Harte Fakten
Titel | Motherless Brooklyn |
Autor*in | Jonathan Lethem |
Erscheinungsjahr | 1999 |
Seitenzahl | 376 |
Inhalt
In Kapitel 1 ist der Ich-Erzähler erwachsen und sein Arbeitgeber Frank Minna stirbt. Wie schade, denn der Charakter war so interessant. Macht aber nichts, Kapitel 2 ist ein Rückblick zu 1983 und Frank Minna ist wieder lebendig. Der Ich-Erzähler und seine Waisenhauskumpanen Tony, Danny und Gilbert sind dreizehn Jahre alt und bekommen die ersten Jobs von Frank Minna. Das hat alles so einen Mafia-Charme.
Ich habe keinen Plan, wie gut sich Lethem mit Tourette auskennt. Ich selber habe mal ein Buch von jemandem gelesen, der Tourette, sowie einige sehr nervige Tics und Zwänge hatte. In Motherless Brooklyn finde ich die Tics und das Tourette extrem gut beschrieben und sehr überzeugend. Das von innen zu erleben ist interessant und etwas beklemmend.
Was mir an Lethem gefällt: Es ist so frisch. Ich habe das so noch nicht gelesen. Ich kannte ja einige seiner Kurzgeschichten, die sind ebenso - wenn auch teilweise ein wenig zu abgefahren. Diese Story ist vergleichsweise leicht zu lesen und zu verdauen, auch trotz der Tics des Ich-Erzählers Lionel.
Lionel wird von seinen Tics oft behindert. Er ist gezwungen laut herauszuschreien, was sein Tourette-Gehirn ihm vorschreibt. Nicht selten entlarvt das auch seine Gedanken, so zum Beispiel, wenn er von einem Schwarzen Polizisten verhört wird. Die Leute in seiner Umgebung gewöhnen sich zum größten Teil schnell an seine Tics. Oft sorgt sein zwanghaftes Verhalten auch für eine gute Art von Humor, wenn beispielsweise der Polizist ihn abtastet und Lionel ihn zurückabtastet.
Der Mordfall an sich ist fast nebensächlich, als die Geschichte voranschreitet und die Verwicklungen deutlicher werden, beginne ich aber dann doch, mich für die Auflösung zu interessieren. Vorher waren es eher nur die Figuren, die mich bei der Stange gehalten haben, allen voran natürlich Lionel. Was tut er, nun, da sein Auftraggeber tot ist? Wie geht es mit ihm weiter? Was für eine Zukunft hat er?
Großartig auch die Sexszene. Lionel wird von Sex beruhigt, seine Tics sind schwächer oder sogar verschwunden, wenn er erregt ist. Dennoch tict er ein wenig hier und da, außerdem ist die Szene, in der sein Penis das erste Mal ins Spiel kommt, sehr erheiternd.
Selbstverständlich wird auch der Mordfall am Ende aufgeklärt und alles passt zusammen.
Verfilmung
Der Film spielt in den Fünfzigern. Das Buch definitiv nicht. Es erwähnt im Rückblick, als Lionel dreizehn ist, den Kinostart von Scarface (1983). Außerdem kommt später, als er erwachsen ist, ein Mobiltelefon vor, was dafür spricht, dass es ca. Ende der Neunziger spielt, als es auch geschrieben wurde.
Der Film hält sich auch was den Plot betrifft nur sehr vage an das Buch und das auch nur zu Beginn. Die Geschehnisse zu Beginn gleichen sich - bis auf die Verschiebung fünfzig Jahre in die Vergangenheit. Protagonist Lionel und einer seiner Kollege Gilbert, stehen für Frank Minna Schmiere und hören mit, als er sich mit einigen Männern trifft. Allerdings geht es in dem Gespräch um andere Themen als im Buch. Der Ausgang ist aber gleich: Sie fahren mit Minna weg, Lionel und Gilbert folgen ihnen, Minna wird angeschossen, sie bringen ihn in ein Krankenhaus, dort stirbt er.
Minnas Frau spielt im Gegensatz zum Buch seine vernachlässigbare Nebenrolle. Die ganze Story hätte auch ohne sie funktioniert, was im Buch sehr schwierig gewesen wäre.
Einige Figuren aus dem Buch kommen vor und sind ähnlich charakterisiert, allen voran Lionel und Frank Minna. Gilbert kommt vor, spielen aber sowohl im Buch als auch im Film untergeordnete Rollen. Tony kann man weder im Buch noch im Film so recht trauen, im Film ist er böser. Danny kommt im Buch kaum vor, im Film unterstützt er Lionel tatkräftig und sympathisch bei seinen Recherchen.
Im Film gibt es keine Mafia, dafür aber korrupte Politiker. Minna ist kein Handlanger für organisiertes Verbrechen, sondern nur ein Detektiv, der zeitgleich ein Fahrunternehmen hat.
Zwar ist Lionel auch im Buch intelligent, im Film hat er aber zusätzlich auch besonders gutes Gedächtnis und kann ganze Szenen aus der Vergangenheit auswendig wie einen Film in seinem Kopf abspielen lassen.
Da es die Fünfziger sind, weiß er leider nicht, was das für eine Krankheit ist, die er hat. Im Buch benennt er es einfach als Tourette und zwar ziemlich oft.
Es gibt in beiden Geschichten eine Frau, im Buch ist diese allerdings weiß und es kommt zum Sex, es gibt aber für die beiden keine Zukunft. Im Film ist die Frau Schwarz, es gibt zwar keinen Sex, dafür sieht es aber so aus, als könne es für die beiden durchaus eine romantische Zukunft geben.
Nach der Ermordung Minnas entschließt sich Lionel in beiden Geschichten, herauszufinden warum. Ab diesem Zeitpunkt lohnt es sich kaum, die Unterschiede aufzuzählen, weil es zwei komplett unterschiedliche Geschichten sind. Die Filmstory hat mit der Buchstory nichts gemeinsam. Es geht um völlig andere Dinge. Lionel bekommt auch im Film ordentlich mehr auf die Mütze. Ich hatte den Eindruck, spätestens alle zwölf Minuten wird er verprügelt oder eingesackt.
Das Buch hat mir besser gefallen, aber auch der Film hat was. Und man kann den Film gleich nach dem Lesen des Buchs schauen und wieder miträtseln, da es ja schließlich um etwas anderes geht.
Das ist bei weitem die freieste Interpretation eines Buchs, die ich in einem Film je gesehen habe. Wenn auch aus meiner Sicht nichts dagegen spricht.
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