Inhalt
Fazit für Eilige
Sechs Space Novellas von deutschsprachigen Autor:innen. Alle etwa hundert Seiten lang.
Was bedeutet es für den Zusammenhalt, wenn man monate- oder gar jahrelang auf engstem Raum zusammenarbeiten und leben muss? Die Gefahren sind mannigfaltig:
Crew-Annihilation, psychische Probleme, gar Verlust der Persönlichkeit. Es birgt ebenso Chancen: Freundschaften, romantische Beziehungen (auch ggf. zu Aliens), neue Welten entdecken, über den Rand des eigenen Raumschiffs schauen.
Bemerkenswert ist, dass jede der Erzählungen ein Thema hat, einige klarer als andere, aber alle haben eine Prämisse.
Die klarste ist hier aus meiner Sicht Axel Aldenhovens "Paradies", was ich als klares Statement gegen unbändige Lust auf Fleisch und der damit verbundenen Notwendigkeit der Massentierhaltung lese. Allerdings handelt es sich hier nicht um Tiere. Gezüchtet und geschlachtet werden Klone, menschenähnlicher Geschöpfe, die denken und fühlen - und sich wehren können. Zwar mag das Thema hier recht plakativ sein, doch der Plot und Aufbau der Geschichte ist überzeugend und bietet so einige Wendungen und gute Ideen, für die sich auch Agatha Christie nicht geschämt hätte.
Galax Acheronians "A-204" setzt sich mit Speziesismus auseinander (nicht zum ersten Mal in seiner Prosa und sicherlich auch nicht zum letzten Mal). Seine Erzählung spielt auf der Baustelle einer Raumstation, in dessen Nähe eine Anomalie entdeckt wird. Ein Alien ist bereits Teil des Teams, ein weiteres (von einem anderen Planeten) stößt zu Beginn der Geschichte dazu. Die Perspektive der Aliens ist bestens gelungen, die Andersartigkeit und Fremdheit dieser Wesen kommt mir gegen Ende der Geschichte vertrauter vor als die der menschlichen Besatzungsmitglieder. Darüber hinaus ist die Idee hinter der Geschichte bemerkenswert, ich würde sogar sagen: Das habe ich so noch nie gelesen, obwohl ich Geschichte zu diesem Thema (kann leider jetzt nicht spoilern) seit Jahrzehnten liebe.
Aiki Miras "Wir werden andere sein" lebt von den diversen Charakteren, den liebevollen Details, was Figuren, Raumschiff und auch zu erkundenden Mond betrifft und kann ebenfalls einige rasante Plotwendungen aufweisen. Der Beginn der Geschichte mag ein wenig zu harmonisch sein, was aber wieder stimmig wird, wenn man die Geschichte in der Gesamtheit kennt und als Gegensatz zu den lebensbedrohlichen Ereignissen in der zweiten Hälfte der Erzählung sehr gut funktioniert.
Schön auch die Hauptfigur Marlon, der alles andere ist als der typische männliche Held und gerade dadurch sehr sympathisch wird, obwohl (oder gerade weil) er sich manchmal vergeblich bemüht, dieses Klischee zu erfüllen. Am Ende ist aber die asiatische Transfrau Rain meine persönliche Heldin, da mir ihre Konflikte am nächsten gehen.
Maike Brauns "Daryo Spritz" lese ich als eine Coming-Of-Age-Geschichte der Ich-Erzählerin Ella. Was wie eine nachmittägliche Spritztour durchs All beginnt, mündet in einem lebensgefährlichen Aufenthalt auf einem den Figuren sehr fremden Planeten. Durch die Augen der Hauptfigur lerne ich als Leserin den Planeten in all seiner Fremdheit kennen - denn auch für mich ist er fremd, doch für die Figuren in der Erzählung erst recht, da sie aufbereitete Luft und ein Leben unter Kuppeln gewohnt sind. Die Menschheit hat Terra nämlich schon vor circa fünfhundert Jahren verlassen.
