Fazit für Eilige
Mich hätte die Gegenwart mit den drei kleinen Kindern mehr interessiert als die Jugend der achtziger Jahre. Dennoch gebe ich zu, dass dem Autor dreierlei gelungen ist:
- Mich ständig an meine eigene Jugend denken zu lassen, auch wenn diese zehn Jahre später stattfand.
- Gedanken zu schildern, die echt nur ein männlicher Jugendlicher haben kann und die ich in dieser Deutlichkeit selten bis nie woanders gelesen habe.
- Die Gedanken eines Teenagers plausibel zu schildern und das komplizierte soziale Gefüge in dieser Altersgruppe treffend zu beschreiben und zu analysieren. Das wird mir definitiv helfen, wenn ich selber etwas über diese Gruppe schreiben möchte.
- Überzeugend darstellen, wie ambivalent der Tod eines geliebten Menschen sein kann. Zwischen Trauer und Erleichterung.
Diese drei Punkte reichen mir auch schon aus, um das Buch weiterzuempfehlen, trotz aller Abstriche. Möglicherweise ist aber das Hörbuch weniger geeignet, weil man da langweilige Stellen ja nicht überfliegen kann. Ab Teil 2 wird gelesen, nicht mehr gehört.
Verriss
Selten lese ich mal ein Buch, bei dem es mir ebenso leicht fällt einen Verriss wie eine Lobeshymne zu schreiben. Ich mache dann mal beides.
Prosa wird hier ebenso plötzlich und beharrlich von Essays unterbrochen wie ein Musical von Gesangseinlagen. Ich wünschte, ich könnte da jedesmal eine Pinkelpause machen, aber dafür leider sind die essayistischen Einschübe zu lang. Sie sind nicht einmal schlecht, jedenfalls nicht alle, trotzdem empfinde ich es als Unterbrechung.
Und überhaupt: Prosa? Einige bezeichnen die Werke aus Knausgårds autobiografischem Projekt als "Nicht-Literatur". Keine Auswahl, kein Plot, kein Spannungsbogen. Dialoge, wie sie in jeder Familie vorkommen. Sehr alltäglich. Ständig trinkt jemand, Tee, Bier, Hochprozentiges. Jedes Detail wird beschrieben. Manchmal sinnvoll und es steckt etwas dahinter, doch manchmal auch einfach nur so, ohne dass ich einen Grund erkenne. Dabei bin ich es von Literatur so gewohnt: Wenn etwas beschrieben wird, hat das einen Hintergrund.
Knausgårds Erzähler (der er wohl selber ist) ist nicht unsympathisch und bietet auch für mich als Frau mehrere Identifikationsmomente. Aber muss er alles so ausbreiten? Außerdem benutzt er so dermaßen viele Phrasen und Floskeln, dass sogar Enid Blyton beeindruckt gewesen wäre.
Die Sprache ist sehr einfach, fast schon betont einfach, nach guten Sätzen, frischen Details und guten Metaphern suche ich vergebens.
Und überhaupt: Ist das alles so passiert? Hat er das verfremdet? Die Namen geändert? Müssten sonst nicht eine Menge Personen nun sauer auf ihn sein und ihre Anwälte anrufen?
Eine kurze Recherche zeigt, dass er offenbar tatsächlich bei der Wahrheit geblieben ist, auch wenn er laut eigenen Angaben das Schlimmste ausgespart hat.
Lobeshymne
Normalerweise mag ich Action. Einen klaren Plot. Geheimnisse. Spannung. Bei Knausgård lasse ich mir auch mal etwas anderes gefallen.
Der Roman beginnt mit einer umfangreichen, recht originellen Betrachtung des Sterben und des Todes. Warum werden Tote eigentlich sofort zugedeckt und entfernt? Warum sind Bestattungsinstitute normalerweise ebenerdig und nicht im achten Stock?
Ich spoilere Teile der Handlung, was aber nicht so schlimm ist, da "Handlung" hier vielleicht nicht der richtige Begriff ist.
Und warum heißt ausgerechnet der erste Band "Sterben?" Müsste es nicht der letzte sein? Aber der Autor ist ja nicht tot, nicht einmal alt, also ergibt es schon Sinn. Es ist sein Vater, der stirbt. Das schwierige Verhältnis und vor allem der Tod des Vaters und die Tage danach stehen im Vordergrund und bilden den Hauptteil das Bandes.
Dieser Band beleuchtet drei Abschnitte aus dem Leben des Autors:
- Seine Kindheit und Jugend inklusive der ersten Partys, Alkohol und Petting (noch nicht so recht Koitus)
- Die (damalige) Gegenwart des 1968 geborenen Norwegers, der zum Zeitpunkt des Schreibens 39 Jahre alt war und in zweiter Ehe und mit drei noch recht jungen Kindern lebte.
