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Quantenträume - Anthologie

Inhalt

Fazit für Eilige

Sehr viel Phantasie, viele tolle, tiefe Figuren (aber nicht in jeder Story), ganz erstaunliche Ideen, teilweise so abgefahren, dass ich mir in tausend Jahren nicht vorstellen kann, dass so etwas jemals Realität wird. Die Geschichten sind circa zwischen dem Jahr 2000 und 2020 in China entstanden. Die Schreiberlinge sind zwischen circa 1950 und 1992 geboren wurden, so dass mehrere Generationen vertreten sind.

 

Meine ganze persönlichen Highlights betrachte ich unten etwas genauer. 

 

Chinesische Enzyklopädie von Xia Jia

Wow. Zunächst erinnerte mich das Setting an "Geschichte deines Lebens". Offizielle Stellen kontaktieren eine Linguistin. Hier allerdings mitten in der Nacht und auch nicht aufgrund von Aliens, sondern weil einige niedliche Robben-KIs ihre eigene Sprache entwickelt habe. Doch wie das (offenbar) in chinesischer Prosa eben manchmal so ist, geht es gar nicht um die Robben. Der Kreis wird auch am Ende nicht wieder geschlossen.

Es geht um die Ich-Erzählerin und ihre beste Freundin. Sie sind schon seit ihrer Kindheit befreundet. Als Leserin habe ich da auch gleich jemanden im Kopf und bin an der Angel.

Ihre Freundin leidet unter einem Virus, der dafür sorgt, dass man seine Fähigkeit zu Sprechen - nun ja, nicht verliert, aber es verändert sich, bis man schließlich in einer Sprache spricht, die nur noch man selber verstehen kann. Allerdings ist es für Außenstehende möglich, mit viel Geduld, ebenjene Fremdsprache zu erlernen. Daran versucht sich die Ich-Erzählerin, was dadurch erschwert wird, dass sie wegen Ansteckungsgefahr nur noch virtuell via iWall mit ihrer Freundin kommunizieren kann.

Eine großartige Story über eine Behinderung, die vielleicht gar keine ist, über Sprache, über Akzeptanz und vor allem jedoch über diese ganz besondere Art von Freundschaft, die man womöglich nur als Kind schließen und dann ein Leben lang pflegen kann.

 

Das Hausmädchen von Liu Yang

Lindy ist ein Hausmädchen-Roboter mit zweifelhaftem Hausherrn, der aber gerade nicht zu Hause ist. Allmählich verirrt sich erst ein, dann mehrere junge Menschen in ihr Haus und alle verschwinden sie nach und nach. Hier wurde ich erfolgreich in die Irre geführt und fragte mich schon: Gelten für Lindy etwa nicht die Robotergesetze? Eine der Studierenden fragt sich übrigens bald ähnliches. Doch die Auflösung bietet dann eine einleuchtende Pointe.

 

Der Geschichten erzählende Roboter von Fei Dao

Erst dachte ich, ich würde die Geschichte aus "Broken Stars" kennen, aber sie ist lediglich vom Stil her sehr ähnlich wie "The Robot who liked to tell tall tales", die allerdings vom selben Autor stammt. Beide Erzählungen beginnen sehr ähnlich (von wegen "Es war einmal/ Once upon a time there was a king"...). 

Sie gehen aber dann doch anders weiter. Witzig, dass ich erst zwei Geschichten des Autors kenne und schon habe ich seinen (vielleicht immer?) ihm eigenen Stil erkannt. Die Erzählung bleibt dann auch märchenhaft. Ein König verlangt stets neue Geschichten und schließlich erfinden sie ihm einen Roboter, der ihm Geschichten erzählt und schließlich auch selber welche erfindet. Probleme gibt es erst, als der König nach der "besten Geschichte" verlangt. Geniale Idee!

 

Cloud-Liebe von Qiufan Chen

An dieser Geschichte hatte ich viel Spaß! Die Protagonistin Zeng Lingxing macht bei einem Spiel mit: In dem Spiel wird gechattet und geflirtet, aber nicht nur Menschen spielen mit, auch KIs. Enttarnt man die KI, bekommt man die Punkte, die die KI bereits gesammelt hat. Liegt man falsch, ist man raus. Verliebt man sich in eine KI (also, wird Herzklopfen gemessen), ist man auch raus. Je mehr Punkte man hat, desto höher kann man aufsteigen, zum Beispiel auch statt nur zu tippen miteinander sprechen bis hin zum Videochat.

Lingxing ist ziemlich pfiffig und extrem misstrauisch, also kommt sie gut in dem Spiel klar, auch wenn sie zunächst bereut, überhaupt teilzunehmen. Sie chattet mehr und mehr mit einem bestimmten Mitspieler, den sie aber für eine KI hält. Sie enttarnt ihn aber nicht, weil sie die Gespräche mit ihm genießt. Letztendlich überlegt sie sich aber doch ein Ultimatum und schlägt ein Treffen vor. Wäre er eine KI, wäre ihm dies nicht möglich. Er stimmt aber zu. Ist er etwa doch echt?

Diese Geschichte hat mehr als einen Boden und birgt so allerlei in sich. Einfach toll, wie auf so kurzem Raum so viel angedeutet, zu Ende gedacht oder auch nur angerissen wird. Genau richtig, genau mein Ding.

 

Die Möbius-Raumzeit von Gu Shi

Mit dieser Kurzgeschichten hat die Autorin den Galaxy Award gewonnen. Kein Wunder. Die Story ist außergewöhnlich komplex (aber gut zu lesen), vielschichtig und einfallsreich, außerdem die wohl rundeste Geschichte, an die ich mich erinnern kann. 

