Inhalt
Ich bin durch Zufall darüber gestolpert, da ich gerade recht viele Anthologien aus dem Bereich der SF im englischsprachigen Raum lese (oder vergnügt und ziellos darin herumschmökere). Speziell war ich auf der Suche nach Kurzgeschichten von Carol Emshwiller.
Hier ist aber die Qualität der Stories so hoch, dass ich dem mal eine Rezension gönnen kann und nicht nur interne Notizen. Bemerkenswert vor allem, dass ein halbes Dutzend der Geschichten zu den richtig guten Kurzgeschichten gehören, die ich nur selten finde!
Enthalten sind folgende Geschichten:
Stephen King (1986): The End of the Whole Mess
Orson Scott Card (1986): Salvage
Paolo Bacigalupi (2004): The People of Sand and Slag
M. Rickert (2003): Bread and Bombs
Jonatham Lethem (1996): How we got in Town and out again
George R. R. Martin (1973): Dark, Dark were the Tunnels
Tobias S. Buckell (2002): Waiting for the Zephyr
Jack McDevitt (1997): Never Despair
Cory Doctorow (2006): When Sysadmins Ruled the Earth
James Van Pelt (2002): The Last of the O-Forms
Richard Kadrey (2002): Still Life with Apocalypse
Catherine Wells (2001): Artie's Angelas
Jerry Oltion (2008): Jugdement passed
Gene Wolfe (2002): Mute
Nancy Kress (1990); Inertia
Elizabeth Bear (2005): And the Deep Blue Sea
Octavia E. Butler (1983): Speech Sounds
Carol Emshwiller (2006): Killers
Neal Barrett (1988): Ginny Sweetips' Flying Cirus
Dale Bailey (2004): The End of the World as We Know It
David Rowland Grigg (1976): A Song Before Sunset
John Langan (2007): Episode Seven: Last Stand Against the Pack in the Kingdom of the Purple Flowers
Fazit für Eilige
Ich habe nicht alle Geschichten zu Ende gelesen und einige zwar gelesen, habe aber nichts zu ihnen zu sagen. Die Qualität ist zwar durchwachsen, wie bei fast jeder Anthologie, aber es gibt erstaunlich viele Perlen.
Stephen King (1986): The End of the Whole Mess
Die kannte ich schon, so wie ich die allermeisten Werke von King bereits kenne, da er nach wie vor mein Lieblingsschriftsteller ist.
Allerdings hatte ich die Geschichte vor sehr langer Zeit gelesen, vielleicht war es sogar in den Neunzigern, als ich all seine damals verfügbaren Kurzgeschichtensammlungen verschlang.
Ich habe sie also erneut gelesen. Mit deutlich mehr Lese-Erfahrung vor allem im phantastischen Bereich hat sie mich wieder total begeistert. Zwar ist mir diesmal aufgefallen, dass mir einige Informationen und Details fehlen, aber das stört den Lesegenuss nicht weiter. Die Geschichte der beiden Brüder, von denen einer genial ist und die Menschheit endlich vor Gewalt retten will und vor allem die Pointe und wie sie geschrieben ist, hat mich wieder voll abgeholt.
Kürzlich hatte ich eine moderne, deutschsprachige Story gelesen, die mir davon inspiriert erschien, nämlich ENCE von Henrik Wyler. Außerdem erinnern beide Stories am Ende ein wenig an Blumen für Algernon von Daniel Keyes, ebenfalls eine überragende Short Story.
Paolo Bacigalupi (2004): The People of Sand and Slag
Auf den ersten Seiten war ich noch ein wenig verloren. Aber dann finden die Protagonist:innen den Hund und ich bin voll dabei. In dieser Welt der Zukunft gibt es eigentlich keine Tiere mehr, nur noch in Zoos und Laboren. Dieser Hund hat irgendwie überlebt. Die Menschen sind voll technisiert, Gliedmaßen wachsen einfach nach, Verletzungen heilen sofort. Der Hund aber ist so, wie wir ihn von heute kennen: sehr fragil und verletzlich. In der Zukunft teuer im Unterhalt, da er eben nicht - wie die Menschen in dieser Zeit - alles verträgt und einfach Sand essen kann.