Dimitrios Kasprzyks "Lambda One" beginnt mit einem sehr tragischen Prolog, der auch das Thema der Erzählung nahelegt. Tut eine KI immer das, was der Mensch gern möchte? Bzw. ist sie den Aufgaben gewachsen. Und wenn etwas schief geht, liegt das dann nicht letztendlich an der Programmierung, die eben ein Mensch vorgenommen hat? Doch das Thema bleibt hier nicht stehen und entwickelt sich auf vielschichte Art und Weise weiter.
Stefan Lochners "Sehnsucht Eden" dreht sich um die Reise unterschiedlicher Parteien zu einem bewohnbaren Planeten namens Eden. Dabei werden zu Beginn der Erzählung Rätsel aufgeworfen: Eden hat eine Atmosphäre und atembare Luft. Warum aber hat sich dort bisher niemand niedergelassen? Darüber hinaus legt das Setting eine Feindschaft zwischen Androiden und Menschen nahe. Androiden unterwandern eine menschliche Crew und treffen Maßnahmen zur Verschleierung ihrer wahren Identität - sich gegenseitig können sie hingegen sehr leicht entlarven, umso schwerer fällt es den Menschen, die feinen Unterschiede wahrzunehmen.
Generell gefallen mir jene Geschichten besser, bei denen die Figuren und die Figurenentwicklungen im Vordergrund stehen, die beiden besten Stories mit diesem Fokus sind "Wir werden andere sein" und "Daryo Spritz". Ebenso begeistern kann ich mich aber für jene Erzählungen, die ebenfalls spannende Figuren beinhalten, und eher sehr klare Prämissen mit unerwarteten Wendungen verfolgen wie "A-204" und "Paradies".
Schade fand ich, dass es kein Vorwort gab. Ich lese gern Vorworte. Man kann aber den Klappentext als Orientierung nutzen, dann weiß man auch Bescheid.
Detaillierte Rezensionen der sechs Erzählungen
Hier kann ich etwas weiter ausholen.
Dimitrios Kasprszyk: Lambda One
Beim Lesen des sehr spannend geschriebenen ersten Kapitels merke ich, dass mich SF auf festem Grund und Boden doch schneller erreicht. Eine vorerst namenlose Figur (ein "Er") hat seine Tochter Hannah an einen Unfall verloren und er gibt halb seinem KI-Assistentin die Schuld - weil er sie nicht retten konnte - und halb sich selber, weil er die KI programmiert hat. Da ahne ich schon das Thema der Geschichte.
Ab dem zweiten Kapitel spielt auch diese Story im All - ist ja schließlich irgendwie auch Thema hier. Es gibt gleich ein ganzes Aufgebot an Figuren, der Kapitän, Maschinenmänner und mehr Personal, teilweise mit Hintergrundgeschichten und ich muss erst einmal sortieren, wer von den Figuren wichtig wird und wer nur eine Nebenfigur ist. Spannend fand ich einige Hintergründe zu Figuren, beispielsweise zu den Pionieren, die keine Familie gründen dürfen, aber sofern sie schon eine haben, noch Pionier werden dürfen.
Zu einigen Figuren gibt es gut erinnerbare Details, so hat beispielsweise Kapitän Borne dickes Narbengewebe. Gerade wenn der Cast so riesig ist, brauche ich solche Information zur Orientierung. Allerdings erschlägt mich dann die Figurenvielfalt doch ein wenig zu sehr und die Story ist auch zum Ende hin nicht gerade unkompliziert zu lesen. Das ist nichts für nebenher.
Der Autor war übrigens 2020 für den DSFP nominiert.
Maike Braun: Daryo Spritz
Die Ich-Erzählerin Ella berichtet hier in der Vergangenheitsform von einem Ausflug mit Konsequenzen. Die Geschichte spielt in der weit, weit entfernten Zukunft (die Menschheit hat Terra vor circa 500 Jahren verlassen) und die jungen Leute, um die es hier geht, halten sich in der Regel unter Kuppeln auf und atmen aufbereitete Luft.
