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Ich habe bei Twitter nach Literaturtipps zum Thema Klone gesucht. Eigentlich auch ganz eng zum Thema: "Kind stirbt und Eltern ersetzen es durch Klon." Da ich von Ishiguro bereits drei Romane gelesen habe und einer davon auch das Thema Klone spenden Organe behandelt, habe ich mich sofort auf diesen hier gestürzt. Plus, es ist brandneu, erst in diesem Jahr erschienen!
Zum Glück ist das Thema dann doch nicht wie bei der Kurzgeschichte, an der ich mit einer Autorenkollegin arbeite. Das wäre ärgerlich gewesen, denn schließlich steht "Klara und die Sonne" gerade bei den SF-Romanen auf Platz 1 der Bestsellerliste. Vielmehr soll ein sterbendes Kind durch eine KI ersetzt werden, eher ähnlich wie bei dem Film AI, der auf einer ähnlichen Kurzgeschichte basiert, die ich kürzlich gelesen habe.
Wir hatten früher einen Großmeister im Taekwondo in Norddeutschland. Als ich noch neu war, sagte mir jemand, wenn ich dem eine Frage stelle, müsse ich Zeit mitbringen. In der Tat, wenn ich jenem Mann (inzwischen leider verstorben) eine Frage stellte, holte er immer sehr weit aus. Es war auch egal, wie spät es war und dass ich oft tropfnass vom Training vor ihm stand, in freudiger Erwartung einer Dusche - er antwortete vollständig und so ausschweifend, wie er wollte.
Ähnliche Warnungen würde ich heutzutage gern für Ishiguro aussprechen: Bei Ishiguro musst du Zeit mitbringen. Oftmals ist es das wert. Wenn zum Beispiel die ganze Action im Kopf stattfindet wie bei "Alles was wir geben mussten" oder der Ich-Erzähler deutlich weniger schnallt als ich als Leserin wie bei "Was vom Tage übrig blieb". Nicht ganz so glücklich war ich mit der extremen Langsamkeit bei "Der begrabene Riese", auch wenn ich gern einräume, dass einiges vom Inhalt hochinteressant war und gut im Gedächtnis blieb.
"Klara und die Sonne" würde ich nicht als das beste Werk von Ishiguro bezeichnen. Dabei hätte es eine extrem gute kurze Erzählung werden können. Der Plot ist durchaus einprägsam und das Thema heftig, so heftig, dass ich mit einigen Figuren inhaltlich kaum mitgehe - ganz zu schweigen von moralisch. Das kann ich schwerlich besprechen ohne zu spoilern und ich glaube, wenn ich den Inhalt in fünf Sätzen zusammenfassen würde (was möglich wäre), dann kann man sich das Lesen sparen. Es macht aber den größten Reiz aus, sich das Rätsel des Plots selber stets kurz bevor es offensichtlich wird, zusammenzureimen. Daher zu diesen Gedanken unten vor der Spoilerwarnung.
Die Perspektive ist eine KF (künstliche Freundin) namens Klara, die sich offenbar von Sonnenstrahlen ernährt (Solarstrom). Oft ist vom "Muster der Sonne" die Rede. Im recht uninteressanten ersten Teil steht sie noch im Geschäft. Zwar sehe ich, dass es einen Reiz hat, zu bangen und zu hoffen, ob denn endlich jemand sie kaufen will, obwohl sie nicht das neueste Modell ist - doch es zieht sich. Dann wird sie endlich erwählt, von dem Mädchen Josie. Josie ist allerdings krank.
Vieles bleibt zunächst im Verborgenen und muss mühsam (und voller Lesefreude) selbst erschlossen werden, wobei es - im Gegensatz zu den Rätseln in "Der begrabene Riese" - auch gelöst und offen benannt wird. Es ist allerdings eindeutig zu langatmig für meinen Geschmack ist. Natürlich steht mal wieder viel zwischen den Zeilen und das schätze ich bei diesem Autor auch sehr. Die KF Klara ist die Ich-Erzählerin und oft merkt man, dass es sich eben nicht um einen Menschen handelt, weil sie die Welt anders sieht, in Kästchen oder Rechtecken. Das ist originell und gefällt mir. Manche Vokabeln, die sie nutzt, sind auch sehr speziell, als wäre ihr Wortschatz nicht vollständig und sie würde für einiges eigene Worte finden.
