Inhalt
Zurzeit liegt bei mir ein altes Heyne-Lexikon von Jeschke und co. herum - aus dem Jahr 1980. Da lebten noch gast alle Größen aus der SF-Szene - und andere, wie Orson Scott Card haben Mini-Einträge, weil sie noch gar nicht so bekannt waren. Beim Eintrag von Daniel Keyes bin ich hängen geblieben, da ich kürzlich sehr begeistert von "Blumen für Algernon" war. In dem Lexikon-Eintrag wurde "The Touch" positiv erwähnt, den habe ich spontan gekauft und sofort gelesen und dafür meine Lektüre des 8. Expanse-Bands unterbrochen.
Die Figuren werden auch sofort sehr lebensecht. Barney und Karen wünschen sich Kinder, probieren erfolglos seit drei Jahren und allmählich geht das an die Substanz der Beziehung. Die Streitereien zwischen ihnen sind schon mehr als grenzwertig und es wird auch angedeutet, dass zumindest der Mann an eine Trennung denkt.
Dann kommt es beim Arbeitsplatz von Barney, General Motors, zu einem Unfall, bei dem radioaktives Material austritt. Sein Arbeitskollege Prager, mit dem er eine Fahrgemeinschaft hat, verhindert heldenhaft das Schlimmste. Alles scheint im Griff zu sein. Doch durch eine Fahrlässigkeit kommt Barneys Kollege kurze Zeit später doch mit radioaktiven Staub in Berührung, den er auch in Barneys Auto und somit auf Barney verteilt - dieser gibt es an seine Frau weiter und auch in der ganzen Stadt, bis sie circa drei Wochen später Symptome entwickeln und ihnen klar wird, was passiert ist.
Die Säuberungsaktionen danach und all die Unsicherheiten werden überzeugend geschildert. Barney und Karen sind völlig ohne eigene Schuld verseucht worden, haben dies absolut unwissentlich (in Mini-Mengen, die offenbar auch keinen Schaden angerichtet haben) weitergegeben und leiden selber sehr an den Symptomen. Viele ihrer Mitbürger:innen reagieren feindselig. Teilweise erhalten sie Ladenverbot. Ihnen wird nahegelegt, die Stadt zu verlassen. Man wolle sie nicht. Sogar tätliche Übergriffe gibt es. Das alles ist auf traurige Art und Weise sehr überzeugend. Außerdem deuten Karens Symptome bald nicht nur auf die Strahlenkrankheit, sondern auch auf eine Schwangerschaft hin. Auf einen Embryo hätte die Radioaktivität höchstwahrscheinlich massive Auswirkungen gehabt - und das zu einer Zeit ohne die heute möglichen Ultraschall-Untersuchungen.
Der Roman liest sich sehr modern. Bis auf die seltsame Darstellung von Karen (siehe unten) wirkt der Roman keineswegs so, als sei er schon fünfzig Jahre alt. (Nun, außer, wenn es um Ultraschall geht, das ist heute natürlich völlig anders und Embryo-Überwachung auf heutigem Niveau hätte den Roman inhaltlich schon sehr verändert.) Ich habe vieles über Radioaktivität gelernt, das ich noch nicht wusste. Was ich bisher weiß, weiß ich auch nur vom 1. Teil von "The Expanse" und einem verstörenden Zeichentrickfilm, den ich als Kind mal gesehen habe - und vielleicht noch von einer Folge "Blacklist". Und natürlich den fiesen Romanen von Gudrun Pausewang (die letzten Kinder von Schewenborn und Die Wolke). Seit Mitte der achtziger Jahre Tschernobyl ein großes Thema war, habe ich mich damit nicht mehr allzu sehr auseinandergesetzt.
Fazit
Vermutlich hätte ich fünf Punkte gegeben, aber einige Plotwendungen und Szenen ab der Hälfte des Romans sagen mir nicht sehr zu. Damit meine ich vor allem jene Erzählstränge, die sich um Religion drehen (das ist einfach mein persönlicher Lesegeschmack) und eine Sexszene, die ich einfach nicht gern gelesen habe, auch wenn ich ihren Sinn innerhalb der Geschichte durchaus einsehe.
Dabei merke ich dann auch, dass mir die beiden Hauptfiguren zwischendurch nicht (mehr) so sympathisch sind - was sie aber sein sollten und anfänglich auch noch waren.