Es ist für sie ungefähr so normal, mal eben schnell mit einem Gleiter durchs All zu fliegen und mit ein paar Sprüngen Entfernungen von einigen Lichtjahren zu überbrücken wir für uns auf der Erde 2021, mal mit dem Auto fünfzig Kilometer bis zum nächsten Strand zu fahren.
Die sechs jungen Leute landen auf dem Planeten Daryo - ob von einer der Figuren beabsichtigt oder eher zufällig, bleibt lange offen. Das Erleben wird sehr authentisch dargestellt, es gibt gefährliche Situationen und Verdachtsmomente, Möglichkeiten für mich als Leserin, mitzudenken und selber Vermutungen anzustellen.
Das Personal ist hier etwas übersichtlicher als in einigen der anderen Geschichten.
Die Ich-Erzählerin Ella ist mit Roxy befreundet, wobei die Freundschaft zu Beginn der Geschichte davon überschattet wird, dass Roxys Mutter Ella angeraten hat, sie solle auf Roxy aufpassen. Die solle nicht so viel Mist anstellen. Das hat insofern einen schalen Beigeschmack, weil Roxys Mutter beruflich Macht über Ellas Mutter hat und Ella daher nicht wirklich die Möglichkeit hatte, diese Bitte abzuschlagen.
Roxy steht aufgrund ihrer jüngsten Vergehen unter Hausarrest, langweilt sich aber. Durch eine List bricht sie aus und verschwindet mit ihren Freund:innen, u. a. eben auch Ella, ins All.
Roxy und Ella haben noch den zugedröhnten Lodovico dabei, Kiílon, Suzie und ihr kleines Kaninchen und Doron, der mit 17 mal beim Militär war. Alle sind noch sehr jung und wissen noch nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Die meisten von ihnen hatten aber schon Gelegenheitsjobs oder haben soziale Arbeiten übernommen.
Warum Ella überhaupt mit Roxy befreundet ist, leuchtet mir nicht so recht ein. Diese scheint sie nicht sehr respektvoll zu behandeln, spricht sie stets mit "Ellalein" an, ist ungeduldig mit ihr und insgesamt nicht sehr nett. Ella hingegen ist eifersüchtig, weil Roxy Doron näher zu kommen scheint (wobei angedeutet wird, dass das nur freundschaftlicher Natur ist, oder sogar ganz andere Gründe haben könnte). Romantische Gefühle von Seiten Ella zu Roxy habe ich nicht herausgelesen. Vielleicht ist das eine von jenen langen Freundschaften, die so sehr Status Quo geworden sind, dass man nur schwer von ihnen ablassen kann. Es ist ja nicht so, dass ich das nicht kennen würde.
Gerade zu Anfang der Erzählung wird kräftig Weltenbau betrieben und es scheint einiges an Phantasie durch. Das wird geschickt in die Handlung eingebaut, keinesfalls habe ich irgendwo InfoDump bemerkt. Stattdessen gibt es solche netten Einschübe:
..."irgendwelche Deppen dröhnen dich zu und irgendwann bist du selbst so zugedröhnt, dass du zu Boden stürzt wie ein Baum, an dem gerade eine Kettensäge angesetzt hat."
Zumindest war das Roxy das letzte Mal passiert, als sie einen Club besuchte.
"Was ist ein Baum?", fragte Suzie.
Ganz besonders ist mir das bei der Schilderung des Wesens "Krx" aufgefallen, dass ganz zu Anfang fast die Abreise der jungen Leute verhindert. Außerdem gibt es eine DI (Dienstbare Intelligenz). So gut wie die Autorin die Welt zu kennen scheint, würde ich mich nicht wundern, wenn auch andere Romane und/oder Erzählungen von ihr dort spielen. Auch die Sprachen, die gesprochen werden (z. B. Guanhuà), verweisen auf einen gut durchdachten Hintergrund.
Der fremde Planet Daryo wird auch gekonnt so nebenher näher charakterisiert, so gibt es dort beispielsweise einen Doppelvollmond.