Der Schluss hat mich ziemlich betroffen gemacht. Gerade weil ich ihn konsequent finde. Gute Story.
M. Rickert (2003): Bread and Bombs
Ui ui ui, das war gut. Verdammt guter Schluss. Gut erzählt. Ein bisschen erinnert mich das an andere Stories mit ähnlicher Prämisse wie "Die letzten Kinder von Schewenborn", nur dass Rickert hier weniger Raum benötigt und das Problem auch völlig anders angeht. Hat mich voll überzeugt.
Das erzählende Ich ist jugendlich. Nach 9/11 hat sich die Welt stark verändert, es tobt ein Krieg. Flugzeuge gibt es nur noch zur Kriegsführung. Selbst der Schnee kann giftig sein. Es gibt neue Nachbarn - offenbar arabischer Herkunft.
Die Jugendlichen treffen hier ihre eigenen Entscheidungen und kommen zu anderen Schlussfolgerungen als die Erwachsenen. Das Ende bleibt mir im Hals stecken. Kann ich nur bewundern.
Jonatham Lethem (1996): How we got in Town and out again
Motherless Brooklyn habe ich sehr genossen (das Buch mehr als den Film), die Kurzgeschichten waren bisher durchwachsen. Die Hauptfigur hier, ein Junge von etwa sechzehn Jahren, und einige Nebenfiguren haben mir ganz gut gefallen, der Plot hat mir allerdings nicht eingeleuchtet.
Cory Doctorow (2006): When Sysadmins Ruled the Earth
Abgesehen mal von der Story von King ist das hier bisher die beste dieser Sammlung. Sie lässt eine Schlusspointe vermissen (die von King ist wirklich heftig), steht ihr aber sonst ist nichts nach.
Stellt euch vor, die Welt geht unter, aber Google ist noch da.
Und das alles, weil überall auf der Welt (auch in der Google-Zentrale) einige tapfere System-Administrator:innen mittels Notstrom die Server am Laufen halten und sich gegenseitig via Chat auf dem Laufenden halten.
Wenn ich das lese, erinnere ich mich wieder daran, warum die Prosa dieses Autors wohl so beliebt ist. Er schafft es, seine Figuren auf einer halben Seite schon echt und sympathisch werden zu lassen. Ein Mann bekommt einen Anruf mitten in der Nacht, der Server ist down, er muss zur Arbeit. Seine Frau ist genervt, außerdem haben sie ein kleines Kind. Zack, ich bin sofort bei ihm.
Plus, die Idee hinter der Story ist gut: Was, wenn das Internet die Postapokalypse überlebt?
Dass jemand wie Doctorow (kenne bisher nur Rezensionen zu Romanen und einige Kurzgeschichten von ihm) so etwas schreibt, birgt für mich gleich das Versprechen, dass er sich damit gut auskennen wird.
Einige Stellen sind verdammt hart, so erfährt der Protagonist gleich zu Beginn einen schrecklichen Verlust, der gegen Ende erneut wichtig wird, und zwar so, dass ich tatsächlich richtig heulen muss (nun gut, ich bin bei dem Thema auch ein leichtes Opfer).
Catherine Wells (2001): Artie's Angels
Draußen ist alles verseucht. Wer zu lange der Sonne ausgesetzt ist (wobei "lang" sich wohl eher auf Monate oder gar Jahre bezieht), kann sterben. So auch der jüngere Bruder der Ich-Erzählerin, kurz bevor sie endlich einen Platz "under the shield" bekommen. Doch auch dort ist es inzwischen ziemlich heruntergekommen.
Die Charaktere sind lebendig, die Story ist gut erzählt, wenn sie mir auch so vorkommt, wie etwas, das ich schon oft ungefähr in dieser Art gelesen habe. Eine sehr klassische Story mit bekannten Motiven. Coming-of-Age in der Post-Apokalypse. Möglicherweise ist das Genre hier auch Young Adult und ich bin nicht jung genug.
