Harte Fakten
Titel | Was ich liebte |
Autorin | Siri Hustvedt |
Erscheinungsjahr | 2003 |
Seitenzahl | 480 |
Spoilerfreier Teil
Aufbau dieser Rezi
Dieser Teil hier ist spoilerfrei und verrät nicht mehr als der Klappentext. Unten vor einer Warnung findet ihr dann weitergehende Überlegungen, die nicht mehr spoilerfrei sind.
Ich wusste vorher gar nicht, worum es geht und hatte nicht einmal den (sehr kurzen) Klappentext gelesen. Da es kein Krimi und kein Thriller ist, ist ein Spoiler nicht so schlimm, ich lese aber gern Bücher, ohne vorher zu wissen, worum es eigentlich ging.
Inhalt und Eindruck
Ich dachte aufgrund des Titels, es würde um Liebe gehen. Liebe einer Frau zu einem Mann. Auf der ersten halben Seite dachte ich auch, der Ich-Erzähler sei eine Frau, mir wurde dann aber recht schnell klar, dass es ein Mann namens Leo ist. Ein ganzer Roman, von einer Frau geschrieben, aus der (total überzeugenden) Sicht eines Mannes - cool!
Um Liebe geht es natürlich auch, aber weniger um romantische Liebe. Außerdem geht es um Trauer. Um Hoffnung, wenn man jemanden liebt. Die Sache mit der Trauer nimmt einen nicht allzu langen, aber beeindruckenden Teil ein. Das ist in kaum einem anderen Roman so gut beschrieben wie hier, auch wenn ich gern zugebe, dass ich nicht explizit auf der Suche nach solchen Geschichten bin.
Bedeutung des Titels
Lange, sehr lange, dachte ich, es ginge darum, was Leo liebte. Ein Siebzigjähriger berichtet aus der Retrospektive, was er liebte: Seine Frau, seinen Sohn, die dreiköpfige Familie seines Freundes Bill, die über ihm wohnt. Das gehört zwar durchaus zum Plot, doch das meint der Titel nicht.
Recht weit am Ende des Buches kommt es zu einem Gespräch zwischen Violet, Bills zweiter Ehefrau und Stiefmutter dessen Sohnes Mark und dem Ich-Erzähler Leo. Violet denkt laut über die Beziehung zu Mark nach. Sie hat keine eigenen Kinder und überlegt, "Was ich liebte" an ihrem Stiefsohn Mark. Da die Antwort Inhalte spoilern würde, folgt das entsprechende Textzitat unten im zweiten Teil der Rezi.
Kunst und Kunstkritik
Ich habe keine Ahnung von Kunst. 1997 oder 1998 war ich mal in Kassel bei der documenta und es war einer der langweiligsten Tage meines Lebens. Um 2006 herum war ich mal in Madrid im Prado, das war halbwegs interessant, vor allem aufgrund Goya und der Picasso-Sonderausstellung, die sie damals dort hatten. Aber ich habe null Ahnung von Kunst. Die Beschreibungen der Kunstwerke in diesem Roman habe ich dennoch sehr genossen und mich an keiner Stelle gelangweilt. Der Autorin gelingt es tatsächlich, diese Objekte oder deren Aufnahme durch das Publikum auf spannende Art und Weise zu beschreiben.
Der Schaffensprozess einer Künstlerin (Fotografin) und wie diese lernt, was funktioniert und warum, wurde ja in Little fires everywhere von Celeste Ng sehr gut beschrieben. Obwohl ich selber keine schaffende Künstlerin bin und nicht einmal basteln kann, hatte ich die Kapitel dazu bei dem Roman ebenfalls sehr genossen.
"Was ich liebte" im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Romanen
Hustvedts Roman kann sich mit denen messen, die ich in letzter Zeit gelesen habe und stellt die meisten auch in den Schatten. In Sachen Tiefgründigkeit kann sie Roth das Wasser reichen, ich finde ihre Prosa aber besser, da ich nichts finde, das mir seitenlang auf die Nerven geht. Außerdem hält sie die Perspektive durch, was bei Roth manchmal etwas fremdartig ist (Ich-Erzähler, der ständig über andere Menschen Dinge erzählt, die er gar nicht wissen kann). Ihre Figuren wachsen mir ähnlich ans Herz wie die von Irving, aber sie braucht keine achthundert Seiten Vorlauf, bis es endlich so weit ist (und außerdem endlich etwas geschieht).
Es gibt weniger Action als bei Safran Foer, dafür ist es leichter zu lesen, da die Perspektive nie wechselt und ich immer folgen kann und nie verloren bin.
Vom Setting her passt es natürlich gut zu anderen Autoren, die ihre Stories gern in New York oder gar Manhattan spielen lassen, wie der bereits erwähnte Safran Foer, Jonathan Lethem oder, naheliegenderweise, Paul Auster (mehr dazu im nicht spoilerfreien Teil unten).
