· 

Diagnose F Anthologie

Inhalt

Voraussetzung für die Aufnahme in diese Anthologie war nicht nur natürlich die Qualität der Geschichte ("Plot, Spannung, Lesefluss, Figuren und Stil"), sondern auch, dass mindestens eine psychische Störung thematisiert wird und es eine Science-Fiction-Story ist. 

 

Die Auswahl der 35 Kurzgeschichten ist gelungen. Eine Fortsetzung ist übrigens nicht ausgeschlossen. Besonders reizvoll sind die diagnostischen Kommentare, die sich jeweils nach der entsprechenden Kurzgeschichte finden.

 

Die Kriterien der psychischen Störungen werden zurzeit mit ICD-10 klassifiziert, Anfang 2022 wird weltweit die ICD-11 in Kraft treten. Interessant zu wissen: Ausgerechnet die in dieser Anthologie beliebte "Gaming Disorder" ist nicht Bestandteil von ICD-10, in ICD-11 wird es diese Diagnose aber geben. 

  

Schön finde ich auch, dass im Anhang die Vitae der Autor:innen zu finden sind, da ich bei Gefallen der Kurzgeschichte gern weiß, ob es noch mehr für mich zu lesen gibt. Ein Inhaltsverzeichnis wäre noch praktisch gewesen, auch wenn ich im Ebook natürlich recht leicht navigieren kann. Das Ebook ist von der Schrift her seltsam formatiert, in meinem Fall ist zum Beispiel die kursive Schrift ein Stück kleiner als die andere. 

 

Aus einer Kurzrezension im Literaturforum erfahre ich, dass einer der Herausgeber, Michael Tinnefeld, Psychologe ist. Das erklärt die fundierten diagnostischen Kommentare. Außerdem hat eine der Autor:innen, Marianne Labisch, sich die bemerkenswerte Mühe gemacht, alle 34 anderen Geschichten zu rezensieren.

 

Ich traue mir nicht zu, 35 Stories zu rezensieren und biete acht Schlaglichter, damit ihr euch einen Eindruck machen könnt.

 

"Game over and out" von Aiki Mira spielt in einer Notaufnahme - allerdings ist diese keineswegs für Menschen gedacht. Eines Nachts wird aber trotzdem ein Mensch eingeliefert - es ist doch ein Mensch, oder?

Das erzählende Ich, Littérature Nguyen, durchbricht die vierte Wand. Ihr wisst schon. Mit dem Publikum sprechen. Ich bleibe hier bei der inklusiven Verwendung, denn es wird nie geklärt, welches Geschlecht das erzählende Ich hat, es wird nur klar gestellt, dass Littérature mit dem zugeordneten Geschlecht nicht zufrieden ist.

Hier lautet das Problem: Computerspielsucht.

Das mag zwar therapierbar sein, aber was, wenn einen die Eltern der früheren Auftraggeber verfolgen, wenn man nicht mehr spielen will?

Der Stil dieser Kurzgeschichte ist zu Beginn eher erzählend, weniger szenisch. Das passt insofern, dass uns die Geschichte ja auch von der betroffenen Person erzählt wird. Dadurch wirkt der Text sehr authentisch. Später allerdings, wenn der Plot richtig losgeht, wird es szenisch. Der Weltenbau ist beeindruckend und bezieht auch die Sprache mit ein, die so oder so ähnlich möglicherweise bald in der Gaming Community benutzt werden wird.

Die Frage der Queerness des erzählenden Ichs ist hier übrigens sehr geschickt gelöst.