Nichtsdestotrotz ist das Setting gelungen beschrieben und die Geschichte hat mich emotional mitgenommen, da muss ich nicht unbedingt eine originelle Idee geboten bekommen.
Gene Wolfe (2002): Mute
Von Gene Wolfe habe ich bisher zwei Short Stories gelesen, eine mit Weihnachtsgeschenken und eine, an die ich mich spontan nicht mehr erinnere. Der Roman "Schatten des Folterers" liegt seit gut einem Jahr auf meinem SuB, weil der Anfang mir so sperrig vorkommt.
Hier wird im Vorwort Neil Gaiman zitiert, der Tipps zum Lesen von Wolfes Prosa gibt. Einen Tipp habe ich nicht befolgt, und zwar habe ich die Geschichte nicht zweimal gelesen (obwohl das machbar gewesen wäre, sie dauert nur ca. zwanzig Minuten). Sie ist tatsächlich spannend - Bruder und Schwester kehren nach Hause zum Vater zurück, doch der Vater ist nicht mehr da (jedenfalls nicht wirklich).
Der Fernseher funktioniert anfangs noch, doch da sie die Fernbedienung nicht finden, bleibt er auf "mute". Mich stört, dass ein Ausschalten und wieder einschalten oder eine Bedienung der "Lauter/Leiser"-Taste am TV-Gerät das Problem behoben hätte bei allen Fernsehern, denen ich je begegnet bin, aber natürlich ist diese Story viel älter. Hat man das erst einmal geschluckt, ist es ein wirklich gelungenes Stück Plot. Auf der Welt ist irgendetwas los, aber sie kriegen es nicht mit, weil der Ton aus ist - und irgendwann wird nichts mehr gesendet.
Der Schluss ist - sofern ich ihn richtig verstanden habe - mindestens deprimierend, aber er ist mehr als das, schlimmer als das, und auf keine gute Weise. So wie ich ihn verstehe, ist er der Protagonistin gegenüber extrem übergriffig und ich kann es nur so interpretieren, dass sie nun in der Hölle lebt.
Die Reaktion ihres Bruders auf die Situation mag der Figur logisch erscheinen, für mich ist sie nur grausam mit einem Schuss Tragik. Diese Geschichte will ich keinesfalls erneut lesen.
Nancy Kress (1990); Inertia
Manchmal wird man belohnt. Gemeinsam mit der Story von King und Doctorow hebe ich diese hier aufs Treppchen. Sie hat ebenso viel Originalität und ist ähnlich gut geschrieben, wenn sie auch ein komplett anderes Thema behandelt.
Hier gibt es eine hochansteckende Krankheit, die sich hauptsächlich (aber nicht nur) durch Entstellung der Haut äußert. Sie ist aber nur in geringem Maße tödlich, einige werden damit auch sehr alt. So auch Sarah, die Ich-Erzählerin, die alt genug ist, um die Großmutter einer Sechzehnjährigen zu sein und mit Arthritis kämpft.
Alle Kranken leben abgeschirmt in einer Art Ghetto. Dort dürfen auch neue Babys geboren werden (von denen manche gleich zu Beginn krank sind) und Familien leben beisammen, es gibt gesellschaftliche Zusammenkünfte. Zwar erscheint mir das Leben sehr ärmlich und die Barracken sind eher baufällig und von Termiten befallen, doch die Menschen arrangieren sich damit.
Da draußen ("outside") geht es turbulenter zu, was die abgeschieden lebenden Menschen aber kaum mitkriegen. Eines Tages kommt ein Arzt ins Ghetto - ohne schützende Kleidung - und spricht von einer Heilung. Damit haben aber die Leute schlechte Erfahrung. Er bringt aber auch neue Erkenntnisse zu den Symptomen mit (und hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Kings Story zu Beginn der Sammlung).
