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Eine Brieffreundin, Autorenkollegin und Testleserin und vielleicht bald Co-Autorin schrieb mir, die Kurzgeschichten von Stephen King, Sommerdonner, hätte sie nachhaltig beeindruckt. Ich lese King seit 1992 (Es und Christine waren meine erste Romane von ihm) und habe seitdem damit eigentlich nicht wieder aufgehört.
Sommerdonner? Habe ich da etwa etwas verpasst?
Habe ich. 2017 kam "Basar der bösen Träume" heraus, mit 21 Kurzgeschichten, von denen ich die meisten tatsächlich noch nicht kannte.
Ur - die Geschichte mit dem pinken Kindle, der Zugriff auf alternative Welten und somit auf dem Protagonisten völlig unbekannte Literatur von vielen Größen unserer Zeit hat, kannte ich. Die hatte ich 2014 auf Englisch bereits gekauft und gelesen, womit es vermutlich eine der allerersten Geschichten war, die ich auf dem Kindle gelesen habe - passenderweise.
Beim Lesen stelle ich fest: Ich lese Stephen King nicht wegen seiner Ideen. Er hat auch gute Ideen (wobei die hier fast alle bei der Geschichte Ur versammelt zu sein scheinen), aber in diesen 21 Geschichten finden sich nur sehr wenige originelle Ideen, was den Plot oder den Grundhorror betrifft. Er hatte in anderen Story-Sammlungen wirklich krasse Ideen, ich denke da hauptsächlich an "Travel" oder "der Überlebenskünstler", und da gab es noch andere, richtig gute, die mir seit zwei oder drei Jahrzehnten nicht aus dem Kopf gehen.
Ich lese King, weil er es schafft, wahres über Menschen zu schreiben. Der Horror ist für mich oft ein wenig langweilig (ich interessiere mich nicht für gefräßige Autos). Seine Figuren sind überzeugend. Sie denken echte Dinge. Sie handeln (normalerweise) nachvollziehbar (auch wenn es hier mal hier mal da eine Geschichte gab, die mich nicht überzeugt hat, was bei der Menge vielleicht auch OK ist). Er kann so schreiben, dass ich es ihm abkaufe, selbst wenn die Leute sich auf eine Art und Weise verhalten, die mich nur den Kopf schütteln lässt. Wie macht er das nur? Das ist genau das, was ich in anderer Prosa oft so stark vermisse, dass ich sogar abbreche. Wie schafft King das nur, so überzeugend über Menschen zu schreiben?
Es wäre bei 21 Geschichten auch hier zu viel, zu jeder etwas zu sagen, daher nehme ich mir mal ein paar heraus.
Ur
Dabei habe ich gerade bei Ur einiges zu kritisieren. Nämlich, dass es eigentlich zwei Geschichten sind. Es wirkt fast so, als habe er nicht gewusst, welche Pointe er aus der ersten Idee machen sollte und daher hat er eine zweite Idee eingeführt. Die erste Idee, meiner Meinung nach die interessantere, besteht darin, dass Wesley Smith einen Kindle kauft. Eigentlich, weil er sauer auf seine Freundin ist, die vor einigen Tagen nach einem Disput über das Lesen - er liest als Englischdozent sehr viel - abgehauen ist.
Ihm wird ein pinker Kindle geliefert, der eine "Ur"-Funktion anbietet. Wesley findet heraus, dass er Bücher aus Parallelwelten kaufen kann. Er stellt fest, dass Hemingway in Alternativwelten länger gelebt hat und mehr Romane geschrieben hat. Manchmal auch größtenteils andere. Natürlich kauft er einen davon und beginnt zu lesen. Zweifellos ist das Hemingway. Nur, dass Ernest Hemingway diesen Roman in Wesleys Welt nie geschrieben hat.
Als er völlig übernächtigt am nächsten Tag zum Unterricht kommt, hat er das Gefühl, verrückt zu werden. Er weiht einen seiner Studenten und seinen Kollegen Don ein, gemeinsam schauen sie sich den Kindle genauer an.
Das hätte mir schon völlig gereicht. Nun finden sie aber auch noch Ausgaben der New York Times aus alternativen Welten und das, was sie da lesen, kommt eigentlich ein wenig zu kurz weg. Es wäre interessant gewesen, das in einer eigenen oder einer längeren Geschichte deutlich gründlicher zu erforschen.
Als letztes finden sie auch Ausgaben der lokalen Zeitung, und zwar zukünftige Ausgaben. Daraus erstrickt sich dann ein Showdown und eine Art Pointe (nun ja, jedenfalls ein akzeptabler Schluss), der einige Gimmicks für Dunkler-Turm-Fans (wie mich) bietet und außerdem ein wenig an Kings eigenen Roman "Deadzone" erinnert. Oder auch an einige Szenen zu Beginn von "Der Anschlag" (ebenfalls von King).