Sprache, Metaphern und Erzählweise gefallen mir, ich kann gut folgen, was für die gekonnte Routine der Autorin spricht, auch fremde Welten für mich als Leserin gut begreifbar zu machen.
Schön recherchiert sind auch die Details zum Körperbau der sechs Hauptfiguren, die teilweise in anderer Schwerkraft aufgewachsen sind und davon ihre muskuläre Struktur und der Körperbau beeinflusst wurde.
Nach kurzer Recherche stelle ich auch fest, dass ich von der Autorin bereits einiges gelesen habe, z. B. in der Exodus oder in der Diagnose F Anthologie. Diese Erzählung hat mir bisher am besten gefallen.
Ist auch hier eine Fortsetzung geplant?
So gäbe es vielleicht noch einiges über Ellas Vater aufzudecken?
Insgesamt würde ich das eher als Coming-of-Age oder Entwicklungsroman aus Sicht von Ella verstehen, die sich langsam von ihrer Freundin Roxy emanzipiert und gegen Ende der Erzählung eine Idee dazu entwickelt, was sie aus ihrem Leben machen möchte.
Auch in dieser Erzählung kommt eine Anomalie vor, allerdings hat sie nicht die zentrale Rolle und Bedeutung wie in "A-204". Außerdem kommt Speziesismus zur Sprache, eine weitere Gemeinsamkeit mit "A-204", wobei auch das hier eher eine Nebenrolle spielt.
Galax Acheronian: A-204
Von diesem Autor habe ich bereits "Verloren auf Firr'Dars" (nominiert für den Kurd-Laßwitz-Preis 2020) gelesen.
Diese Geschichte spielt im Jahre 2488 mitten im All, auf einer Raumstation, die sich noch im Bau befindet. In der Nähe der Baustelle befindet sich eine Anomalie, die die Aufmerksamkeit der Figuren erregt.
Meiner Ansicht nach hat dieser Autor eine ganz klare Stärke. Er kann sich in Außerirdische hineinfühlen und überzeugend aus ihrer Sicht schreiben. Das macht sie für uns begreifbar und nachvollziehbar, trotz der Fremdheit, die er durchaus hervorhebt. Dazu gibt es in "A-204" (und auch in "Verloren auf Firr'Dars") Figuren, die extrem fremdenfeindlich sind und Aliens unter Generalverdacht stellen. Dadurch, dass wir beim Lesen die Position der Aliens miterleben und Empathie entwickeln, kommt uns diese Fremdenfeindlichkeit umso abscheulicher vor - jedenfalls ging es mir beim Lesen so.
Dabei spielt "A-204" in einer Zukunft, in der der Umgang mit Aliens für uns Menschen eigentlich ganz normal ist. So wie es geschildert wird, sind die meisten außerirdischen Kulturen auch deutlich älter und fortgeschrittener und stärker als die der Menschen.
Die meisten Figuren in der Raumstation sind Menschen, zwei sind jedoch Aliens. Einer ist bereits einige Zeit vor Ort, ein Gosaik namens Ko'Aly Ha. Er ist 120 cm groß und hat seit einiger Zeit eine Affäre mit dem einzigen weiblichen Besatzungsmitglied, Jessica Crombie. Die Affäre wird allerdings stellenweise etwas schräg beschrieben. Ko'Aly wurde aus seiner Heimat verbannt, da er sich nicht an die Regeln dort gehalten hat. Da die Hintergründe dazu ganz interessant sind, möchte ich hier nicht spoilern.
Tim Anaya ist Bauleiter und Verantwortlicher. Bemerkenswert an ihm ist, dass ihm seine Beine fehlen, was ihn in der Schwerelosigkeit der Baustelle aber nicht behindert.
