Harte Fakten
Titel | Extrem laut und unglaublich nah |
Autor*in | Jonathan Safran Foer |
Erscheinungsjahr | 2005 |
Seitenzahl | 480 |
Inhalt
Lesezusammenhang
Eins kann Safran Foer wirklich gut: Unterschiedliche Stimmen schreiben. Klar, bei Alles ist erleuchtet fällt das noch mehr auf, vor allem wegen des Ukrainers Alex mit seinem sehr eigenwilligen Englisch.
Ich habe 2019/2020 auch zwei Sachbücher von Safran Foer gelesen: Tiere essen und Wir sind das Klima. Beide beinhalten auch autobiografische Szenen. Ich gehe davon aus, dass die Stimme in den Sachbüchern die "echte", unverstellte Stimme des Autors ist. Dann sind die in seiner Prosa davon teilweise echt weit weg. Bewundernswert. Das kann er so gut wie kein zweiter (sofern ich weiß, ich nehme aber Hinweise und Tipps gern entgegen).
Wenn ich den Inhalt des Buchs zusammenfasse, könnte man meinen, ich sei irre gut. Der Plot ist auch gut und die Aussagen darin haben mir ebenfalls gefallen. Trotzdem hat es mich längst nicht so mitgenommen wie Alles ist erleuchtet. Es war auch deutlich weniger witzig. Die Tragik hat mich auch nicht so mitgenommen wie in seinem Debut, obwohl sie keineswegs fehlt.
Handlung
Der neunjährige Oskar Schell hat seinen Vater Thomas Schell bei 9/11 verloren. Tragisch: Die Schule war aufgrund des Anschlags früher aus und Oskar war der erste, der zu Hause war und vier Nachrichten (eigentlich fünf) seines Vaters auf dem Anrufbeantworter hörte bzw. empfing. Dies verheimlicht er sehr, sehr lange (er tauscht den Anrufbeantworter aus und bewahrt den alten in seinem Schrank auf).
Seine Mutter trauert anders als er - laut Oskar zu wenig. Am härtesten ist wohl die Stelle, an der er zu ihr sagt, dass er es vorgezogen hätte, sie wäre es gewesen. Mir zeigt das in aller Deutlichkeit, wie groß seine Trauer ist.
Zu seiner Oma hat er ebenfalls ein sehr gutes Verhältnis. Die Oma benimmt sich geheimnisvoll, hat sie doch seit einem Jahr einen Mieter. Oder ist es ein imaginärer Freund?
Oskar findet im Schrank seines Vaters eine blaue Vase und in der einen Briefumschlag mit einem Schlüssel drin. Auf dem Umschlag steht Black (aber nicht in schwarzer Farbe). Oskar glaubt, es sei ein Rätsel seines Vaters und macht sich daran, alle Blacks in New York aufzusuchen. Das sind viele.
Die andere Ebene ist das Leben seines Großvaters, Thomas Schell Senior, der seine schwangere Frau damals verließ. Diesen Teil der Geschichte habe ich nicht gut verstanden. Thomas Schell Senior hat irgendwann all seine Worte verloren und nicht mehr gesprochen, wohl aber geschrieben. Nach normaler Stummheit klingt das nicht. Sehr sehr seltsam. Thomas Schell Senior hat zuerst was mit der großen Schwester Anna, aber auch schon da ist die jüngere Schwester, seine spätere Ehefrau, in ihn verliebt. Der Teil erinnert mich fast ein wenig an das Geisterhaus von Isabelle Allende.
Meinung
Die Schnitzeljagd nach dem Schloss des Schlüssels ist ziemlich cool. Die Blacks, die Oskar trifft - später gemeinsam mit dem 103jährigen Nachbar, einem der vielen Mr. Blacks in dem Roman - sind allesamt sehr interessant und erstaunlich nett zu Oskar. Warum sie so nett sind, klärt sich später auf. Mich wunderte das beim Lesen etwas, aber dann dachte ich: Nun ja, er hat seinen Vater bei 9/11 verloren, das ist erst ein Jahr her, da sind die New Yorker vermutlich einfach nett.
Über den 103jährigen hätte ich mir mehr gewünscht, auch über das Verhältnis und das Annähern von Oskar zu seinem Großvater.
Klarer hätte ich mir die ganze Anna-Geschichte gewünscht (ja, ich mag es subtil, aber dann muss es auch spannender geschrieben sein und nicht zwischendurch zu Speed-Reading verführen).
Oskar soll angeblich autistische Züge haben, laut Wikipedia. So hätte ich das nun nicht gelesen (als totaler Laie), allerdings ist er natürlich etwas anders als andere Kinder. Er schreibt Briefe an Berühmtheiten, besonders aufgefallen ist mir hier Stephen Hawking. Er sammelt Gegenstände. Er erfindet Sachen. Trotzdem. Aus meiner eigenen Kindheit (und auch inzwischen anhand meiner Kinder) weiß ich, dass Kinder oft anders ticken als Erwachsene. Daher empfand ich Oskar eigentlich als "ganz normalen seltsamen Jungen". Ganz so warm geworden bin ich nicht mit ihm, aber auch mit den anderen Figuren nicht, was wohl die Hauptsache ist, warum der Roman nicht so weit oben in meinem Ranking landet. Bei Alles ist erleuchtet habe ich mich den Figuren viel näher gefühlt.
Was Stil und Sprache betrifft: Wie oben schon erwähnt, die unterschiedlichen Stimmen trifft er irre gut. Das will ich auch können, wenn ich groß bin.
Wenn man die 1-Sterne-Rezis auf amazon liest, sieht man, dass einige Schüler:innen in den letzten fünfzehn Jahre sehr mit der Pflichtlektüre gequält worden sind und ganze Schulränge diesen Roman verachten. Ich weiß nicht, ob dieser Roman wirklich als Beispiel für Verluste stehen kann, was 9/11 betrifft. Für mich geht einfach um eine Familie, die ihren Vater, Sohn und Ehemann verloren hat. Das Setting New York war aber sehr nett und überzeugend, auch wenn ich selber bisher nur wenige Tage in Manhattan verbracht habe.
Phrasen
Ich habe nur zwei gefunden:
- Diese Frage fand ich völlig aus der Luft gegriffen
- Die Woche verging wie im Flug
Das ist für dreihundert Seiten fast nichts, außerdem ist es ein sehr junger Ich-Erzähler, zu dem diese Wendungen durchaus passen.
Meine Lesezukunft mit diesem Autor
Nun ja. Ich habe ja schon beide Sachbücher und die beiden berühmten Romane gelesen. So irre produktiv ist der Kerl nicht. Es gäbe noch "Three of codes" (offenbar nicht übersetzt) und "Hier bin ich", was irgendwie autobiografisch klingt. Beides reizt mich nicht unbedingt.
Er ist ja noch jung, vielleicht schreibt er noch mehr, das würde ich dann vielleicht auch lesen.
Kommentar schreiben