- Die Tage nach dem Tod seines Vaters
Seine damalige Gegenwart war dann auch schon der absolute Anker für mich: Zwar arbeite ich nicht als Schriftstellerin, sondern als Bibliothekswissenschaftlerin und Hobby-Autorin und lebe in erster Ehe mit lediglich zwei recht kleinen Kindern. Ich bin aber ähnlich alt (nun ja, 42) und auch sonst entdecke ich so einige Parallelen. Der Autor schreibt nachvollziehbar und sympathisch über den anstrengenden Alltag mit Kindern, und dass er mit Putzen und Schimpfen beschäftigt ist, anstatt endlich einen großen Roman zu schreiben.
Er beobachtet andere Familien, deren Kinderwagen nicht aussehen, als seien sie vom Sperrmüll, deren Kinder sauber und ordentlich aussehen und bei denen niemand herumbrüllt. Familien, die glücklich wirken. Der Protagonist (Knausgård selbst) hingegen schafft es nicht, ruhig zu bleiben, verliert die Fassung und kämpft sich durch anstrengende Tage. Selbstverständlich liebt er seine Kinder und weiß auch theoretisch, wie er sie in den Griff bekommt, nur nicht in dem Moment. In welchem anderen Band geht es mehr um diese Phase? Die würde mich auch inklusive all der Nebensächlichkeiten interessieren.
Diese Ehrlichkeit und Authentizität liest sich für mich in ähnlicher Situation so erfrischend. Bzw. ich hörte diesen Teil des Romans mit einem Blue-Tooth-Stecker im Ohr, während ich mit unseren Kindern (5 und 2 Jahre alt) im Keller Lego baute und nebenher ihre Steine-Wünsche bearbeitete, Lego sortierte und ihre Fragen beantwortete und zwischendurch den Kleinen wickeln ging. Also, Knausgård, das Kapitel war doch für mich, oder?
Auch später bietet der Autor mir viel Identifikationspotenzial. So weiß er mit 16 nicht, zu welcher Silvesterparty er gehen würde. Denn zu solchen Partys muss man eingeladen sein und er war zu keiner eingeladen. Ich erinnere mich an ein Silvester, als ich 17 war und bis 13:30 Uhr desselben Tages nicht wusste, was ich am Abend machen würde. Etwa Dinner for One mit meinen Eltern und meinem damals elf Jahre alten Bruder anschauen? Es ergab sich doch noch eine Freundin, die zu einer öffentlich zugänglichen Party wollte und mich mitnahm und ich knutschte dort zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben einen Jungen, der kleiner war als ich (also unter 160 cm). Es ist schön, wenn das Lesen von Prosa eigene Erinnerungen heraufbeschwört, danke Knausgård!
Fast schon spannend wird der Band eigentlich nur an einer Stelle. Der Vater ist tot, er und sein Bruder fahren zum Haus der Oma (dort hat der Vater zum Schluss gelebt) und beginnen mit dem Putzen und Ausmisten und damit, die Beerdigung zu organisieren. Sie stellen fest, dass die etwas senile Oma die einzige ist, die den Tod des Vaters bezeugt. Er wurde dann mit dem Krankenwagen abgeholt. Oh nein? Ist er denn überhaupt tot? Kommt er gleich hinein und schimpft, was sie mit seinen Sachen anstellen?
Eine rundum gelungene Szene, die beste des Buchs. Absolut nachvollziehbar und spannend. Fairerweise sind es vielleicht zehn Seiten des Mammutwerks, das sonst eher weniger durch echte Spannung besticht.
Stil
Von den knapp 800 Seiten hätte er locker auf 300 verzichten können. Es ist schon fast unverschämt, wie detailreich er auch komplett unwichtige Dinge schildert wie das Trinken von Tee, inklusive dem Abstellen einer Teetasse, ohne dabei etwas zur Charakterisierung der Personen beizutragen oder etwas neues anzubieten zum Thema Tee trinken. Auch die Dialoge sind oft bis ins Kleinste geschildert. So ein gutes Gedächtnis hat doch niemand, oder? Wegen mir reicht es so ungefähr, aber "so ungefähr" ist bei diesem Autor gar nichts.
Immerhin, es gibt keine narrativen Zusammenfassungen. Alles ist szenisch. Die Reflektionen sind nicht zu geschwätzig und in der Regel interessant.
Phrasen verwendet der Autor mir definitiv zu viele. Zwar ist es ein Ich-Erzähler, aber das ist keine Entschuldigung, der Ich-Erzähler ist er ja selber und hätte sich daher auch etwas frischer ausdrücken können, als Erfolgsautor mit circa 20.000 Seiten Gesamtwerk. Vielleicht liegt es ja auch an der Übersetzung - wer norwegisch kann und ihn im Original gelesen hat, darf mich da gern erhellen.
Harte Fakten
Titel | Sterben Das autobiografische Projekt 1 |
Autor*in | Karl Ove Knausgård |
Erscheinungsjahr | 2009 |
Seitenzahl | 768 |
Länge Hörbuch | 17 Std. 37 |
Sprecher*in | Sascha Rotermund |
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