Inhalt
Fazit für Eilige
Sofern du nur zehn Romane pro Jahr schaffst, finden sich sicher bessere. Aber wenn du wie ich ein*e Vielleser*in bist und auf fiese Dystopien mit unerwarteten Wendungen und gutem Plot stehst, die etwas langsam in Gang kommen und dabei viel Atmosphäre schaffen, bist du hier richtig.
Inhalt & Meinung
Großbritannien ist von einer Mauer umgeben, dahinter fängt strandlos sofort das Meer an.
Jeder junge Mensch, egal ob Mann oder Frau, muss zwei Jahre auf der Mauer ableisten. Die Mauer soll "die Anderen" fernhalten, die versuchen, sie zu überwinden, da abseits der Mauer lebensfeindliche Bedingungen herrschen. Der Klimawandel wird nicht genannt, es ist lediglich von "der Wandel" die Rede. "Die Anderen" sind natürlich bereit, die Verteidigenden zu morden und somit ist es stets ein Kampf ums Überleben für beide Seiten. Falls es "Anderen" gelingt, einzudringen, müssen genauso viele Verteidigende aufs Meer hinaus wie "Andere" ins Land gedrungen sind. Werden die "Anderen" dann noch festgesetzt, haben diese die Wahl, ob sie wieder ins Meer hinausgeschickt werden, Dienstlinge werden (eigentlich Sklaven) oder eingeschläfert werden.
Besonders eindringlich beschreibt der Ich-Erzähler Joseph Kavanagh, von seinen Kolleg:innen "Yeti" genannt, die unterschiedlichen Abstufungen der Kälte auf der Mauer, und die nicht enden wollenden zwölf-Stunden-Schichten. Es gibt auch immer wieder Lichtblicke: Urlaub oder Trainingslager, doch insgesamt ist es für jeden Menschen eine harte Zeit.
Auch viele andere Aspekte dieser Welt, die der unseren in Zukunft ähneln könnte, werden nach und nach klar. Wo der Nachwuchs herkommt. Woher "Die Anderen" kommen. Auch ein Plot entfaltet sich allmählich, auch wenn es für meinen Geschmack nicht allzu rasant zugeht.
Ich lese und höre wirklich, wirklich viel. Seit Juni 2020 habe ich rund zweihundert Bücher (Romane und Anthologien) gelesen. Das bedeutet, fast zwanzig (Hör-)Bücher im Monat. Einiges davon war richtig gut, anderes eher enttäuschend. Weniges hat ich nachhaltig beeindruckt.
"Die Mauer" spielt im guten Mittelfeld. Der Protagonist hat einige gute Gedanken, stellenweise gelingt mir die Identifikation sehr gut. Insgesamt folge ich ihm recht gern, auch wenn er nicht das Format eines Viktor Frankenstein oder Rick Deckard hat. Der Plot holt aus dem Thema einiges raus, "Chancen verschenkt" würde ich ihm definitiv nicht vorwerfen. Das Ende hätte etwa pointierter und befriedigender sein können, aber so gibt es immerhin die Möglichkeit einer Fortsetzung, die ich durchaus ebenfalls lesen würde.
Es gibt einige Stellen in dem Buch, die herausragend spannend aufgrund ihrer Subtilität sind, die mich als Leserin mitdenken und mit-interpretieren lassen. Leider wird das immer gleich anschließend durch Redundanz und unnötige Klarheit zerredet. Ich dachte dann beim Zuhören "Ja, ich weiß, es ist Blut, jetzt verdirb mir doch nicht alles!" Einige Figuren hätten etwas interessanter sein können (aber das sage ich ja immer), mindestens eine Nebenfigur bleibt aber sehr im Gedächtnis und hätte für meinen Geschmack durchaus noch ein wenig stärker beleuchtet werden können.
Nach etwa der Hälfte der Zeit vergesse ich aber die meisten Kritikpunkte, die mir vorher so aufgefallen war, weil der Plot gut in Gang gekommen ist und es tatsächlich spannend geworden ist. Einiges hat sich zusammengefügt und ich fiebere der Auflösung des Romans entgegen.
Schichtdienst auf der Mauer, abnorme Kälte (wenn auch kein Schnee), "Andere", die über die Mauer wollen - das erinnert anfänglich an Game of Thrones. Ich persönlich halte die GOT-Romane für extrem gut geschrieben mit ungewöhnlich spannendem Plot und muss zugeben, dass ich beim Hören dieses Romans in den ersten Stunden mehrfach überlegt habe, dass es mir eigentlich mehr Spaß machen würde, erneut GOT zu hören. "Die Mauer" spielt nicht annähernd in derselben Liga. Aber es nützt ja nichts. Ich kann ja nicht meine zwanzig Lieblingsromane rauf- und runterhören und/oder lesen. Das ist ja das, was ich jahrelang gemacht habe und weshalb mein literarischer Horizont sich nicht in dem Maße erweitert hat, den ich mir jetzt wünsche. Jedenfalls weist "Die Mauer" sonst keine Parallelen zu GOT auf und spielt auch eher in unserer Welt, wie sie in ein paar Jahrzehnten sein könnte.
Vermutlich lohnt sich hier das englische Original. Ich habe es ja auf Deutsch gehört und hatte zumindest in den Anfangskapiteln den Eindruck, dass einige Wortspiele sich nicht gut übersetzen, da "Beton" und "konkret" im Deutschen nicht dasselbe Wort ist.
Der Autor ist Brite - wie man sich schon denken kann. Es gibt sechs andere Romane, die bereits übersetzt worden sind. Vielleicht ziehe ich die mir nach und nach mal als Hörbuch rein.
Harte Fakten
Titel | Die Mauer |
Autor*in | John Lanchester |
Erscheinungsjahr | 2019 |
Sprecher*in | Johannes Klaußner |
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