Dann hoffe ich doch, King hört nicht auf, bei sich selber zu klauen und erforscht noch einmal das Terrain mit den alternativen Romanen oder zumindest mit den Zeitungen aus Alternativwelten, das fand ich sehr spannend.
Und: wie immer sind Figuren und Zwischenmenschliches in dieser Geschichte überzeugend und interessant.
Raststätte 81
Christine war toll, aber eigentlich interessiere ich mich nicht für fressende Autos. Auch hier sind die Figuren wieder gut gelungen und King zeigt mal wieder, dass er tief davon überzeugt ist, Kinder können aufgrund ihrer Phantasie besser mit unnatürlichen Schrecken umgehen als Erwachsene (ich glaube das ebenfalls). Wenn das hier auch keineswegs auf dem hohem Niveau von "Brennen muss Salem" ist, wo er das noch deutlich besser gegenübergestellt hat.
Darüber hinaus bietet King Details, die so treffend sind, dass sie genau auf die richtige Art und Weise gruselig sind.
Während einem Mann von dem Auto das Fleisch abgenagt wird, hat er folgende Gedanken:
"Er konnte glänzende Fingerknochen sehen, von denen das Fleisch gesaugt war, und hatte kurz das albtraumhafte Bild vor sich, wie er einen Hähnchenflügel von KFC abnagte. Leg ihn erst weg, wenn alles runter ist, hatte seine Mutter immer gesagt, dicht am Knochen ist das Fleisch am besten."
Später in derselben Geschichte hat ein Familienvater Gedanken, während seine beiden Kinder auf dem Rücksitz toben, die ich sehr zu schätzen weiß und die Kings Humor zeigen:
"Vielleicht konnte ihm noch mal jemand erklären, warum er Kinder hatte haben wollen, sinnierte er. Und ihm in Erinnerung rufen, was er sich eigentlich dabei gedacht hatte. Er wusste nur noch, dass es damals irgendwie vernünftig geklungen hatte."
Witzig finde ich auch, dass in der Geschichte über ein gefräßiges Auto dann tatsächlich eine kurze Referenz auf einen anderen King-Roman zu einem ähnlichen Thema zu finden ist:
"Jimmy Goldling glaubte nicht mehr an Monsterautos, seit er als Teenager den Film Christine gesehen hatte, aber er glaubte wohl, dass Monster manchmal in Autos lauern konnten."
Zu einem späteren Zeitpunkt hat eine Figur die Chance, sich zu retten, wenn er seine Waffe loslassen würde. Aber:
"Eine Sekunde lang hätte er noch loslassen können, aber auf diese Idee kam er gar nicht. Zu den ersten Dingen, die man auf der Academy nach der Waffenausgabe lernte, gehörte, dass man seine Dienstwaffe niemals losließ. Niemals."
Und genau solche Stellen machen die Figuren bei King für mich so überzeugend. Ich glaube ihnen einfach.
Batman und Robin haben einen Disput
Sandersons Vater hat Demenz. Er geht mit ihm regelmäßig essen. Eine Beobachtung über diese Krankheit habe ich sonst noch nicht irgendwo gelesen, aber sie ergibt total Sinn und hat mich sehr beeindruckt.
An einer Stelle erzählt der Vater ihm, dass er mit einer Frau geschlafen hat - ganz offensichtlich, während er bereits verheiratet war. Und dann auch noch so "Hab nie mit 'ner Besseren geschlafen."
Sanderson reflektiert das folgendermaßen:
"Die paar Erinnerungen, die ihnen geblieben sind, sind alle durcheinander - wie die stibitzten Puzzleteile, die José in der Zigarrenkiste unter Papas Bett gefunden hat -, und da ist kein Korrektiv, keine Möglichkeit auseinanderzuhalten, über welches Zeug man reden kann und über welches nicht."
Sommerdonner
Ich mag postapokalyptische Geschichten und ich mag King. Insofern ist diese Geschichte eine Win-Win-Situation. Die beiden Männer in der Geschichte haben sofort mein Mitgefühl und erst recht der arme Hund - denn auch Tiere sterben nach und nach an den Nachwirkungen der Katastrophe, die sich mehr oder weniger schwer über die ganze Welt gelegt hat.
Die Geschichte strotzt nur so vor Menschlichkeit und ist gerade deswegen nicht so leicht zu lesen. Definitiv eine Empfehlung und eine der besten Stories im Buch.
Kings Metaphern sind manchmal auch so treffend, dass ich sie am liebsten überall aufhängen wollte. An einer Stelle schreibt er über Zweifel, ob man an etwas doch Schuld haben könnte:
"Dann kriecht einem der Zweifel wie ein Parasit in den Kopf und legt dort seine Eier ab, bis es im Hirn irgendwann nur so wimmelt."
Das ist angenehm und so verzeihe ich ihm auch die nicht so wenigen Phrasen, die in die Prosa eingestreut sind. Früher ist mir das nie aufgefallen, da ich in den letzten zehn Jahren King nur auf Englisch gelesen habe und als Teenagerin haben mich die Phrasen noch nicht gestört.