Rezeption
Obwohl ich es kaum für möglich gehalten hätte, gibt es auch genügend Menschen, die den Roman nicht mögen. Mögliche Gründe: Offenbar gibt es viele Parallelen zwischen Mark und Daniel Auster, Hustvedts Stiefsohn, der an der Borderline-Krankheit leidet. "Das sei keine Kunst!" heißt es da in einer Ein-Sterne-Rezension. Nun bin ich im Gegensatz zu Hustvedt keine Vollzeit-Autorin, kann aber doch aus eigener Erfahrung berichten, dass es gerade dann schwierig ist, etwas gutes hinzubekommen, wenn es autobiografisch inspiriert ist.
Andere Kritik lautet, der Roman sei anti-feministisch. Wenn Autoren oder Künstler erwähnt werden, so fast ausschließlich männliche. Nun, das stimmt. Und das in dutzenden. Einige haben gezählt und sind auf mehr als vierzig (männliche) Namen gekommen. Mit Blick darauf, dass dieser Roman inzwischen fast zwanzig Jahre alt ist, könnte ich mir vorstellen, dass Hustvedt heutzutage mehr darauf achtet, nicht nur männliche Künstler zu nennen. Jedenfalls hätte auch ich vor knapp zwanzig Jahren weniger darauf geachtet als heute.
Trivia
Siri Hustvedt hatte in einem Interview mal gesagt, sie hätte diesen Roman dreimal einfach neu geschrieben, bis er so war, wie sie ihn wollte. Eine interessante Art zu überarbeiten, die ich auch schon (bei Kurzgeschichten) selber mehrfach angewendet hatte. Außerdem war ich neugierig, weil sie die Ehefrau von Paul Auster ist und ich seit Ende der neunziger Jahre ein großer Fan von Auster bin - inklusive Lesung damals in Berlin anlässlich Nacht des Orakels mit Autogramm.
Meine Zukunft mit der Autorin
In meiner ersten Begeisterung wollte ich gleich alles von ihr lesen. Sofort. Ich habe in der Bibliothek in Damals und "Die gleissende Welt" hereingeschaut, das hat mich aber beides nicht sofort gepackt.
Sommer ohne Männer habe ich als Hörbuch besorgt und den Essayband Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen liegt schon auf meinem Tolino bereit.
Ab hier nicht mehr spoilerfrei
Parallelen zu einigen Werken von Paul Auster
Von Auster habe ich alle Werke gelesen, die meisten mehrfach. Nach Vollendung des Romans kann ich Parallelen zu Auster nicht mehr wegdenken. Auch wenn sehr viel doch anders ist, und Auster ja auch sehr unterschiedliche Romane geschrieben hat, herrscht eine gewisse Grundstimmung, die mich an einige Auster-Romane erinnert wie:
Buch der Illusionen (2002): Dort werden Filme sehr genau beschrieben, ähnlich genau wie hier in Hustvedts Roman die Kunstwerke.
Nacht des Orakels (2003): der plötzliche Tod einer männlichen wichtigen Figur aufgrund medizinischer Schwierigkeiten
4 3 2 1 (2017): Auch hier stirbt ein Junge in einem Ferienlager. Selbstverständlich jedoch ist Austers Roman viel neuer als Hustvedts, also könnte man sagen, entweder ist es Zufall (passend zu einem Leitmotiv von Auster) oder hier beeinflusste Hustvedts Werk das ihres Ehemannes.
Invisible (2009): Trauer als Nebenthema (mehr dazu unten), ein plötzlicher Unfall als einschneidendes Ereignis im Leben der Protagonisten. Allerdings ist auch hier Invisible jünger als Was ich liebte.
Der plötzliche Tod eines sehr jungen Menschen durch Ertrinken spielt sowohl bei Invisible als auch bei Was ich liebte eine zentrale Rolle.
Bei Invisible wird die Trauer der Eltern jedoch nur gestreift, der Roman beleuchtet mehr, wie die beiden Geschwister damit umgehen. Diese finden hierfür ein wundervolles Ritual.
Was ich liebte zeigt die Trauer der Eltern und die Auswirkungen auf deren Ehe. Sicher geschieht es nicht selten, dass der Verlust des einzigen Kindes eine so schwierige Probe für eine Beziehung ist, dass viele daran scheitern. Hier scheitert nicht direkt die Ehe, aber eben doch das Zusammenleben.
Bedeutung des Titels Was ich liebte
Recht weit am Ende des Buches kommt es zu einem Gespräch zwischen Violet, Bills zweiter Ehefrau und Stiefmutter dessen Sohnes Mark und dem Ich-Erzähler Leo. Violet denkt laut über die Beziehung zu Mark nach. Sie hat keine eigenen Kinder und überlegt, "Was ich liebte" an Mark. Inzwischen hat sich Mark als ein Antagonist, womöglich sogar als der Antagonist des Romans herausgestellt und Violet will nichts mehr mit ihm zu tun haben.
