Harte Fakten
Titel | Alles ist erleuchtet |
Autor*in | Jonathan Safran Foer |
Erscheinungsjahr | 2002 |
Seitenzahl | 384 |
Länge Hörbuch | 11 Std. 31 |
Sprecher*in | Uve Teschner |
Das ist kein Buch über lustige Dinge. Es ist rasent komisch stellenweise, ja, aber es geht um eines der ernstesten Themen des neunzehnten Jahrhunderts, nämlich dem Holocaust.
Jonathan Safran Foer, der keineswegs der Held der Geschichte ist, sondern lediglich der Auslöser der Geschichte - der Held ist für mich Alex - reist in die Ukraine auf der Suche nach den Wurzeln seines Großvaters. Dieser hat den Holocaust überlebt, eine Frau namens Augustine hat ihn gerettet. Großvater Safran wanderte dann später in die USA aus, Jonathan ist also ein us-amerikanischer Jude von Anfang zwanzig. Jonathan kennt den Namen des Orts, an dem sein Großvater aufgewachsen ist, Trachimbrod, und hat ein Foto von Augustine dabei.
Alex' Vater leitet "Jewish Heritage Tours", an die sich Jonathan wendet, doch diese haben aufgrund eines ukrainischen Feiertags gerade keine Leiter frei. Alex' Vater überredet Alex, als Dolmetscher zu fungieren und seinen Vater, Alex' Großvater, als Fahrer zu arbeiten. Obwohl dieser auf Rente und außerdem angeblich blind ist. Dieser besteht außerdem darauf, dass seine Blindenhündin Sammy Davis Junior Junior mitkommt - die selbstverständlich keine Blindenhündin ist, einfach nur eine Hündin und nicht einmal eine sehr gut erzogene.
Ich weiß gar nicht, wer hier am skurrilsten sein soll! Der angeblich blinde Fahrer? Der junge Ukrainer Alex, der sehr eigenes Englisch spricht? Die Hünding Sammy Davis Junior Junior oder doch der
"Held", Jonathan Safran Foer, der sich mit seinen Reisegenossen, der Ukraine und auch Hunden schwer tut?
Das Buch wollte ich schon immer mal lesen, war aber bisher nicht dazu gekommen. Zwar kenne ich zwei von Foers Sachbüchern (Tiere essen und Wir sind das Klima), aber bisher noch keinen Roman. Nur Verfilmungen. So erinnere ich mich auch an diesen Film, den ich damals im Kino schaute, mit einem bebrillten Elijah Wood. Ich war so begeistert, dass ich eigentlich direkt danach das Buch lesen wollte.
Der Roman ist verschachelt. Die Ereignisse in 1997, die während der Reise durch die Ukraine auf der Suche nach Trachimbrod und Augustine geschehen, werden von Alex in dem ihm eigenen Englisch erzählt (genial übersetzt von Dirk van Gunsteren). Dazwischen geschoben wird immer wieder der Roman von Safran Foer, den dieser, inspiriert von der Reise und dem Leben seines Großvaters und dessen Vorfahren, kapitelweise Alex zum Lesen schickt. Alex liest diese Kapitel und gibt Jonathan dazu Feedback, das durchaus nicht immer begeistert positiv ist. Alex schickt hingegen Jonathan, was er über die Reise zu Papier gebracht hat und bekommt hierfür offenbar ebenfalls Feedback, was in den Briefen von Alex an Jonathan klar wird. Jonathan selber kommt gar nicht zu Wort. Wir lesen zwar seinen Roman, aber dieser spielt, als Jonathan noch gar nicht geboren war. Der Ich-Erzähler der Reise ist Alex und auch Briefe lesen wir nur von Alex, nie von Jonathan. So ist Alex der eigentliche Held der Geschichte, zumal sich im Laufe des Romans herausstellt, dass es hier nicht nur um Jonathans Vergangenheit geht, sondern ebenfalls um die von Alex - und die seines Großvaters.
Alex hat kürzlich ein wenig Englisch gelernt, allerdings ist das "nicht so erstklassig". Ich hatte mich zunächst an dem englischen Original versucht, mir wurde aber schnell klar, dass Alex' Englisch doch zu eigen für mich ist. Alex scheint für jede Sache genau einen Begriff zu kennen und dieser ist nicht immer der, der am gebräuchlichsten ist. Hier ein paar Kostproben:
schlafen: Schnarcher machen
nerven: für alles, das irgendwie stört
schamhaft: wenn jemand sich wegdreht
besänftigt: wenn jemand sich beruhigt oder etwas einsieht
erstklassig: für sich selber, als Synonym für "gut"
unterwältigt: das ist doch das Gegenteil von überwältigt, oder?