Ebenfalls ein gutes Statement von einem Elternteil findet sich weiter hinten, diesmal von einer alleinerziehenden Mutter mit einer beeindruckenden Zahl von Kindern. Es geht darum, dass sie in der nächsten Nacht mit ihren Kindern in einem guten Hotel übernachten wird und ihre Freude wird gerade von ihrer Reisegefährtin etwas gedämpft.
"Genau, und um ein Uhr in der Nacht hämmert irgendein Kerl an die Wand und verlangt, dass mein Kind zu plärren aufhört. Als ob ich irgendwie will, dass Dee mitten in der Nacht wach ist, weil alle ihre Scheißzähne auf einmal kommen."
In "The Stand" (einem der besten King-Romane) gibt es eine Szene, in der Abigail mit Nick Andros spricht. Abigail glaubt an Gott, Nick jedoch nicht. Sie lacht nur und sagt: "Aber er glaubt an dich" (aus dem Gedächtnis zitiert). Hier gibt es eine ähnliche Stelle. Eine Figur sagt zur anderen, sie glaube nicht an die Sünde und erhält als Antwort: "Wie Sie meinen. Aber die Sünde glaubt an Sie." Das hat mich schon mächtig daran erinnert. Womöglich habe ich schon zu viel King gelesen - habe aber nach dieser Sammlung Lust, noch ein wenig mehr zu lesen, immerhin habe ich damals ein paar Romane abgebrochen (Tommyknockers, Feuerkind), da ich damals damit nicht klargekommen bin. Vielleicht klappt es ja heutzutage?
Nicht alle Stories haben gute Pointen. Eigentlich sogar sehr wenige. Wenn es eine Wendung gibt, kommt diese eher ein paar Seiten vor dem Schluss. Dennoch ist kein Ausfall dabei, auch wenn mir persönlich die Geschichte mit dem Battle um den besten Feuerwerkskörper nicht gut gefallen hat und die Geschichte außerdem einige Klischees zu italienischstämmigen, us-amerikanischen Familien bedient, die ich mindestens langweilig, wenn nicht sogar schwierig finde.
Sehr schön waren die Vorworte zu jeder Geschichte. King ist für mich der King der coolen Vorworte.
Diversität
Stephen King, so stelle ich angenehm überrascht fest, war immer schon divers. Die Figuren sind so divers in ihrer Herkunft, wie es in den USA nun einmal ist, zwar gibt es weiße mehr als z. B. Schwarze, asiatische und arabische, da die meisten seiner Geschichten in Maine spielen und die Bevölkerung da offenbar größtenteils weiß ist, aber nicht alle seine Geschichten spielen in Maine.
In dieser Sammlung tummeln sich ein paar wenige PoC, mindestens eine bisexuelle Frau und viele sozial benachteiligte Personen, alte oder gar sehr alte Menschen, übergewichtige Leute oder auch kranke (auch chronisch kranke, u. a. demente) Figuren. Ich habe beim Lesen oft das Gefühl, es könne um meine Nachbarn gehen. Außerdem gibt es zwei schwule Figuren, besonders gut hat mir der alte schwule Mann gefallen. King ist es gelungen, einen Rückblick auf sexuell aktivere Zeiten absolut glaubhaft zu schildern und außerdem einen gelungenen Dialog zwischen zwei sehr alten Männern im Seniorenheim geschaffen, deren Leben extrem unterschiedlich verlaufen ist und die sich im Alter dann respektvoll anfreunden.
Einmal gibt es auch eine Beziehung zwischen einem weißen Mann und einer Schwarzen Frau und die Frau fungiert für die Hauptfigur fortan als Mutter.
Ein Taxifahrer in New York ist ein Sikh - aber ich bin unsicher, ob das zählt, da er als Nebenfigur keine eigene Agenda verfolgt.
Gerade in dieser Kurzgeschichtensammlung schreibt King sehr oft über alte Menschen (was er schon bei Schlaflos sehr gut konnte, obwohl er da selber noch recht jung war) oder auch über sozial stark benachteiligte Figuren (klar, inzwischen ist er reicht, aber wer Vom Leben und Schreiben kennt, weiß, dass es nicht immer so war). Mir fällt auf, dass in Kings Geschichten äußerst selten die klugen, starken und schönen die Hauptrolle spielen. Vielleicht macht unter anderem das die Figuren so echt. Ich denke mal weiter darüber nach.
Harte Fakten
Titel | Basar der bösen Träume |
geschrieben von | Stephen King |
übersetzt von | insgesamt 16 unterschiedliche, siehe hier |
Erscheinungsjahr | 2017 (einige Geschichte älter) |
Seitenzahl | 816 |
Anzahl Geschichten | 21 |
Original Twitter Tweet | https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1402530957966589953 |
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