Der Ich-Erzähler hat zu Beginn der Geschichte einen Streit mit seiner Freundin Lin Ke, der zur Trennung führt. Wütend fährt er mit dem Auto los, begleitet von seinem neuen Freund X. Das Auto gerät außer Kontrolle, bei einem fürchterlichen Unfall bricht sich der Ich-Erzähler sein Rückgrat an. X rettet ihn, doch der Protagonist von nun an querschnittsgelähmt.

Diese Behinderung bietet Anlass, mehr und mehr auf Ersatzkörper zurückzugreifen. Die Idee, sich quasi selber zu versorgen, indem man mit dem Gehirn einen Ersatzkörper steuert, hat mir sehr gefallen. Aber die Geschichte geht noch viel, viel weiter. Das ist definitiv Science Fiction. Wie auch bei einigen anderen Geschichten in diesem Band würde ich sogar sagen: zu phantastisch. Wird niemals passieren. Als Geschichte allerdings sehr lesenswert.

 

Bekenntnis von Wang Jinkang

Auch diese Geschichte ist ein wenig zu phantastisch und ich ahne die Pointe (zumindest zum Teil) ein wenig zu früh. Nichtsdestotrotz ist sie unterhaltsam und intelligent komponiert. 

Auch hier findet am Anfang ein Unfall statt, der Ich-Erzähler Cheng Meng und seine Frau Xiao Man wurden schwer verletzt. Cheng Men wird mitgeteilt, dass seine Frau leider verstorben ist, man aber eine perfekte Replikantin erstellen könnte - seine Zustimmung vorausgesetzt. Er trauert und überlegt, wägt ab, entscheidet sich letztendlich dafür. Weil die Replikantin möglicherweise nicht ganz perfekt ist, wohnen sie zunächst abseits von allen anderen in einer Villa und Cheng Men hat die Aufgabe, seine Frau genau zu beobachten und dem Chefpsychologen der Klinik regelmäßig Bericht zu erstatten.

Die Geschichte erstreckt sich über ein Jahr, bietet einige schöne Details und hat ein sehr angenehmes schönes Ende.

 

Wo bist du? von Hao Jingfang

Der sympathische Protagonist hat von Anfang an mein Mitgefühl. Er entwickelt den "Doppelgänger" (vermutlich auch im Original das deutsche Wort), eine KI, die Personen geschickt ersetzen soll. Doch seine Roadshows zum Gewinnen von neuen Investierenden verlaufen schlecht, auch die Verkäufe sind nicht optimal. Mit der Beziehung könnte es auch besser stehen, auch seine Partnerin ist unzufrieden und zunehmen depressiv. 

Eine tolle Kurzgeschichte, bei der man sich die Informationen geschickt zwischen den Worten herauspicken muss, vor allem anfangs. 

Von der Autorin wollte ich eh länger schon etwas lesen, diese Story hat mich überzeugt, mir auch mal Peking falten und co. anzuschauen.

 

Mordfall LW31 von A Que

So können also die ganz jungen Menschen (Autor ist 1990 geboren) aus China schreiben. In der Tat ein erfrischendes Beispiel. Ein Roboter gesteht den Mord an seinem Boss. Der Ich-Erzähler ist jedoch skeptisch. Eigentlich sollte das nicht möglich sein. Warum sind eigentlich so viele Aufnahmen des Roboters gelöscht? Einiges kommt ihm seltsam vor. Er erhält bald (von ihm weniger erwünschte) Profi-Unterstützung, löst aber alsbald den Fall selber. Sehr unterhaltsam und einleuchtend.

 

Weitere Geschichten in diesem Band:

  • Der umgekehrte Turing-Test von Sun Wanglu
  • Hotel Titania von Lua Longxiang
  • Der Wannengeist von Shuang Chimu
  • Mission: Rettung der Menschheit von Liu Weijia
  • Der neue Tag von Ling Chen

  • Der Erleuchtete von Han Song 

Ein Wort zu "Tochter des Meeres" von Baoshu. In der Anthologie "Broken Stars" gibt es die knapp 160seitige Erzählung des Autors "What has passed shall in kinder light appear", die zu den besten Erzählungen gehört, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Hätte ich diese nicht gekannt, ich hätte "Tochter des Meeres" auf Seite 3 abgebrochen. Der Plot (Gehirn eines Säuglings, der sonst nicht überlebt hätte, wird in einen Roboter gesetzt und lebt fortan - zunächst - im Meer, verliebt sich später, die Erde geht durch eine Panne an der Sonne zugrunde und die Menschheit versucht zum Jupitermond Europa auszuwandern, mit annehmbarer Pointe) ist an sich in Ordnung. Es wird aber alles so dermaßen plump und emotionslos erzählt, als hätte hier Cixin Liu Pate gestanden (sorry, aber ich konnte mit den Figuren im ersten Teil der Trisolaris-Reihe nichts anfangen, in seinen Kurzgeschichten kam ich halbwegs klar, weil er wirklich coole Ideen hat). Offenbar hat Baoshu Sternstunden, aber ich sollte mich wohl nicht grundsätzlich darauf verlassen, dass seine Stories mich packen.

Harte Fakten

Titel Quantenträume - Erzählungen aus China über Künstliche Intelligenz
Autor*innen

Qiufan Chen, Wang Jinkang, Hao Jingfan u. a.

Erscheinungsjahr 2020
Seitenzahl 512
Anzahl Geschichten 15
Original-Tweet https://www.rezensionsnerdista.de/2021/05/26/quantentr%C3%A4ume-anthologie/

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