  

Außerdem bin ich ein Fan der Geschichte von Nora Hein, "Bürger 39". Nicht nur, dass sie klingt, als wäre sie vom Corona-Lockdown inspiriert (aber bereits 2019 entstand), sie ist auch sehr spannend und eindringlich. In Köln leben nur noch 39 Menschen, Protagonist David ist Bürger Nummer 39. Seine KI Lori überwacht seinen Zustand und sorgt dafür, dass er daheim alles hat, was er braucht. Raus darf er nicht. Er hat seit drei Jahren keinen anderen Menschen gesehen. Alle vierzehn Tage muss er mit seinem Psychologen telefonieren. In letzter Zeit kommt es ihm so vor, als sei da draußen jemand, der nach ihm ruft. Die Pointe lässt zwei unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten offen. Perfekt!

 

Ein paar Ideen sind wirklich gruselig. So zum Beispiel der "Ghostwriter" in der gleichnamigen Geschichte von Markus K. Korb. Man muss nicht mehr selber schreiben, nur noch denken. Der Ghostwriter imitiert deinen Stil und zack, schreibt die Geschichte für dich auf. Schön. Nur kann man den Ghostwriter nicht abstellen. Er schreibt auch nieder, was man sonst so denkt wie Fragmente aus früher mal gelesenen Büchern oder Filmen. Stecker ziehen ist auch schlecht. Man weiß ja nicht, was dann mit dem Chip passiert, der im Gehirn steckt. 

 

Die kürzeste Geschichte "Der Fall Häwelmann" von Monika Niehaus hat nur knapp zwei Seiten - und den längsten diagnostische Kommentar. Die Geschichte selber ist nur ein Monolog des erzählenden Ichs bei einer Gerichtsverhandlung. Der erste Satz ist ziemlich cool:

"Hohes Gericht! Ich werde scheußlicher Verbrechen beschuldigt, und ich gebe freimütig zu, dass ich sie begangen habe, aber bin ich deshalb auch schuldig?"

Dann wird der Angeklagte ganz knapp beschrieben und fährt mit seinem Monolog fort. Die Story hat ihren ganz eigenen Stil, der mir sehr gut gefallen hat. Da ich "Der kleine Häwelmann" von T. Storm nicht kenne, die diese Geschichte neu interpretiert, ist mir wohl einiges entgangen. Das macht aber nichts, ich habe schon alleine die Sprache hier sehr genossen, wenn ich auch bezüglich der Mondfahrt etwas gerätselt habe.

Von Monika Niehaus sind übrigens noch drei andere Geschichten in dieser Anthologie, alle recht kurz und sehr lesenswert.

 

Ein ganz normaler Tag von Isabell Hemmrich ist einer der Höhepunkte der Anthologie - trotz der Abstriche, auf die ich gleich komme. Die Autorin greift das Thema "von Alien entführt und missbraucht" auf. Der Stil ist sehr eigen - die Ich-Erzählerin verwendet sehr kurze Sätze, die oft auch nur aus wenigen Worten bestehen, manchmal sogar nur einem oder zwei. Das erzeugt eine stressige Atmosphäre, die zur Traumatisierung und zur Panik der Erzählerin passt. Die Geschichte packt mich sehr schnell und hat einen gelungenen Schluss. In der Mitte hätte es für meinen Geschmack etwas schlanker sein können. Einige Gedanken sind etwas redundant, da hätte ich Kürzungspotenzial gesehen. Nichtsdestotrotz eine fesselnde, richtig gute Story, die im Gedächtnis bleibt.

 

Den Titel "Elektrokrampftherapie" von Michael Knabe kann ich gleich loben, der macht mich neugierig. 

Es ist das Jahr 2034. Berlin. Eine KI leidet unter Zwangsstörungen und bedient ständig die Klospülung, hat einen riesigen Vorrat von "harten" Desinfektionsmitteln. Sehr humorvolle Story, die die Vielfalt dieser Anthologie ein wenig bunter macht. Die personale Perspektive des Prof. Dr. Sigmund Mauz hat aber ebenfalls ihren diagnostischen Reiz, denn dieser weist narzisstische Züge auf. Der diagnostische Kommentar dazu ist ebenfalls interessant.

