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Broken Stars - Chinese SF herausgegeben von Ken Liu

Harte Fakten

Titel Broken Stars - Contemporary Chinese Science Fiction 
Herausgeber Ken Liu
Erscheinungsjahr 2019
Anzahl Geschichten 16
Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1428617961049362434

Inhalt

Fazit für Eilige

Ich mache es mal anders als sonst bei Kurzgeschichtensammlungen. Zwar liste ich alle auf, rezensiere aber nur jene, die mir sehr zusagten. Bei sechzehn Geschichten und mehr als 900 Seiten müssen nämlich gar nicht alle Stories gut sein, damit die Anthologie sich lohnt. Ich behalte mir sogar vor, einzelne Stories abzubrechen, wenn es gar nicht geht.

Ken Liu sagt selber, das sei kein Best-Of. Sein Kriterium war: "I enjoyed the story and though it memorable". Ob der Lesende letztendlich ebenfalls genießt, hängt dann lediglich davon ab, inwiefern sein Geschmack dem Lius ähnelt.

In der Science Fiction 2020 gibt es eine recht ambivalente Rezension. Die Rezensentin hat offenbar einige Geschichten sehr genossen, andere absolut nicht. Sie hat allerdings auch die deutsche Übersetzung "Zerbrochene Sterne" gelesen und einiges ihrer Kritik bezog sich ausdrücklich auf die Übersetzung.

 

Meine eigene Rezension beinhaltet nicht alle Geschichten, die drei fehlenden sind ganz unten aufgelistet.

 

Ich persönlich habe mir viel, viel Zeit zum Lesen genommen. Begonnen habe ich im Herbst 2020, abgeschlossen habe ich die Sammlung knapp ein Jahr später im August 2021. 

 

Da die Geschichten eine sehr unterschiedliche Länge haben, schreibe ich diese dazu

 

Xia Jia “Goodnight Melancholy”

~100 Seiten

Hier wird abwechselnd von Lindy und von Alan erzählt. Alan ist Alan Turing. Seit ich The Imitation Game damals im Kino gesehen habe, bin ich ein Fan von Turing. Der wird auch gern für SF-Geschichte hergenommen, in der Quantenträume-Anthologie habe ich seinen Namen gesehen und bei Maschinen wie ich von McEwan hat er sogar eine größere Nebenrolle. Alan hat am Ende seines Lebens die KI Christopher gebaut, mit der er sich unterhalten hat. Teile der Darstellungen entsprechen den Tatsachen, anderes ist Fiktion, so die Autorin. Alles liest sich sehr authentisch. Lindy hingegen ist die KI für die Ich-Erzählerin, die in Therapie ist und offenbar unter so etwas wie Depressionen leidet. Interessanterweise muss sie mit Lindy quasi Gassi gehen, da Lindys Augen eine Stunde Sonnenlicht pro Tag brauchen. Da frage ich mich natürlich, ob nicht vielleicht eher die Ich-Erzählerin raus muss, da Sonnenlicht auch gut gegen Depressionen ist. Immerhin ist Lindy so eine Art Therapie für sie. Lindy kann vor allem eines: zuhören. Eine weiter entwickelte KI als Christopher, der erste seiner Art und seiner Zeit weit voraus, aber dient demselben Zweck: Jenen zuhören, die einsam sind und sonst niemanden zum Reden haben.

Überhaupt: Merkt man denn, ob man einen Menschen oder eine Maschine vor sich hat? Ist es nicht am Ende ebenso hilfreich?

Viel passiert hier nicht, das ist richtig. Doch es ist überaus schön zu lesen und mit einer schönen Botschaft.

 

Liu Cixin "Moonlight"

~34 Seiten

Nach etlichen Interviews, Essays und Rezensionen zu Cixins Werk ist das nun das erste Mal, dass ich tatsächlich etwas von ihm lese. Und. Wow. Ich bin völlig geflasht. (Nachtrag: Mittlerweile habe ich recht viel anderes von ihm gelesen und diese Short Story ist tatsächlich noch immer das beste, das ich von ihm kenne.)

Der Protagonist hat einen schlechten Tag. Seine große Liebe heiratet - jemand anderen. Er sitzt zu Hause, trübsinnig, dann erhält er einen Anruf. Der Anrufer weiß Dinge über ihn, die nur er selber wissen kann. Und ja - es ist er selber. Aus der Zukunft. Mit einem Auftrag.

Mehr möchte ich zum Inhalt nicht sagen, weil es mich etwas ärgert, dass die Rezension im Science Fiction Jahr 2020 mich hier gespoilert hatte (inklusive Pointe!) und ich euch nicht dasselbe antun möchte. Die Story ist lesenswert, perfekt rund und bietet so viel, man hätte einen Roman daraus machen können. Außerdem enthält sie sehr überzeugende, technische Details und eine gute Nase für Klima-Dystopien.

