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Über Meereshöhe von Francesca Melandri

Harte Fakten

Titel Über Meereshöhe 
Autor*in Francesca Melandri 
Erscheinungsjahr 2012 
Seitenzahl 208 

Inhalt

Krass gutes Buch. Das ist wieder einmal eines jener Bücher, bei denen ich ernsthaft versucht bin, zukünftig selber kein einziges Wort mehr zu schreiben. Wenn alle Bücher so wären: Ich würde nur noch selber lesen. 

Aber so einen Glücksfall habe ich bestenfalls alle paar Wochen.

 

Inhalt

Italien, 1979

Ein Mann, Paolo, besucht seinen Sohn im Gefängnis. Dieser ist ein Mörder und Terrorist. Die Mutter ist mittlerweile gestorben, zwar an Darmkrebs, aber es wird so dargestellt, dass sie ihren Lebenswillen aufgrund des Werdegangs des Sohnes verloren hat. Die Liebe des Vaters jedoch ist unzerrüttbar.

 

Eine Frau, Luisa, besucht ihren Mann im Gefängnis. Auch er ist ein Mörder. Sie ist nun mit den fünf Kindern alleine und bestellt den Bauernhof. Seit zehn Jahren besucht sie ihn nun, so oft sie die Erlaubnis dazu erhält. 

  

Beide Häftlinge haben so hohe Strafen, dass daran zu zweifeln ist, dass sie jemals wieder herauskommen. Beide sind auf einer Art Gefängnisinsel untergebracht, und sie dürfen nur selten Besuch empfangen. 

 

Ein Unwetter zwingt die beiden Hauptfiguren, etwas Zeit miteinander zu verbringen.

 

Meinung

Es kommt nicht sehr oft vor, dass die Angehörigen von Mördern die Protagonisten eines Romans sind. Die Perspektive fand ich sehr spannend und extrem überzeugend. Ich konnte mich fast zu gut in die beiden hineinversetzen und fand es zwischendurch sehr beklemmend, was aber im Laufe des Romans etwas gelöst wurde. Es ist kein Buch, das herunterzieht. Es macht Hoffnung, zeigt die Schönheit des Lebens und der Welt. Beim letzten Satz habe ich tatsächlich ein paar Tränen vergossen. Ich kann das Buch nur empfehlen.

 

Die Figuren

Neben Paolo und Luisa stechen die beiden Nebenfiguren heraus: Nitti, der Gefängniswärter und seine Frau, die junge Lehrerin Maria Caterina. Nitti hat sich durch seinen Beruf stark verändert. Er ist selber gewalttätig gegenüber den Häftlingen geworden, hat Dinge getan, für die er sich schämt. Das hat ihn beeinflusst. Dadurch hat seine Beziehung zu Maria Caterina gewandelt. Auch aus ihrer Sicht erfahren wir, was das Leben auf der Insel für sie bedeutet. Wie hat es sie verändert, seit sie mit nur neunzehn als frisch verheiratete Lehrerin (sie führt die dortige Schule) dorthin kam?

 

Paolo, ein ehemaliger Lehrer für Philosophie und Geschichte aus Ligurien, hatte einmal das Leben von dem viele träumen: Eine erfüllte Ehe mit Emilia und einen geliebten Sohn. Rückblickende Anekdoten zeigen wie Scheinwerfer witzige oder ergreifende Momente aus der Kindheit des Sohnes, bevor er ihnen als junger Erwachsener entglitt, als er begann, für das zu kämpfen, das er selber die Revolution nennt. Bis hin zu dem Mord an drei Männern, für die er lange, lange einsitzen muss. Emilia wird krank und stirbt, doch Paolo hält an seiner Liebe fest. Trotz allem hält er an seinem Sohn fest. Denn, wie er schon während der Verhandlung feststellte, als er in die Augen einer der Mütter blickt, die sein Sohn erschossen hat: Sein Sohn lebt noch. 

