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Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid von Alena Schröder

Inhalt

Es war eine gute Entscheidung, mal kurz Pause von der Phantastik zu machen und dieses Hörbuch zu genießen. 5 von 5 Punkten.

  

Berlin, 2017. Es beginnt mit Hannah Borowski (27), die jede Woche ihre Oma Evelyn (94) in einer Seniorenresidenz besucht. Beide Frauen haben etwas und fesseln mich, so dass ich zunächst enttäuscht bin, als im nächsten Kapitel zur schwangeren Senta in den zwanziger Jahren in Rostock umgeschwenkt wird. Doch bald verstehe ich: Senta ist mit Evelyn schwanger.

 

Hier werden eher unbequeme Frauenprobleme gekonnt gezeigt. Sentamöchte eigentlich ihrer Freundin Lotte nach Berlin folgen. Aufgrund der Schwangerschaft muss sie heiraten und ist mit der Rolle als Mutter und Hausfrau unglücklich. Ihr Mann wirft sie hinaus und behält das Kind. Darum soll seine Schwester Trude sich fortan kümmern. Er selber stirbt auch recht bald, so dass aus Trude eine Art alleinerziehende Muttertante wird.

 

Hannah hat bei einer Dienstreise mit ihrem Doktorvater Andreas geschlafen. Seitdem wartet sie auf eine Wiederholung, obwohl nichts, gar nichts, darauf hindeutet, dass er daran irgendein Interesse hat. Ihr Warten und Sehnen wird sehr authentisch geschildert, so sehr, dass es fast schon weh tut.

Hannah selber ist das Ergebnis einer außerehelichen Affäre und kannte ihren Vater nur vom Sehen. Ihre Mutter ist gestorben, bevor Hannah zwanzig war, seitdem hat sie nur noch ihre Oma Evelyn.

 

Die Handlung kommt richtig in Gang, als Hannah beginnt, sich mit dem Brief zu beschäftigen, den ihre Oma Evelyn von einer Anwaltskanzlei in Tel Aviv erhalten hat. Offenbar stehen ihr wertvolle Kunstgegenstände zu, die damals enteignet worden sind. Hannah ist überrascht. Sie wusste nicht einmal vom jüdischen Erbe in ihrer Familie. Evelyn will nichts davon wissen. Das Erbe geht auf ihre Mutter zurück, zu der sie immer ein schwieriges Verhältnis hatte.

 

Die Handlung wechselt zwischen 2017 und den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren in Rostock und Berlin. Im Mittelpunkt stehen die Frauenfiguren, nur drei der Männerfiguren, darunter auch Itzig Goldmann in den frühen vierziger Jahren, erhalten zwischendurch eine Stimme.

 

Es gibt einige recht drastische Szenen bzgl. der Kriegserlebnisse von Evelyns Vater und überraschende Szenen, was beispielsweise die Morphiumsucht von Trude betrifft. Die Figuren sind absolut überzeugend und glaubhaft. Das würde mir schon reichen, um den Roman lesenswert zu machen, doch dann passiert auch noch irre viel und die Spannung ist schon recht bald nach dem Anfang sehr hoch. Was hat es mit den Kunstgegenständen auf sich? 

Senta hat später in Berlin einen jüdischen Redakteur, Julius Goldmann, geheiratet, der für die damalige Zeit sehr fortschrittlich war. Dessen Vater Itzig Goldmann, betrieb einen Kunsthandel, wurde aber nach und nach am Ausüben seines Berufs behindert und schließlich gemeinsam mit seiner Frau deportiert.

 

 

Trotz der vielen Kapitel im Berlin der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre und der durchaus interessanten Figuren zu dieser Zeit, plus, des überzeugenden Settings zur NSDAP-Zeiten ist die Heldin des Romans für mich Hannah. Es ist ihre Geschichte. Die achtzig Jahre alte Geschichte ist ihre Familiengeschichte. 

 

Hannah ist eine überzeugende Frau mit ganz typischen Problemen junger Frauen im heutigen Berlin. Bezüglich der Liebe und ihrer Karriere steckt sie irgendwie im Matsch fest. Die Rätsel um ihre familiäre Vergangenheit zu lösen lassen sie dann auf eine Art und Weise wachsen, dass ich das Gefühl habe, sie kann am Ende des Romans all diese Dinge nun aus eigener Kraft lösen. Ich bin dankbar, dass Hannah nicht von einem Mann gerettet werden muss - und dass für sie einige Freundschaften entstehen. 

 

Für mich geht es hier um folgende Themen:

  • Hannahs Entwicklung 
  • Hannahs Verhältnis zu Evelyn (und irgendwie auch Evelyns Verhältnis zu ihrer Tante Trude und ihrer Mutter Senta)
  • Judenverfolgung und (auch späte) Wiedergutmachung in der BRD

Ich habe beim Hören das Gefühl, alles könnte genauso passiert sein. Die Geschichte ist absolut überzeugend.