Der Drohnenpilot Jason Sciberras ist ein älterer Herr, der aufgrund einiger sehr spezifischer Erlebnisse in der Vergangenheit extrem alienfeindlich eingestellt ist. Ein wenig subtiler wäre für mich auch OK gewesen, das ständige sehr offensive Schimpfen a la "Scheiß-Aliens" war mir etwas zu plakativ, um wirklich beängstigend zu sein. Die wirklich gruseligen Feindseligkeiten sind für mich die, die eher zwischen den Zeilen stattfinden, so dass sie schwieriger zu entlarven sind (Mikro-Speziesismus?).
Gregory Donnato ist 26 Jahre alt, mit Jessica eng befreundet und ihr direkt unterstellt, er ist wie ein Bruder für sie.
Zu Beginn der Erzählung kommt ein weiterer Außerirdischer hinzu, ein Pairo namens Rew Bios, der äußerlich an einen Käfer erinnert, deren Geruch für den Menschen leider nicht sehr angenehm ist und der die Gedanken der Menschen als eine Art Bilder aufnimmt und daher in der Kommunikation deutlich mehr mitbekommt als ein Mensch, was für ihn teilweise nicht sehr angenehm ist. (Frei nach dem Motto "Das wollte ich so genau gar nicht wissen!")
Die Aliens, vor allem der Pairo, werden sehr genau und faszinierend beschrieben, fast so, als hätte der Autor einen Ausflug in ihre Welt gemacht und ein paar Wochen unter Aliens verbracht. Alle Figuren, vor allem die Außerirdischen, werden im Verlaufe der Geschichte sehr echt dargestellt und werden mir als Leserin vertraut. Das ist eine stramme Leistung, vor allem wenn man bedenkt, dass ich mich immer sehr sträube, mit mir fremden Wesen warm zu werden, man beachte meine Abneigung gegen Fantasy, die unter anderem daher rührt.
Die Geschichte ist spannend, die Figuren interessant. Gegen Ende hängt mich die Handlung allerdings ein bisschen ab - die Auflösung habe ich nicht nur nicht kommen sehen, sie geht auch stellenweise ein wenig schwer verständlich. Ich vermute, dass es genügend Hinweise im Text gegeben hat, die ich einfach nur nicht erkannt habe.
Der Plot mag teilweise über meinen Kopf gegangen sein, aber die Dynamik zwischen den Figuren hat mich ausreichend gefesselt, dass ich die Geschichte trotzdem sehr genossen habe. Wir erfahren eine Menge aus ihrer Vergangenheit, vieles wird erklärt, auch Jasons Hass auf die Aliens, der sehr tragische Hintergründe hat.
Da die Story angenehm lang ist, gibt es genügend Platz, einige Details genau zu schildern. Beispielsweise, welches Pronomen der Pairo bevorzugt ("Ich darf doch 'er' sagen, oder?") oder dass Aliens andere Toiletten brauchen.
Dass die einzige Frau in mindestens zwei Szenen als so sehr auf Sex fokussiert geschildert wird, finde ich ein wenig unangenehm und es leuchtet mir auch nicht so recht ein.
Richtig gut dargestellt fand ich, wie geschildert wird, dass die Menschen ihre geistigen Bilder nicht unterdrücken können (Pairos können das) und der Pairo Rew Bios daher immer alles lesen muss, was sie beim Sprechen dazu denken. Praktisch ist aber, dass er Lügen dadurch leicht entlarven kann.
Der Autor war schon mehrfach für Preise nominiert, kürzlich für den Kurd-Laßwitz Preis in der Kategorie Kurzgeschichte.
Aiki Mira: Wir werden andere sein
Die Geschichte nimmt sich Zeit, die Figuren und das Setting einzuführen. Das Raumschiff, in dem die drei Besatzungsmitglieder Marlon, Rain und Coach Sunita vermeintlich zum Mars fliegen ist klein und an einigen Details merkt man, dass die ESA, die diese Reise organisiert hat, finanziell nicht mehr so gut aufgestellt ist.
Erst ab dem dritten Kapitel, als sie den Mars erreichen, nicht "abbiegen" und Marlon erfährt, dass ihr wahres Ziel einer der Monde des Saturns ist, kommt die wahre Handlung in Gang. Sie folgen einem Notruf - allerdings ist klar, dass sie für die Reise fünf Jahre brauchen werden. Was werden sie vorfinden, wenn sie Jahre nach der akuten Notsituation eintreffen?