 

Tang Fei "Broken Stars"

~40 Seiten

Ich habe mich lange Zeit gefragt, was daran phantastisch sein soll und worum es überhaupt geht. Die Atmosphäre ist irgendwie beklemmend und dadurch interessant und es ist einfach verdammt gut geschrieben, daher blieb ich bei der Stange und wurde durch ein absolut nicht vorhersehbares Ende belohnt. Diese Ideenwelt ist einfach großartig! Die Geschichte dieser Autorin lohnt sich sehr. (Die Rezension in der Science Fiction 2020 behauptet übrigens das genaue Gegenteil.)

 

Han Song

"Submarines"

~19 Seiten

Schöne Sprache. Ein Junge beobachtet gern die U-Boote, die vor dem Strand liegen. Es kommt selten zu Interaktion und Dialogen, die meiste Zeit wird nur beobachtet. Dann passiert auch etwas, das beschrieben, aber nicht weiter erklärt wird. Ich weiß nicht, was mir die Story sagen soll, kann aber durchaus bewundern, wie sie Atmosphäre erzeugt und mit Sprache umgeht.

"Salinger and the Koreans"

~16 Seiten

Zunächst wird - vermutlich zutreffend - Salingers Werdegang und Leben als Eremit beschrieben. Dann - sicherlich unzutreffend - wie die Koreaner die Weltherrschaft erlangen und mit Salinger umgehen. Durchaus unterhaltsam und ein wenig abgefahren. Interessant auch, einen Chinesen über Koreaner schreiben zu lassen.

 

Cheng Jingbo "Under a dangling sky"

 ~30 Seiten

Ich wusste nicht, dass es viele griechische Mythen über Delfine gibt. Diese Kurzgeschichte hängt mit der von Arion zusammen. Wenn ich auch zunächst den SF-Zusammenhang nicht verstanden habe, wird dieser dann kurz vor dem Schluss deutlich. Sehr deutlich. (In der Rezension im Science Fiction Jahr 2020 wird über diese Story sehr laut geschwiegen.)

 

Baoshu "What has passed shall in kinder light appear"

~158 Seiten

Der Autor hat hat der KU Leuven in Belgien Philosophie studiert, diese Geschichte erschien sogar als erstes auf Englisch (und bisher nicht auf Chinesisch). Laut Ken Liu ist sie dennoch sehr chinesisch. Vom Vorwort bin ich etwas abgeschreckt, weil es heißt, ich könne der Kurzgeschichte mehr abgewinnen, wenn ich mich mit chinesischer Geschichte auskennte. Nun - ich weiß fast nichts über chinesische Geschichte! Trotzdem wage ich mich heran und siehe da: Es ist schön geschrieben und ich verstehe alles (mehr als bei einigen vorangehenden). Vielleicht gibt es noch mehr Ebenen, die mir entgehen, aber es gibt mir dennoch ausreichend und ich genieße das Lesen sehr.

In gewisser Hinsicht ist die Geschichte sehr aktuell - die erste SARS Epedimie in China 2002/2003 spielt in Kapitel 1 kurz eine Rolle und dient als eine Art Initiation für schlimmere Ereignisse im Leben des Ich-Erzählers.

Es ist einfach so schön, dass ich versucht bin, zukünftig mehr von diesem Autor zu lesen. Er beschreibt einen Ich-Erzähler beim Aufwachsen mit Schwerpunkt auf erste Liebe und politisches Engagement. Die Geschichte beginnt Anfang des Jahrtausends mit ähnlichen Voraussetzungen wie wir sie vor zwanzig Jahren hatten - 11/09 ist erwähnt, Hussein und Bin Laden. Dann aber nimmt die Geschichte einen ganz anderen Lauf: Amerika verliert an Einfluss, bricht ein. Internet und Handys hören auf, selbstverständlich zu sein und hören schließlich komplett auf zu funktionieren. Peking hat keinen Smog mehr: Die Kinder spielen draußen. Der Ich-Erzähler lebt in einer Parallelwelt mit den technischen Möglichkeiten der Achtziger Jahre: es gibt nur Festnetztelefone und längst nicht jede:r hat einen Fernseher. Beim Lesen musste ich doch oft schmunzeln, wenn über Ereignisse geschrieben wurde, die entweder nie oder jedenfalls nicht zu dem in der Geschichte genannten Zeitpunkt geschehen sind. Das macht einfach Spaß und oft bin ich versucht, Dinge nachzuschlagen. In dieser Geschichte wurde Hussein zum Beispiel nicht 2006 hingerichtet, sondern vorher befreit.

