Harte Fakten
Titel | Vaterland |
Autor | Robert Harris |
Erscheinungsjahr | 1992 |
Seitenzahl | 448 |
Inhalt
Nach einer halben Seite hat mich der Roman bereits am Haken. Nach einer weiteren Seite bin ich schon lose mit dem Protagonisten Xaver March befreundet. Harris ist ein Profi. Ein Unterhaltungsschriftsteller, und das sage ich mit Bewunderung. Ich hatte vor sehr langer Zeit mal "Ghost" gelesen und erinnere mich, dass ich ebenfalls unterhalten wurde, aber bei weitem nicht so, wie ich das bei der Lektüre von "Vaterland" bin.
Gleich auf Seite eins wird die Leiche gefunden. In der Havel. Ein dicker, ältlicher, nackter Mann, dem ein Fuß fehlt. Ich denke: Na, den müsste man doch leicht identifizieren können - so vielen Leuten in Berlin wird ja ein Fuß nicht fehlen. Jedoch: Der Roman spielt 1964, der zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her. Außerdem haben in der Realität des Roman die Nazis den Krieg auch nicht verloren. Hitler ist noch an der Macht und lebendig. Die meisten Länder wurden besiegt, mit England wurde Frieden geschlossen und mit den Amis herrschte eine Art kalter Krieg, der aber gerade im Begriff ist, zu enden. Der Präsident - Kennedy, aber nicht JFK, sondern Joseph P. Kennedy, ist unterwegs nach Berlin, um sich mit dem Führer zu treffen. Außerdem steht Führers 75. Geburtstag kurz bevor und überall werden die Feierlichkeiten vorbereitet.
Protagonist March legt also los und organisiert die Identifizierung der Leiche. Als Beamter der Kripo hat er den Rang eines SS Sturmbannführers, an vielen subtilen Stellen lese ich aber durch, dass es sich hier keinesfalls um einen Vollblutnazi handelt, ganz im Gegenteil. March, mittlerweile 42 Jahre alt, war im Krieg zunächst zehn Jahre lang bei der Marine in einem U-Boot und danach in einem Sanatorium für Tuberkulose. Als er wieder nach Berlin kam, war die Welt plötzlich so, wie sie war. Ohne dass er den Wandel hin zum Faschismus so richtig mitbekommen hat. Anders werden da diverse Dreißigjährige dargestellt, während des Nazi-Regimes geboren, kennen nichts anderes, stellen nichts in Frage. March hingegen fragt sich schon: Wo sind eigentlich all die Juden hin? In den Osten gegangen, heißt die offizielle Antwort. Solche Fragen laut zu stellen ist gefährlich, daher hat ihn die Gestapo auch schon längst auf dem Kieker. Ganz zu schweigen davon, dass er nie befördert wird, weil er sich hartnäckig weigert, in die Partei einzutreten. Dazu ist er geschieden, hat einen zehnjährigen Sohn, sowohl Sohn als auch Exfrau total parteitreu.
Als hätte March nicht schon genügend Schwierigkeiten, stellt sich dann heraus, dass das Opfer ein NS-Anhänger der ganz ersten Stunde ist, ein Mann namens Josef Bühler. Kaum stößt er auf erste interessante Spuren, kommt auch schon die Gestapo und übernimmt den Fall. Doch Marchs Neugier ist geweckt. Außerdem taucht bald eine weitere Leiche auf und ein dritter Mann, der in die Sache verwickelt scheint, ist verschwunden.
Der Roman ist irre spannend. Das Tempo ist gut, es passiert viel, ich werde aber dennoch nicht überrannt. Das Setting ist so überzeugend, es wäre fast beklemmend, wenn ich es nicht fast die ganze Zeit über aus der Sicht des sehr menschlichen und aufgeschlossenen March sehen würde. Seine Sicht macht dieses lange dritte Reich erträglich. Ich bange um ihn, weil ich spüre, dass es in der damaligen Welt keinen Platz für ihn gibt, jedenfalls keinen sicheren. Dabei ist er ja nicht einmal ein Widerstandskämpfer oder Regimegegner, einfach nur ein Mensch mit Verstand und Neugier, der Dinge in Frage stellt. Eine irre gute Identifikationsfigur.