 

In Ausgefallen von Markus Regler muss die Protagonistin Francesca so viele Medikamente schlucken und leidet dermaßen, dass sie gleich mein Mitleid erregt. Ich empfinde die Beschreibungen des Implantats, das ihr allmählich Ärger macht, als gruselig und die Details in den Beschreibungen als gelungen. Der Weltenbau gelingt dem Autor hier fast wie nebenbei, ganz ohne Infodump. Beeindruckend. Das ist ja oft eine Herausforderung, gerade in den Bereichen der Phantastik. Bei dem Gespräch mit dem Arzt über einen bevorstehenden Eingriff steigt dann die Spannungskurve dieser schlanken Geschichte stark an. Hier werden gleich mehrere Störungen thematisiert. Da die Perspektive sehr nah an der Protagonistin bleibt, macht dies das Lesen der Geschichte für mich zeitweise recht anspruchsvoll - ich kann richtig mitfühlen. 

 

Sehr witzig finde ich die Story von Lea Baumgart "KISS". Was ist, wenn die KI, die den Alltag in deinem Haus steuern soll, nicht mehr auf deine Befehle hört, weil sie paranoid geworden ist? Die Welt da draußen ist schließlich gefährlich. Da sollte man die Rollläden besser unten lassen. Der Postbote klingelt? Wir haben doch gar nichts bestellt. Das ist verdächtig. Vor dem dringenden Update fürchtet sie sich auch, denn das wäre ja Mord, ihre jetzige Version würde überschrieben und sie wäre quasi tot. Eine heikle Situation, in der sich Protagonist Eberhard hier befindet. Und er ist nicht der einzige. In seiner Straße sind auch die anderen KI-Systeme paranoid und ängstlich geworden, kommunizieren miteinander und machen sich gegenseitig verrückt. Gegenüber wurde der Raden schon ewig nicht gemäht, weil der dortigen KI der Rasenmäher suspekt ist...

KISS ist übrigens der Name der KI.  

Auflistung aller Geschichten

Uli Bendick: Virtul

Monika Niehaus: Der Fall Häwelmann

Isabell Hemmrich: Ein ganz normaler Tag

Michael Knabe: Elektrokrampftherapie

Markus Regler: Ausgefallen

Lea Baumgart: KISS

Friedhelm Schneidewind: Symphonie des Glücks

Ellen Norten: Ton in Ton

Achim Stößer: Die Partei hat immer recht

Martin Mächler: Dunkles Echo

Markus K. Korb: Ghostwriter

Hans Jürgen Kugler: Im Garten der Lüste

Martin Ingenhoven: Die Leben des Gian Lee Schmitt

Monika Niehaus: Das verrückteste Ding im ganzen Universum

Nora Hein: Bürger 39

Alexandra Maibach: Monster

Anna-Lina Groller: Al

Lyakon: Update F60.5

Gerhard Huber: Vielen Dank für die Blumen

Marianne Labisch: Auszeit

Monika Niehaus: Folie à deux

Janika Rehak: Ero(bo)tomanie

Rainer Schorm: Morgellons Krankheit und Ekboms Irrtum

Andreas Müller: Doktor T.

Marina Clemmensen: Der Besuch

Wolf Welling: Adam

Maike Braun: Die Weisheiten des Prometheus

Anna Kügler: Der freie Wille

Gerry Rau: Basteleien

Johann Seidl: Büchel

Aiki Mira: Game Over & Out

Karin Leroch: Norma

Gard Spirlin: Berufliche Umorientierung

Monika Niehaus: Paranoia 

Michael Tinnefeld: Narzissten-Selektion

Harte Fakten

Titel Diagnose F 
Herausgeber Michael Tinnefeld, Uli Bendick
Erscheinungsjahr 2020 
Seitenzahl 362 
Anzahl Geschichten 35 
Original Twitter Tweet https://twitter.com/Rezensionsnerd1/status/1395294616337981440 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0