"Ich bin voller Hass. Ich hasse Mark. Dabei habe ich ihn geliebt. Natürlich nicht von Anfang an, aber ich habe langsam gelernt, ihn zu lieben und später dann zu hassen, und ich frage mich, ob ich ihn auch hassen würde, wenn ich ihn geboren hätte, wenn er mein eigener Sohn wäre? Aber die wirklich schreckliche Frage ist: Was war es, was ich liebte?"
Anfänglich sind sich die beiden kleinen Familien ähnlich. Leo und Erica haben Matthew, Bill und Lucille haben Mark, der im gleichen Alter ist wie Matthew. Dann trennen sich Bill und Lucille, er heiratet Violet und Mark pendelt zwischen der Mutter und ihrem neuen Partner (plus neues Geschwisterkind) und seinem Vater und Violet. In dem Schlüsselkapitel, aus dem auch das "was ich liebte"-Zitat der Figur Violet stammt, meint Violet, begriffen zu haben, warum Mark wurde, wie er wurde. Mark lügt und verstellt sich, baut in zyklischen Abständen Mist, klaut, betrügt und war womöglich sogar an einer Straftat beteiligt. Mark selber hat mittlerweile zugegeben, dass die Stimme, die er von sich selber in seinem Kopf hört, sich von der unterscheidet, die er der Welt zeigt. Er scheint nie er selber zu sein.
Violet erinnert sich, dass Marks Mutter Lucille, nachdem sie mit ihm nach Texas gezogen war, nicht mehr mit ihm klarkam und ihn zu ihr und Bill schickte. Doch dort drehte er total am Rad. Sie glaubten, er vermisse seine Mutter und schickten ihn zurück. Nun war er von beiden Familien weggeschickt worden aufgrund seines Verhalten. Daraufhin benimmt er sich vorbildlich. Violet sagt zu Leo:
"Als er dann wider nach New York zog, war der zornige kleine Wilde völlig verschwunden. Es war als, hätte ihn jemand in eine gehorsame, angenehme Kopie seiner selbst verwandelt. Aber genau das lernte ich lieben, diesen Automaten."
Ein ziemlich krasses Fazit, eine Wahnsinns-Aussage. Ich finde das großartig und sehr echt und auch erschreckend, aber auch eben total nachvollziehbar und logisch. Auf schreckliche Art. Erst recht, wenn es autobiografisch inspiriert ist.
Hier sehe ich auch Parallelen zu einem Werk von Celeste Ng, aber zu ihrem Erstlingswerk Was ich euch nicht erzählte. Dort verschwindet die Mutter zweier Kinder für einige Zeit, kehrt dann aber zurück. Ihre Tochter, Lydia, geht davon aus, dass ihre Mutter verschwunden war, weil ihre Kinder nicht brav genug waren und verbiegt sich von nun an, verhält sich so, dass ihre Mutter stets mit ihr zufrieden ist, damit diese ja nicht wieder weggeht. Das erscheint mir psychologisch ein ähnliches Motiv zu sein, wenn es auch zu unterschiedlichen Dingen führte.
Persönliches Fazit
Einiges an Marks Verhalten hat mich (leider) an jemanden erinnert, den ich sehr gut kenne bzw. kannte (diese Person lebt nicht mehr). Das Lügen und so-tun-als-ob. So zu tun, als würde man in die Schule fahren. Jobs abbrechen und monatelang so tun, als habe man sie noch. Das kommt mir alles sehr bekannt vor. Aufgrund dieser persönlichen Lebenserfahrung habe ich einiges an Mark früher durchschaut als der Ich-Erzähler Leo und die anderen Erwachsenen. Das machte für mich das Buch ganz besonders spannend.
Ein Gedanke, der sich mir förmlich aufdrängt, was möglicherweise von der Autorin auch so beabsichtigt war:
Matthew stirbt mit elf Jahren plötzlich und die Trauer beeinflusst seine Eltern lebenslang.
Mark stirbt nicht, entwickelt sich jedoch zu einem Menschen, dem man nicht mehr traut, den man irgendwann hasst und vor dem seine Stiefmutter Angst entwickelt. Der Kontakt besteht am Ende nicht mehr. Mark ist ebenfalls aus dem Leben von Leo und Violet verschwunden.
Ein Gedanke, den ich als Mutter kaum zu denken wage, bildet sich dann doch: Gibt es womöglich doch Schlimmeres als ein totes Kind?
Der Roman beantwortet die Frage nicht (denke ich), aber die Frage stellt sich doch. Das ist sicher meine persönliche Lesart, aber bestimmt bin ich auch nicht die einzige.
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