Die uns bekannte Geschichte geht rückwärts - der kalte Krieg kommt nach SARS, es gibt erst Star Wars Episoden 1 bis 3 und später erst die vierte.

Witzige Trivia: An einem Punkt gelingt es dem Ich-Erzähler die gesamte SF zu lesen, die es in chinesischer Sprache zu kriegen gibt. Das würde ihm im 2020 dieser Realität wohl nicht so leicht gelingen.

Ich bin nicht die einzige, der diese Geschichte gefällt. Hier ist eine begeisterte Rezension, außerdem wurde sie für den Kurd-Laßwitz-Preis 2020 nominiert.

 

Hao Jingfang "The new year train"

~12 Seiten

Die Botschaft kam am Ende etwas zaunpfahl-mäßig (auch wenn ich ihr durchaus zustimme). Unterhaltsame Story über das Reisen und in der Interviewform auch spannend gemacht.

Besser hat mir jedoch die Geschichte dieser Autorin in der Quantenträume-Anthologie gefallen.

 

Fei Dao "The Robot who liked to tell tales"

~51 Seiten

 Es fängt wie ein Märchen an. Ein König, der niemals lügt, ein wundervolles, friedliches Königreich. Sein Sohn und einziger Erbe lügt aber nur. Durchaus amüsant - er erfindet quasi Geschichten, alle amüsieren sich köstlich - aber dennoch macht sich der König Sorgen. Als der König dann stirbt und der Sohn übernimmt, geht erstmal auch alles gut, obwohl der neue König ständig lügt und durchaus wieder Betrüger und Verbrecher im Land sind. Nach einer Weile macht sich der Sohn Sorgen um seine Reputation. Er möchte jemanden finden, der schlimmer lügt als er selber - denn niemand interessiert sich je für den Zweiten in einer Kategorie, oder? Da kommt dann der Robot ins Spiel...

Deutlich besser als diese hat mir allerdings die Story vom selben Autor in der Quantenträume-Anthologie gefallen.

 

Anna Wu "The restaurant at the end of the universe: Laba porridge"

Hier gibt es eine Geschichte innerhalb der Geschichte, die der (Zieh-)Vater der Protagonistin erzählt. Dort geht es um einen Autor, der zwar arm ist (und offenbar auch nicht viel Talent hat), aber eine Frau, die ihn über alles liebt. Er gewinnt von vier talentierten Schreibenden die jeweiligen Haupt-Talente, aber ratet mal was er dafür aufs Spiel setzt?

Das Konzept ist vielleicht nicht ganz neu, aber bietet ein paar neue Ideen und eine interessante Dimension durch die beiden Figuren in der Rahmengeschichte am Restaurants am Ende des Universums.  

 

Gu Shi "Reflextion"

Ein Ich-Erzähler (Ed) und sein Kumpel Mark besuchen eine Hellseherin. Die Szenen sind allesamt toll geschrieben, die Idee fasziniert mich sofort. Jemand, der rückwärts durch die Zeit geht und sich quasi an die Zukunft erinnert. Auch wenn die Idee nicht ganz neu ist, ist sie doch sehr schön umgesetzt und der Schluss setzt noch einen drauf und bleibt im Gedächtnis.

Eines der Highlights. 

 

Regina Kanyu Wang: "The Brain Box"

Sehr interessant in zweierlei Hinsicht: Zunächst einmal sind die beiden Perspektiven trotz der Kürze dieser Geschichte perfekt gewählt. Ein Mann, eine Frau - sie verband eine Beziehung. Die Frau hatte eine "Brain Box", die ihre Gedanken aufzeichnet und sie danach erlebbar machen. Der Mann hört sich die letzten fünf Minuten an.

Die Idee der Brain Box hat mir sehr gut gefallen.

Aber der Clou ist der Schluss. 

 

Danach kommen noch drei Essays, die sich mit dem chinesischen Fandom und der chinesischen SF beschäftigen. Da ist echt massig was los. Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass die SF in China einen viel höheren Stellenwert hat als hierzulande - oder sogar im anglo-amerikanischen Raum.

 

Sonstige enthaltene Geschichten, die ich bei meiner Rezension aus unterschiedlichen Gründen ausgespart habe:

  • Zhan Ran "She snow of Jinyang" (laut der Rezension in der Science Fiction 2020 eine der beiden besten Geschichten in dieser Anthologie)
  • Ma Boyong "The first emperor's games" (Damit konnte ich nichts anfangen, weil mir Gaming nicht so liegt)
  • Chen Qiufan "Coming of Light" und "A History of Future Illness" (Das wirkte irgendwie zu sachlich auf mich)

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