Auch wenn es ein wenig dauert, bis es soweit ist: Die Figuren sind sehr lebendig und gut gezeichnet. Vor allem von Rain, der jüngsten, bin ich bald ein großer Fan und freue mich sehr, als im letzten Drittel der Geschichte auch mal aus ihrer Perspektive geschildert wird. Außerdem ist ihr Konflikt sehr schwierig und überzeugend, so dass ich erst recht total auf ihrer Seite bin. Ich hoffe, zukünftig in möglichen Fortsetzungen noch mehr von ihr zu lesen.
Die Geschichte lebt für mich von den gut recherchierten Fakten zur Raumfahrt, zu unserem Sonnensystem, den Auswirkungen der Raumfahrt auf den menschlichen Körper und die Psyche.
Später wird es noch detaillierter und faszinierender, als es darum geht, wie da Leben im Begriff ist, auf Titan den nächsten Schritt zu vollführen und welche Auswirkungen das auf die dort verweilenden Menschen haben kann. So überzeugend, als würden Forschende berichten, die gerade erst von einer Reise zu diesem Saturn-Mond zurück sind.
Der Plot ist ebenfalls gelungen und birgt mindestens zwei Überraschungen, die zwar vorher angedeutet werden, aber trotzdem nicht für mich als Leserin vorhersehbar sind.
Ebenfalls spannend: In dieser Zukunft (spielt circa 2040 oder etwas später) gibt es wenige Bewerbungen für die Raumfahrt, dadurch gelangen auch Leute wie Marlon an solche Jobs, obwohl er zur manischen Depressivität neigt. Zwar gibt es Tests und das dreiköpfige Team gleicht untereinander Schwächen aus, doch ich gehe mal davon aus, dass heutzutage (und auch in gegenwartsnaher SF wie dem Marsianer) solche Bewerbungen keine Chance hätten.
Von der Atmosphäre her ist es eher Scott Ridleys Alien (nur viel beengter) als die auf Hochglanz polierte Raumfahrt in Soderbergs Version Solaris.
Axel Aldenhoven: Paradies
Eine Geschichte mit klarem Ende, sogar mit leichter Pointe! Außerdem fällt sie mir positiv durch die eindeutige Prämisse und den überschaubaren Cast auf. Aber von Anfang an:
Jokan ist ein Sklave auf einer Raumstation. Quoo ist der, der die Befragung leitet. Asinbor hingegen ist ein Klon, der zu Anfang nicht weiß, dass er ein Klon ist und seine Erinnerungen für seine eigenen hält und nicht für übertragene des Originals.
Das Zitat von Paul McCartney zu Beginn benennt das Thema sehr direkt: "Wenn Schlachthäuser Glaswände hätten, wäre jeder Vegetarier."
In dieser Geschichte wird das verstärkt dadurch, dass man denkende und fühlende Wesen schlachtet. Klone.
Gendermäßig ist die Story ebenfalls interessant. Jokan stammt vom Planeten Ox, dort sind alle geschlechtslos und haben auch keine Ausscheidungsorgane (wie sie stattdessen die Verdauung lösen, ist sehr interessant), die Sprache dort kennt ebenfalls keine Geschlechter. Wie praktisch wäre das gerade jetzt auch für uns!
Die Zeiteinheiten, "Blob" und co. werden in der Einleitung erklärt, ebenso wie die drei Hauptfiguren Jokan, Quoo und Asinbor. Es kommen zwar noch andere Figuren vor (z. B. Ozzo, der einen ständigen Heißhunger auf Süßes hat), doch so ist gleich klar, auf wen wir uns konzentrieren müssen. Die Einleitung in Blobs und co. ist auch für die Kreditvergabe und die Rückzahlung wichtig (was für ein hübsches Detail) und führt zu interessanten Wortneuschöpfungen (wie "Arbeitsallblob"), wenn statt "Tag" dann "Blob" eingesetzt wird.