  

Sprache

Mal hier mal da gibt es eine Phrase, oft habe ich aber auch den Eindruck, mit voller Absicht und wohldosiert, ggf. sogar mit Wiederholung, um noch zu unterstreichen, was gesagt werden soll. Keineswegs inflationär.

Manche Ausdrücke kann ich dann nur bewundern und mich ärgern, dass ich es als Hörbuch habe, sonst würde ich mir gewisse Stellen markieren, z. B. "besoffene Selbstverherrlichung" (oder so ähnlich) und viele andere treffende Gedanken, die mich schmunzeln oder mindestens zustimmend nicken lassen.

 

Perspektive

Die Frauen führen den Ton an, ganz klar. Doch wir dürfen auch die Perspektive der männlichen Figuren erforschen, so vom Professor Andreas, in den Hannah verliebt ist und den völlig anstrengenden Jörg, mit dem Hannah hinsichtlich ihrer Recherchen zu ihrer jüdischen Abstammung zusammenarbeitet. Auch Itzig Goldmann erhält in einer Szene eine Stimme, was sowohl bedrückend aufgrund seiner ausweglosen Situation, auch auch sehr echt klingt.

Der Perspektivwechsel erfolgt für meinen Geschmack (jedenfalls im Hörbuch) oft etwas plötzlich. Aus anderen Genres bin ich einen Wechsel nur zu Kapitelwechseln gewohnt. Allerdings ist es möglich, dass es beim Lesen des Buchs besser ausgeschildert ist und möglicherweise auch kapitelweise getrennt, dazu kommen mir einige Passagen beim Hören aber zu kurz vor.

Durch die unterschiedlichen (personalen) Perspektiven bin ich den Figuren mit meinem Wissen oft um einiges voraus, was absolut Spaß macht.

 

Wie bin ich zu diesem Buchtipp gekommen?

Ich hatte den Tipp von Twitter (Rezension hier)und da es das Buch als Hörbuch gibt, lag es nur zwischen März und Juni auf der Merkliste und zack, schon höre ich es! Als eine absolute Kunstbanausin konnte ich mit dem Titel zunächst gar nichts anfangen. Nach ein paar Hörstunden gab es dann einen Aha-Effekt, mit dem ich so nicht gerechnet habe. Das ist die Beschreibung eines Kunstwerks, eines Bildes von Johannes Vermeer, für die Provenienzforschung während der Nazizeit beschlagnahmter Kunstgegenstände aus jüdischem Besitz. 

 

Berliner Lokalkolorit

Heerstraßen, IKEA Tempelhof, Robben und Wientjes Autovermietung, an typischen Berliner Begriffen mangelt es nicht, was mich als ehemalige Wahlberlinerin (1997-2011) sehr freut. Auch das Berliner um 1926 herum ist interessant dargestellt. 

 

Die Autorin Alena Schröder

Ich hätte gedacht, dass einiges von dem Roman auch wirklich so passiert sein könnte, aber offenbar ist es zwar realistisch, aber nicht autobiografisch (oder zumindest größtenteils nicht).

Die Autorin und Journalistin ist auch bei Twitter und reagiert auch auf Tweets. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie auch auf Fragen rasch reagiert.

Dieser Roman ist ihr Debüt, was Prosa betrifft. Na, die Autorin merke ich mir!

 

Sprecherin

Julia Nachtmann ist als Sprecherin perfekt gewählt und bekommt vor allem die Stream-of-consciencenss-Stellen gut hin (keine Sorge, das hier ist nicht im Stil von Mrs. Dalloway geschrieben, es gibt nur eine Szene aus Sicht von Trude unter Morphiumeinfluss, die so ist). Ich kann ihr gut stundenlang zuhören, sie ist zurückhaltend und dreht an den passenden Stellen etwas auf.

Diversität

Jüdische Herkunft und jüdische Vorfahren sind natürlich das Hauptthema in diesem Roman und die Auseinandersetzung damit ist aus meiner (nicht betroffenen) Sicht sehr gelungen.

 

Es gibt eine Nebenfigur, eine ältere Dame in Berlin in den zwanziger Jahren, die sich in romantischer Weise zu jungen Frauen hingezogen wird, was auf eine sehr originelle Art belletristisch verpackt wird. Zumal ja auch offen ist, ob die in den 1920ern lebende ältere Dame überhaupt etwas davon ahnen kann, dass es so etwas wie Bisexualität überhaupt gibt.

 

Insgesamt wimmelt es in dem Roman von feministischen Themen. Ungewollte Schwangerschaft, außereheliche Affären, uneheliche Kinder, Brustkrebs, Regretting Motherhood (großartig thematisiert!), alleinerziehend sein, den Wunsch, sich als Frau (auch 1926) selbst zu verwirklichen, das Durchsetzen gegen männliche Kollegen.

 

Das alles wirkt nicht gewollt, sondern so, als würde es die Romanhandlung auf ganz natürliche Weise durchziehen.

Harte Fakten

Titel Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid 
geschrieben von Alena Schröder 
Erscheinungsjahr 2020 
Seitenzahl 368 
Länge Hörbuch 10 Std 52 
eingesprochen von Julia Nachtmann 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1404767239568506880 

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