Es ist kein leichter Weg, den er da wählt, aber er wählt ihn aus vollem Herzen. Die Begegnung mit Luisa ändert ihn. Macht es leichter, macht ihn leichter, würde ich sagen.

 

Luisa ist von allen Figuren am besten gezeichnet. Alleine schon ihre Unfähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Ihr entgeht Ironie, Humor, Missverständnisse, all die Untertöne. Nicht aus Dummheit, ich würde sagen, da steckt ein Stück Naivität und eine andere Art von Lebenserfahrung dahinter. Eine tatkräftige Bäuerin aus Norditalien, die fünf Kinder und achtzehn Tiere alleine durchbringt. Muskulös, zupackend, nicht lange grübelnd. Auch sie verändert sich durch die Begegnung mit Paolo. Ich würde fast sagen, sie entdeckt sich selber. Bei ihr ist es ihr Mann, der einsitzt, wegen Mordes. Angedeutet wird, dass er eine gefährliche Ader hat und sie das schon vorher entdeckt hat. Bei ihr ist es nicht Trauer oder auch Liebe, eher eine Art Loyalität und Pflichtgefühl, das sie zu den regelmäßigen Besuchen bringt. 

 

Das Setting

Abgesehen mal von dem Ende und ein paar Rückblenden spielt die Geschichte innerhalb von zwei Tagen auf der Gefängnisinsel. Diese wird zwar namentlich nicht erwähnt, doch möglicherweise handelt es sich hierbei um die Insel Pianosa

Diese ist immerhin 26 km vom italienischen Festland entfernt. Früher gab es dort eine Strafkolonie, die 1968 in ein Hochsicherheitsgefängnis verwandelt wurde. Dies schloss 1998. Möglicherweise spielt der Roman auch nicht unbedingt genau dort, sondern die Handlung wurde nur davon inspiriert - das ist ja auch nicht so wichtig.

Die Atmosphäre mit Sturm, Brandung, Fischen und Seeigeln wurde jedenfalls toll transportiert, ich konnte das Meer fast schon riechen und hören.

Im Anhang wird auch klar, dass die Autorin einzige Zeitzeug:innen befragt hat und einiges an Recherche betrieben hat, was man dem Roman auch deutlich anmerkt.

 

Prämisse

In letzter Zeit bin ich auf der Suche nach Prämissen, wenn ich Romane oder Kurzgeschichten lese. Manchmal (siehe John Irving) ist das nicht so einfach. Hier kann man sicher auch mehr als eine Lösung finden, für mich lautete aber die am klarsten zu sehende Botschaft: Wenn du deine Liebe zu deinem Kind nicht aufgibst, gibt es Hoffnung. Oder, klarer: Wenn du deine Liebe zu deinem Kind nicht aufgibst, wirst du belohnt.

Das ist eher eine Prämisse, die auf Paolo fokussiert, für Luisa wäre das anders, da wäre es eher etwas wie: Sei dir selber etwas wert, dann wird dein Leben besser.

Ich finde, Prämissen klingen oft seltsam, wenn man sie so deutlich formuliert. In dem Buch steckt viel mehr. Aber mich als Mutter hat Paolos Geschichte mehr berührt als Luisas, obwohl Luisa als Figur sogar noch besser gezeichnet ist.

 

Zur Übersetzung

Ich kann kein italienisch. Wer es kann, dem sei das italienische Original ans Herz gelegt. Einige der Übersetzungen klingen auf Deutsch einfach anders - oder sogar seltsam. So nennen die Justizbeamten die Häftlinge auf der Insel "Gämse" (im Original "camoscio", das klingt natürlich ganz anders). Außerdem gibt es viele regionale Begriffe, die auf Deutsch etwas eigen klingen. Zudem habe ich mir von einer Leserin, die beide Versionen kennt, erzählen lassen, dass es im Original doch etwas poetischer klingt. 

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