend und Daphne am Boden zerstört, wie Statuen zweiter Göttinnen, die ein genialer Bildhauer geschaffen hatte, um zu zeigen, dass Sieg und Niederlage ein und dasselbe Gesicht tragen."

 

Wenn überhaupt Floskeln genutzt wurden, dann wurde sie mit etwas Neuem garniert, z. B. hier:

 

"... die das Eis zwischen ihnen gebrochen hätten, und so wie ich Mummy kannte, wäre die Eisschicht eher noch dicker geworden"

 

Die Charakterisierung der Personen und auch dem Verhältnis untereinander ist sehr gut gelungen. Auch die Kriegsverläufe werden stets an besonderen Ereignissen festgemacht. So ist Lucys Bruder Hugh 1941 im Krieg gefallen. Zu einem Zeitpunkt, als dies schon "nichts Besonderes" mehr war. Für das einschneidendste Erlebnis ihrer Lebens hat sie daher kaum Mitgefühl erhalten - ein plötzlicher Tod war viel zu normal und betraf zu viele Menschen.

 

An vielen Stellen wird auch das extrem schwierige Verhältnis von Lucy zu ihrer Mutter sehr klar benannt.

 

Von Lucys Seite wird die Sexualität der Menschen durch Umwege benannt. Jemand, der homosexuell ist, ist für sie ein Athener. Römer sind heterosexuell. Mazedonier sind bisexuell. Dadurch, dass offenbar ihr geliebter Bruder Hugh bisexuell war, ist sie sehr offen und vorurteilsfrei, geradezu bemerkenswert entspannt mit dem Thema. 

 

Homosexualität ist verboten, auch wenn es selten verfolgt wird. Es kann jedoch ein gutes Druckmittel darstellen.

 

Einmal durchbricht Lucy die vierte Wand in ihrem Bericht:

 

"Wahrscheinlich haben Sie sich noch nie ernsthaft überlegt, was es wohl bedeutet zu wissen, dass jemand, der einem nahesteht, etwas Unaussprechliches getan hat."

 

Mein absoluter Höhepunkt des Romans kam bei ca. 70%, als Lucy und David mit der Köchin sprechen. Diese ist als Jüdin aus Polen geflogen, wo sie vormals ein gut laufendes Restaurant hatte. Sie hat ihren Mann und ihren Sohn verloren und den Tod ihrer Tochter beobachten müssen. Diese Figur bringt den Judenhass auf den Punkt, wie er wohl auch in unserer historischen Zeitlinie zu jener Zeit Realität gewesen ist. Es ist schrecklich und absolut mitreißend, ich musste außergewöhnlich viele Tränen vergießen. Sehr überzeugend. 

 

Es wird klar gezeigt, dass Carmichael (und auch die anderen Schwulen) sich in dieser Welt nicht outen kann. Zum Ende hin werden seine Gedanken etwas klarer und näher gezeigt, als würde der Roman zum Ende hin immer näher und näher an ihn heranzoomen und er würde sich mir als Leserin mehr öffnen. Handwerklich geschickt gelöst.

 

Der Krimi

Der Kreis der Verdächtigen kann recht bald auf die fünfzehn Personen beschränkt werden, die zum Todeszeitpunkt im Haus waren. Durch die zwei Perspektiven habe ich als Leserin zwar mehr Informationen als Carmichael - und auch mehr als Lucy - aber das hilft mir nicht viel. Ich bin trotzdem nicht sehr viel früher mit der Auflösung dran.

 

Entwicklung der Personen 

Anfänglich lese ich zwischen den Zeilen heraus, dass auch Carmichael nicht frei von Vorurteilen gegen Juden ist. Er fragt sich, was "Lucy Kahn [...] dazu gebraucht hatte, sich an einen Juden wegzuwerfen". Das ist längst nicht so heftig wie das, was einige andere Figuren denken oder sogar laut sagen. Ich habe den Eindruck, dass Carmichael im Laufe des Romans lernt, die Dinge differenzierter zu sehen. Allerdings erhalten wir vergleichsweise wenig Einblick in Carmichaels Gedanken, da die Erzählung diese nicht immer offenlegt.

 

Sympathisch macht Carmichael, dass er sich bewusst Gedanken um Menschen macht, so zum Beispiel um eines der Dienstmädchen in Farthing:

 

"Das arme Mädchen, musste den ganzen Tag bedrängt von Lady Eversley hin und her rennen und dabei noch die Zeit finden, über etwaige Vorlieben der Leute nachzudenken."

 

Plus, die Passage zeigt, dass Carmichael sein Temperament sehr im Griff hat und eben nicht cholerisch, sondern stets fair und ruhig reagiert:

 

"Carmichael fuhr Yately nicht an, der Arzt hätte nach allem Ungewöhnlichen Ausschau halten sollen. "Sagen Sie ihm, er soll noch einmal nachsehen", schlug er ruhig vor."

  

Anspielung auf real existente Personen

Abgesehen davon, dass natürlich Hitler und Churchill namentlich erwähnt werden, gibt es in dieser Zeitlinie in den USA einen Präsidenten Lindbergh. Der hier etwa? Harry S. Truman war es jedenfalls nicht.

Sherlock Holmes wird erwähnt, bis 1941 ist ja die Zeitlinie noch identisch.

Allerdings hat "ein Mann, der dieses Buch mit den Tieren geschrieben hatte, das vor ein paar Jahren so ein Renner war", einen "Science-Fiction-Schmöker mit dem Titel 1974" verfasst. Offenbar dachte der Autor, dass in seiner Realität der große Bruder zehn Jahre früher zum Tragen kommen würde.

 

Andere Rezensionen

Ralf hat den Roman für den Fantasyguide besprochen. Die Rezension ist noch frisch, offenbar fehlen die anderen beiden Bände ihm noch. Das beneide ich ja ein wenig.

Diversität

Na, wo soll ich anfangen? Die Hauptfigur ist schwul, was für die Handlung entscheidend ist. Einige andere sind ebenfalls schwul oder bisexuell. Das einzige, was mir nicht ganz einleuchtete, ist das erwähnte lesbische Paar, diese Erwähnung trug irgendwie zur Handlung nichts bei.

Plus, die Judenproblematik. Die wird extrem überzeugend dargestellt. Quäker spielen gegen Ende des Romans ebenfalls eine Rolle.

Harte Fakten

Titel Die Stunde der Rotkehlchen (Inspektor Carmichael 1) 
geschrieben von Jo Walton 
übersetzt von Nora Lachmann 
Erscheinungsjahr 2014  
Seitenzahl 296
Verlag Golkonda
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1433350536137428996 

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