Eine Frau kommt auch noch vor (wenn man dafür auch fast 100 Seiten warten muss), die ebenfalls durch Neugier und Mut besticht - und außerdem gut kämpfen kann.
Neben wirklich ekligen Typen, vor denen sich meine Rückenhaare sträuben, gibt es auch noch ein paar herrlich ambivalente Charaktere, die durchaus ihre eigene Agenda verfolgen, aber nicht grundsätzlich gegen March sind. Hier sei der Reichskriminaldirektor Arthur Nebe genannt. Im Roman hatte er den Job schon, bevor die Nazis an die Macht kamen, daher ist er nicht so nazi-indoktriniert wie manch anderer. Man würde ihn zwar gern loswerden, und durch jemanden bequemeren ersetzen, man traut sich aber nicht. Der echte Nebe wurde aufgrund des Kontakts zum Verschwörerkreis rund um Stauffenberg 1945 hingerichtet. Laut der wikipedia wird die Darstellung Nebes als Widerstandskämpfer aber heutzutage nicht mehr als zutreffend erachtet. Das war 1992, als Harris den Roman schrieb, sicher noch etwas anders.
Nebe ist zum Zeitpunkt des Romangeschehens immerhin schon fast siebzig Jahre alt - und noch immer im Dienst. Da dürfte er beruflich mit allen Wassern gewaschen sein. Es ist jedenfalls eine hochinteressante Nebenfigur, eine der wenigen, auf die March wenigstens einen Hauch Hoffnung setzen kann.
Der Mut, historische Personen in die Romanhandlung einzubetten, ist bewundernswert. Hier wurde gründlich recherchiert. Das merkt man auch am Setting Berlins. Der Schriftsteller ist aus Nottingham und hat keinesfalls in Berlin gelebt, erst recht nicht 1964, als er selber noch ein Kind war, und sowieso nicht in der von ihm entworfenen alternativen Realität. Dennoch zeichnet er das Berlin von "Vaterland" so überzeugend, dass ich das Gefühl habe, ich könnte es sehen. Die dicken Monumente, die die Nazis mittlerweile erbaut haben. Einen Triumpfbogen, in den der aus Paris 47mal hineinpasst. Höher, schneller, weiter, stets im Vergleich mit anderen, und dann natürlich immer größer, viel größer. Dazu ist Berlin die größte Stadt der Welt und hat 1964 zehn Millionen Einwohner*innen, locker dreimal so viel wie in unserer Realität 2020.
Sehr gut dargestellt ist: Wie würde wohl jemand reagieren, der seit dreißig Jahren im NS-Deutschland lebt und mehr oder minder Teil des Systems ist, der plötzlich vom Holocaust erfährt, der jahrzehntelang erfolgreich vertuscht wurde? So sehe ich als Leserin außerdem den Holocaust mit frischem Blick, was fast zu schrecklich ist, zu unerträglich.
Die Geschichte hat keine Plotholes. Es bleibt spannend bis zum letzten Satz. Es gibt einige Plotwendungen, die ich so nicht habe kommen sehen. Es ist von vorn bis hinten extrem gut gemacht.
Selbst das Nachwort ist spannend. So berichtet Harris aus der Entfernung fünfundzwanzig Jahre später (2017), dass der Roman zunächst nicht auf Deutsch veröffentlicht werden konnte, weil kein Verlag es wollte. Er schreibt auch, wie sich die Rezeption verändert hat, weil eben 1992 die Überlebenden des Krieg viel jünger waren als mittlerweile, da nur noch ein paar Neunzigjährige leben und nicht mehr eine Masse noch recht junger Menschen, wie es 1992 der Fall war.
Außerdem schreibt er, dass die real existierenden Personen in ihrem Lebenslauf bis 1942 den Tatsachen entsprechen und danach selbstverständlich abweichen. Er fasst die realen Schicksale der Figuren zusammen. Das gilt ebenfalls für das Gemälde, das in dem Roman eine kurze Rolle spielt.
Das wird nicht mein letzter Roman von Harris gewesen sein, allerdings sind nicht alle seine Themen für mich interessant, da historische Romane mich selten sehr reizen. Mal schauen.
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