Alex stellt sich außerdem stellenweise besser dar, als er ist. So macht er sich beispielsweise größer, obwohl er kaum größer ist als der eher kleine Held Safran Foer und eine seiner Liebhaberinnen nennt ihn "ganze Nacht". Die Sache mit den vielen Liebhaberinnen kam mir gleich verdächtig vor, später stellt sich dann heraus, wie das alles tatsächlich zusammenhängt. Das Ausmaß der übertrieben positiven Selbstdarstellung erreicht seinen Höhepunkt, als Alex Jonathan fragt, ob jemand mit einem Penis wie John Holmes wohl eine gute Frau kriegen würde. Als Jonathan eher zu "Ja" neigt, behauptet Alex, alle Ukrainer hätten so einen Penis, so auch er. Jonathan kann nur sagen "Das ist schön", während ich mir beim Hören vor Lachen fast in die Hose mache.
Alex' Kapitel machen so viel Spaß und sind derart unterhaltsam, dass ich länger brauche, um in den zweiten Handlungsstrang hineinzukommen, den Roman Safran Foers, den er innerhalb der Rahmenhandlung kapitelweise an Alex schickt. Dort kommt ein Mann, der beide Kinder durch Tod und die Ehefrau durch einen anderen Mann verloren hat, ganz unvermutet an eine kleine Tochter, die ihn als Adoptivvater auserkort, als sie noch ein Baby ist (ja, der Roman ist manchmal sonderbar).
Unterhalten - wenn auch auf andere Art als Alex' witziger Reisebericht - hat mich auch die Geschichte von Jonathans Großvater Safran. Böse früh beginnt dieser mit Sex - als er von einem Samenerguss nicht einmal träumen kann. Etwa 130 Frauen beehrt er im Laufe seines Lebens. Und alle stehen sie auf ihn, weil sein rechter Arm leblos ist. Dieser ist leblos, weil er mit Zähnen geboren wurde, seine Mutter ihn daher abgestillt hat und er Calciummangel hatte und sein Arm sich nicht entsprechend entwickelte. Diese Story kommt mir etwas haarsträubend vor, aber nun ja.
Immer noch deutlich mehr wertgeschätzt habe ich alle Passagen von Alex, die etwa die Hälfte des Romans ausmachen. Alleine schon die Tatsache, dass Jonathan Ende der Neunziger Jahre in der Ukraine darauf besteht, Vegetarier zu sein. Er isst wirklich gar kein Fleisch? Nein. Auch kein Huhn? Nein. Keine Wurst? Nein. In der Ukraine gibt es aber nichts ohne Fleisch. Nach ein paar Tagen kommt mir der arme Kerl doch sehr verhungert vor.
So ungefähr ab der Mitte entblättert sich, dass der Autor sich nicht vor wirklich sensiblen und auch schrecklichen Themen scheut. Der Schlimme am Holocaust ist ja nicht nur, dass so viele gestorben sind, sondern auch: Wie. Und was das mit ihnen und ihren Mitmenschen gemacht hat. Ich traue mich kaum, Details in die Rezension zu schreiben, geschweige denn eigene Reflektionen zu dem Thema. Dabei bin ich heute doppelt so alt wie Safran Foer, als er sich damals traute, diesen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen. Er hat das Thema auch noch gemeistert, mit Respekt, der nötigen Trauer und vor allem: Ohne einfache Schuldzuweisungen. Es gelingt ihm zu vermitteln, dass es die Zeit war, die aus guten Menschen keine schlechten Menschen gemacht hat, sondern aus guten Menschen eben solche, die schwierige Entscheidungen treffen mussten.
Es gibt drei Szenen, die sehr schwer auszuhalten sind. Eine, als wir erfahren, was mit Trachimbrod und den Juden dort geschehen ist. Eine, als wir erfahren, was der Großvater im Krieg durchgemacht hat. Und eine - die mir schon beim Schreiben darüber wieder die Tränen in die Augen treibt - in der wir erfahren, was mit der ersten Frau und dem Baby von Jonathans Großvater geschehen ist. Obwohl "Es ist so traurig, dass ich es nicht aushalten kann" der einzig passende Satz zu diesen Szenen ist und ich nun schon wieder ein Tempo benötige, kann ich diesen Roman nur dringend weiterempfehlen. Es ist richtig so, dass uns diese Geschichte heute noch traurig macht. Und wichtig. Mehr Reflektion traue ich mir zu diesem Thema nicht zu.
"Extrem laut und unglaublich nah" wird mein nächstes Buch von diesem Autor.
Hörbuch
Teschner liest perfekt. Ich höre am Tonfall genau, ob er gerade den jungen Alex spricht oder seinen Opa, Jonathan oder einen der vielen anderen Charaktere aus dem Roman im Roman von Safran Foer.
Nur würde ich diese Geschichte nicht erneut als Hörbuch genießen: Ich höre nebenbei, beim Kochen und Einkaufen. Die letzte halbe Stunde hörte ich im Supermarkt. Zum Glück war es leer! Denn da stand ich, mit heißen Tränen im Gesicht zwischen den Äpfeln und dem Brokkoli. Das ist kein Buch, das man in der Öffentlichkeit hören kann, zumindest ich nicht. An vielen anderen Stellen musste ich zudem so laut lachen, dass ich damit andere Passanten erschreckt habe.
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