Das ändert sich aber kurz vor dem Schluss wieder. Ich bin wieder auf ihrer Seite und hoffe für sie - auch wenn mir klar ist, dass Keyes nun nicht für seine Happy Endings berühmt geworden ist. Am Ende habe ich sogar geweint, obwohl es vergleichsweise versöhnlich und nicht ganz hoffnungsvoll ist.
Ich frage mich, ob Menschen wirklich so auf jemanden reagieren würden, der radioaktiv verseucht war. Vermutlich schon. Es kam mir erschreckend authentisch vor. Wenn Menschen etwas nicht kennen, haben sie Angst und reagieren feindselig. Mir wäre es lieber gewesen, der Roman wäre bei dieser Prämisse geblieben und hätte auf die Nebenhandlung mit Karens Schwester Myra verzichtet.
Das ist übrigens meines Erachtens gar keine SF. Das hätte ja auch 1968 schon genauso passieren können. Irgendwie liest es sich aber trotzdem wie SF.
Schwierige Momente beim Lesen
Karen scheint Hausfrau zu sein und wird dargestellt, als sei sie mit der Hausarbeit bereits überfordert. Von heute aus gesehen ist das schwer vorstellbar, wenn ich bedenke, dass die meisten Frauen einen zwanzig bis vierzig Wochenstundenjob machen und den Haushalt (ggf. gemeinsam mit dem Mann, der aber ja auch in der Regel arbeiten muss) einfach nebenher erledigen.
Zum Zeitpunkt der Handlung gibt es ja auch eine Spülmaschine und eine Waschmaschine erst recht. Da fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass die Frau das nicht schafft.
Sie scheint auch mit Problemen nicht umgehen zu können. Als sie sich die Hand zerschneidet, unternimmt sie offenbar den restlichen Tag nichts, außer, dass sie Freunden für das Kartenspiel abends absagt. Ich hätte vermutlich entweder versucht, die Küche mit links aufzuräumen oder die für abends eingeladene Freundin (vielleicht ja auch Hausfrau?) anzurufen, und um Hilfe zu bitten. Jedenfalls wäre ich das Problem aktiv angegangen, anstatt einfach nichts zu tun und darauf zu warten, dass der Mann abends nach Hause kommt.
Kleinere Details zeigen auch deutlich das Frauenbild der sechziger Jahre in den USA. Die Männer sprechen über alle möglichen Themen bis hin zu Politik, die Frauen sprechen über "the recipe for the cookies and got some pointers about how to put up currant jelly".
Später allerdings beeindrucken mich beim Lesen einige recht männerkritische Passagen des Romans.
Diversität
Die männliche Hauptfigur Barney Stark hieß eigentlich Bronislaw Szutarek. Er hat seinen Namen geändert, weil er es damit einfacher fand, in den USA zurechtzukommen und auch Karriere zu machen. Seinem Vater hat das aber so wenig gefallen, dass er danach nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dieser Konflikt der beiden Interessen: Familienfrieden und einen "amerikanischen Namen" zu haben, um gesellschaftlich nicht ausgegrenzt zu werden, ist sehr gut ausgearbeitet worden.
Gegen Mitte des Romans taucht Myra auf, Karens Schwester. Diese war früher extrem attraktiv und auch Barney war ursprünglich in sie verknallt. Myra hat aber irgendwann sehr darunter gelitten, dass die Männer nur ihren Körper wollten und hat sich absichtlich verändert, so dass sie weniger attraktiv war. Dann stellt sie aber fest, dass sie trotzdem noch mit Übergriffen rechnen muss, wenn sie nachts im Dunkeln alleine unterwegs ist. Ihre Verzweiflung darüber wird sehr gut dargestellt:
"Why do they do it? It's not as if I were pretty any more. When I was pretty and young, I knew what they were thinking all the time. Oh, God, won't they ever leave me alone?"
"All my life I've had to fight off that kind of thing. I was sure I was free at last to come and go as a humar being."
Die Perspektive der schwangeren Frau wurde gut getroffen. Ich lese Kritik an Barney heraus und bewundere, wie gut der Autor es schafft, seinen Geschlechtsgenossen so schlecht wegkommen zu lassen in seinem Unverständnis seiner schwangeren Frau gegenüber und seinem Verhalten insgesamt.
Harte Fakten
Titel | The Touch |
geschrieben von | Daniel Keyes |
Erscheinungsjahr | 1968 |
Seitenzahl | 240 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1413050517203341316 |
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Christoph Grimm (Samstag, 10 Juli 2021 11:46)
Vor gefühlt 30 Jahren gelesen. Treffend analysiert :)