Der Schluss ist extrem gelungen. Er wird auf eine Art und Weise aufgebaut, die mich absolut nicht mit dem letzten Satz hat rechnen lassen. Dieser letzte Satz gehört zu den besten letzten Sätzen, die ich je gelesen habe und er schießt diese Story von "richtig gut" in das Universum der Geschichte, die ich nie vergessen werde. Er ändert die Prämisse und die Bedeutung und Deutung der Geschichte enorm und bringt noch mal eine neue Ebene hinein, die vorher nur zwischen den Zeilen stand. Das ist genau das, was ich bei "Artie's Angels" vermisst habe. "Artie's Angels" kann man so weglesen - durchaus emotional beteiligt - aber dann kann man auch zuklappen und gut ist. Diese Geschichte hier wirkt nach und begleitet mich weiter.
Octavia E. Butler (1983): Speech Sounds
Ich habe Kindred gelesen und das hat mich nicht auf diese krass gute Kurzgeschichte vorbereitet, die ich hier finden durfte.
Die Protagonistin Rye ist mit dem Bus unterwegs zu überlebenden Verwandten. Eine Krankheit, deren Herkunft nur vermutet wird, hat weite Teile der Bevölkerung ausgelöscht und dem Rest wichtige Fähigkeiten genommen. Meistens Verlust der Sprache (sprechen und verstehen) und auch Lesen und Schreiben, oft auch kombiniert mit anderen Einschränkungen. Ryes Ehemann und auch ihre Kinder sind gestorben, seit drei Jahren ist sie alleine.
Es kommt zu einem Kampf in dem Bus, der dazu führt, dass die Fahrt in dem Bus nicht fortgesetzt werden kann. Dies ist ärgerlich, da Busse nur selten und unzuverlässig fahren. Rye gerät aber an einen Mann, der noch ein Auto besitzt und freundet sich mit ihm an - obwohl die beiden weder mündlich noch schriftlich miteinander kommunizieren können, lediglich mit einer recht rudimentären Zeichensprache.
Die Geschichte ist überzeugend, traurig, tragisch, spannend und bietet einen richtig guten Schluss. Ein weiteres Highlight.
Carol Emshwiller (2006): Killers
Ich habe diese Anthologie auf der Suche nach Stories von Emshwiller gekauft. Und ja, diese Story gehört zu den lohnenswerten, sowohl in dieser Anthologie, als auch im Vergleich zu ihren anderen Stories, von denen ich bereits zwei bis drei Handvoll kenne.
Dies ist eine dieser Stories, bei denen mir die Ich-Erzählerin sympathisch ist, sie allerlei erlebt, was mich ihr noch näher bringt - plus, Emshwillers Sprache ist einfach klasse - und dann tut die Ich-Erzählerin etwas Unverzeihliches aus absolut niederen Beweggründen. Sehr gut gemacht, geradezu verstörend und hundertprozentig abscheulich.
Dale Bailey (2004): The End of the World as We Know It
Der Protagonist, ein UPS-Fahrer, ist gleich mein bester Freund, ich genieße die Schilderungen seiner Morgenroutine und bin voll bei ihm, als er seine Familie tot im Bett entdeckt - und zunächst einmal fast jeder tot zu sein scheint.
Allerdings muss ich sagen, dass diese Geschichte keine neuen Aspekte und für mich neue Ideen bietet. Und keine akzeptable Schlusspointe.
Ja, die Figur ist sympathisch und ich fühle mit ihm und es ist sehr gut be- und geschrieben.
Aber Plot - Plot, wo bist du?
Die Erzählperspektive ist interessant, weil sich ständig ein ominöser Ich-Erzähler einbringt, mehr und mehr, und Dinge berichtet. Anfänglich hat das seinen Reiz, später dreht er ein wenig zu sehr auf und spielt sich in den Vordergrund.
Harte Fakten
Titel | Wastelands: Stories of the Apocalypse |
herausgegeben von | John Joseph Adams |
Erscheinungsjahr | 2013, aber die Stories sind teilweise deutlich älter |
Seitenzahl | 354 |
Anzahl Geschichten | 22 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1430481944194822146 |
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