Zudem hält sich Klara mit Interpretationen oft zurück, beobachtet aber sehr gut. Solche Sätze wie (frei wiedergegeben, da ich ja nur das Hörbuch habe) "Er starrt weiter auf das Bild, obwohl es mit der Rückseite nach oben auf dem Tisch liegt" sind wirklich großartig. Dann gibt es keinen Infodump, es spielt in der Zukunft, aber nichts wird erklärt. Was bedeutet es denn, wenn ein Kind "gehoben" wird? Wie groß ist Klara eigentlich genau? Klein genug, dass man sie werfen könnte, aber groß genug, um normal im Auto zu sitzen?
Die Perspektive der Klara ist natürlich sehr gut gewählt. Wenn ein Mensch diese Geschichte erzählt hätte, erst recht aus der Ich-Perspektive, wäre dieser gezwungen gewesen, moralisch Stellung zu beziehen. Bei Klara kann ich akzeptieren, dass sie sich zurücknimmt. Mehr dazu unten im Spoiler-Teil.
Witzig finde ich, dass der Engländer Ishiguro diesen Roman offenbar in den USA spielen lässt.
Am Ende des Romans habe ich mich gefragt, ob ich etwas verpasst habe. Ob es einen tieferen, hintergründigen Sinn gegeben hat, der mir entgangen ist. Immerhin gab es bei "der begrabene Riese" doch noch eine zweite Schicht. Aber hier scheint es keine zu geben - oder niemand entdeckt sie. Mit dieser Rezension gehe ich weitgehend mit. Auch ich würde hier nicht mehr als drei Punkte geben. Die anderen Romane von Ishiguro, die ich kenne, waren alle besser.
Die Sprache ist auch großartig, wir haben es immerhin mit einem Literaturnobelpreisträger zu tun. Ich bin auch längst nicht fertig mit Ishiguro, trotz meiner vielen Abstriche, die ich bei ihm oft machen muss, was meinen Lesegeschmack betrifft. Dennoch brauche ich mal eine längere Pause von diesem Autor und würde diesen Roman auch nicht als Einstieg für Ishiguro empfehlen. Das wäre "Alles was wir geben mussten".
Diversität
Es geht um ein krankes Kind. Es kommt ein anderes Kind vor, Rick, der in der dargestellten Gesellschaft diskriminiert ist, weil er nicht "gehoben" ist. Auch wenn ich nicht begreife, worum genau es da geht. Offenbar ist das "gehoben werden" freiwillig und verbessert die kognitiven Fähigkeiten des Kindes, ist aber mit einem Risiko verbunden.
Achtung Spoiler! Reflexionen
Ich bin selber Mutter. Auch ich habe schon getrauert (wenn auch zum Glück nicht um ein eigenes Kind). Auch ich habe schon gewusst, dass jemand sterben wird und es wäre womöglich genügend Zeit gewesen, einen künstlichen Menschen zu konstruieren, wenn wir denn in einer Welt leben würden, in denen das möglich ist.
Heftig ist natürlich, dass Josies Eltern ihre Schwester bereits verloren haben. Sie haben das also bereits durchgemacht und sind im Begriff, es erneut zu erleben. Das macht die Situation natürlich speziell. Doch inwiefern soll es helfen, jemand künstlichen Josie "fortsetzen" zu lassen? Erst recht jemanden, den man bereits kennt (Klara). Man weiß doch tief im Innern, um wen es sich wirklich handelt?
Nachvollziehen könnte ich, wenn sie Klara als Klara behalten (also, vor allem die Mutter, der Vater ist ja ausgezogen), um eine Trauerbegleitung zu haben, um nicht alleine zu sein. Aber Klara in einer Hülle, die wie Josie aussieht und während sie so tut, als wäre sie Josie? Dann kann Chrissie (Josies Mutter) ja gar nicht vernünftig über ihre Trauer sprechen. Sie muss ja so tun, als sei Josie noch da. Dieser Plan erscheint mir doch seine Lücken zu haben. Ich bin sogar in höchstem Maße angegruselt. Wenn ich mir vorstelle, jemand in meiner Nähe würde diesen Weg wählen, damit könnte ich nicht umgehen.
Eigentlich finde ich sogar die Entscheidung, ein gestorbenes Kind klonen zu lassen, sehr seltsam. Das ist dann aber immerhin ein lebendiges Kind, das sowieso wieder seine eigene Persönlichkeit entwickelt und sich vermutlich recht bald vom Original abhebt. Plus, das ist dann ein lebendiger Mensch. Das war das, was ich eigentlich lesen wollte, aber offenbar ist das schwer zu finden.
Harte Fakten
Titel | Klara und die Sonne |
geschrieben von | Kazuo Ishiguro |
übersetzt von | Barbara Schaden |
Erscheinungsjahr | 2021 |
Seitenzahl | 276 |
Länge Hörbuch | 10 Std. 20 |
eingesprochen von | Johanna Wokalek |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1421001346107518976 |
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