Auf Trnka gibt es keine Tiere mehr. Die wurden alle erlegt und aufgegessen. Die Trnkaner haben einen großen Appetit auf Fleisch, den sie nun durch Schlachthöfe befriedigen.
Jokan möchte diesem Treiben ein Ende setzen und verbündet sich mit Asinbor. Hier erwarten uns Lesende einige Wendungen, die ich nicht habe kommen sehen und die ich nur begeistert begrüßen kann. Der Plot bleibt die ganze Zeit sehr klar - keine Nebenhandlungen, keine Abschweifungen, hier hält sich die Erzählung eher an die Regeln der Kurzgeschichte als an die eines Romans, was ich sehr zu schätzen weiß.
Ebenfalls gelungen: Die Entscheidung, wann die Geschichte anfängt und wann sie aufhört. Während bei einigen anderen Geschichten vielleicht der Start der eigentlich Handlung etwas später hätte einsetzen können, ist dieser Zeitpunkt hier genau richtig gewählt.
Der Schluss ist konsequent, einige der Erkenntnisse des letzten Kapitels gut zu Ende gedacht. Die Prämisse ist klar: Wer tonnenweise fühlende Wesen abschlachtet, muss gestoppt werden.
Das beinhaltet auch gleich Moral, Thema und alles andere, was eine gute Geschichte benötigt. Einige Szenen sind natürlich recht brutal und nicht ganz leicht zu lesen. Am besten gefallen haben mir die Details zum Thema Mitfühlen und Empathie. Somit fand ich auch die Figur des Jokan am interessantesten. Die Trnkaner sind dann doch etwas plakativ geraten. Ein paar Aussagen ("Für die Trnkaner sind wir nur Schlachtvieh") hätte ich in dieser Deutlichkeit auch nicht gebraucht. Es kommt auch so ganz klar rüber.
Stefan Locher: Sehnsucht Eden
Mehrere, sehr unterschiedliche Parteien sind auf dem Weg zum geheimnisvollen Planeten Eden. Dieser gibt Rätsel auf: Warum hat sich dort eigentlich noch niemand niedergelassen, obwohl es dort doch offensichtlich eine Atmosphäre gibt, in der ein Mensch gut atmen kann? Auch Androiden haben sich dort bisher nicht niedergelassen.
Einiges an der Geschichte gibt aber auch mir Rätsel auf. Warum sind Androiden so unbeliebt (und anders herum, Menschen bei Androiden) und warum mischen diese sich gern als Spione in menschliche Besatzungen?
Die Namen der Androiden: /48, :63 und -95 beispielsweise, lesen sich natürlich recht ungewohnt, auch wenn ich einsehe, dass Androiden nicht unbedingt Natalie, Edwin und Richard heißen sollten, wie einige der menschlichen Figuren dieser Erzählung. Oder Kathrin, wie die Androidin, die sich als Mensch ausgibt.
Die Perspektiven wechseln hier kapitelweise, drei wechseln sich ab, was bei einer kurzen Erzählung wie dieser mir als Leserin einiges abverlangt, zudem die Personalstärke locker mit "Krieg und Frieden" mithalten kann. Die Charakterisierung und Tiefe der einzelnen Figuren bleibt daher leider größtenteils auf der Strecke und das steht bei meinem persönlichen Lesegeschmack nun mal im Vordergrund, weit vor Ideen zu fremden Planeten (zumal ich eine sehr ähnliche Idee erst letzte Woche bei Ursula Le Guin gelesen habe, was natürlich Zufall ist).
Diversität
Kapitän Bornes Gesicht in "Lambda One" Gesicht ist von Narben übersät.
In "Daryo Spritz" sind nicht alle Figuren per default hellhäutig, im Gegenteil, und wenn jemand hellhäutig ist, wird dies explizit erwähnt.
Es spielt auch inhaltlich eine Rolle, da die hellhäutigeren Figuren die heftige Sonneneinstrahlung weniger gut vertragen. Außerdem sind nicht alle Figuren heterosexuell, auch wenn ein offizielles, eindeutiges Outing ausbleibt und es hier bei Vermutungen bleiben muss. Ebenso wie in "A-204" wird Speziesismus thematisiert, als sich die Figur Roxy wünscht, sie hätte mal Sex mit einem Alien gehabt und die Nebenfigur Suzie dies spontan "Iiih" findet.
In "Wir werden andere sein" scheint es sich bei der Asiatin Rain um eine Transfrau zu handeln - oder um eine nonbinäre Person, die oft falsch gelesen wird. Dies wird zu Beginn angedeutet, am Ziel der Reise treffen die Figuren dann auf eine Frau, die Rain zunächst so betitelt:
"Was ist mit Rain? Er ist noch so jung..."
"Sie - Rain bevorzug das Pronomen sie."
"Ach, so, ja, nun sie ist jung, wie gesagt sie könnte zur Erde zurückkehren."
Das ist bemerkenswert unaufgeregt, schön, wenn so zukünftig mit Misgendern umgegangen werden wird - kein Rechtfertigen, Erklären, sich beschuldigt fühlen, sondern einfach nur ein "Ach, so" und fortan das korrekte Pronomen verwenden. Außerdem wird angedeutet, dass die Figur Rain asexuell ist.
In der gleichen Geschichte leidet eine Figur (Marlon) regelmäßig an Kopfweh (interpretiere ich als chronische Migräne). Außerdem neigt Marlon zu paranoiden Depressionen.
Die Figuren stammen von überall her, was aber eher nebenher erwähnt wird. Marlon kommt aus Berlin, Sunita Dhar kommt aus Athen. Sunita Dhar, Marlon Khoury und Rain Seung kommen alle aus Einwandererfamilien, Sunitas Familie ist aus Indien wegen der Dürre geflohen, Marlon ist in Berlin aufgewachsen, seine Familie stammt aus dem Libanon aufgrund von Kriegen und Rain kommt aus London und ihre Familie stammt ursprünglich aus Hongkong.
Marlon ist auch der einzige (Cis-)Mann in der Geschichte. Und der ist jetzt nicht so der typische Held, auch wenn er das vielleicht manchmal ganz gern wäre (oder glaubt, es gern sein zu wollen).
In "A-204" gibt es eine Figur, Tim, der die Beine fehlen. Zwar nutzt er Prothesen, sofern er sich in der Schwerkraft aufhält, auf der Raumstation jedoch nicht. Außerdem gibt es in dieser Geschichte eine Beziehung zwischen einer menschlichen Frau und einem männlichen Alien, in der Welt etwas, das nicht alle leicht akzeptieren können.
Abgesehen mal davon, dass das gute Hineinversetzen in außerirdische Lebensformen zumindest bei diesem Autor auch ein wenig unter Diversität zählen sollte. ;-)
Wie oben schon erwähnt ist Speziesismus ein großes Thema hier.
Außerdem hat die Frau in der Geschichte ein Verhältnis mit einem Alien. Anfänglich wird das zwar meinem persönlichen Empfinden nach etwas schräg dargestellt (als würde die Frau das Alien nur ausnutzen), später erhält das dann doch eine etwas andere Farbe und erscheint mir einvernehmlich zu sein.
In Paradies gibt es ein Volk, das kein weiblich oder männlich kennt. Wie oben bereits angedeutet, funktioniert die Ausscheidung bei ihnen auch... interessant.
Harte Fakten
Titel | Eden im All: 2021 Collection of Space Novellas |
mit Geschichten von | Galax Acheronian, Maike Brain, Aiki Mira, Axel Aldenhoven, Stefan Lochner, Dimitrios Kasprzyk |
herausgegeben von | Peggy Weber-Gehrke |
Erscheinungsjahr | 2021 |
Seitenzahl | 421 |
Anzahl Geschichten | 6 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1413391937785278465 |
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