Titel | Wir haben Raketen geangelt |
Autorin | Karen Köhler |
Erscheinungsjahr | 2014 |
Seitenzahl | 240 |
Anzahl Geschichten | 9 |
Kurzgeschichtensammlung
Fazit für Eilige
Hätte ich nicht den gesamten Band, sondern nur eine der drei besten Stories (Cowboy und Indianer, Wild ist scheu oder Findling) gelesen, wäre ich schwer begeistert von ihr gewesen.
Es ist nur diese Masse an tragischen Stories, die mich erdrückt. Schon wieder Krebs. Schon wieder ein Selbstmord. Das ist mir dann zuviel. Und das, obwohl ich nicht alle Stories hintereinander weg gelesen habe.
Jedenfalls ist die Sprache frisch und frei von Klischees, da wird die Lesefreude nicht gebremst.
Die Autorin hatte selber Krebs, es ist also auch verständlich, dass das mehr als einmal thematisiert wird.
Beim SWR gibt es eine Rezension, die ungebremst begeistert klingt, falls jemand ein Gegengift zu meiner braucht. ;-)
Il Comandante
Darmkrebs. Künstlicher Darmausgang. Keine Haare. Keine Hoffnung, Freund traut sich seit fast einer Woche nicht mehr ins Krankenhaus.
Da lernt die Protagonistin Cesar kennen, "il Comandante", der ihr Lebensfreude nahebringt. Routiniert und gut geschrieben, nur fand ich den Schluss wenig überraschend. Was mich auch wundert: Ist indirekte Rede in letzter Zeit irgendwie in? Was ist falsch an guten Dialogen?
Cowboy und Indianer
Protagonistin Katharina "Kat" in der Wüste, ihrer Habseligkeiten beraubt und dehydriert. Der Indianer Bill liest sie auf und nimmt sie im Auto mit.
Die Erzählung hat zwei Erzählebenen: Die Jetztzeit, Kat auf der Reise mit Bill und die Vergangenheit während ihrer Kindheit und Jugend, als sie stets auf der Seite der Indianer war. Menschen, die Böses im Sinn haben, bekommen bei ihr oft den Zusatz "Cowboy". So wie der junge Mann, der sie zu vergewaltigen versuchte, "Cowboy Markus" ist. Kat macht hier alles richtig, wehrt sich mit einer Bierflasche, kann die Vergewaltigung abwenden, zeigt ihn umgehend an Sie lässt sich untersuchen, aber aufgrund von mangelnder Beweise wird er nicht verurteilt. Sie bestraft ihn auf eigene Arten und Weisen. Ich muss schmunzeln, auf welche Weisen man jemanden quälen kann, ohne erwischt und bestraft zu werden. Das wäre statt als Nebenhandlung als Hauptgeschichte ebenfalls gut denkbar.
Der Road Movie mit Bill durch die Wüste und Las Vegas mit allem Drum und Dran: Casino, Schlägerei, gefährliches Fieber, Motel, kaputtes Auto - hat mir ebenfalls sehr gut gefallen. Ich sage: Dass ist beste Story in dem Band, jene, die lange in Erinnerung bleiben wird.
Polarkreis
17 Postkarten und zwei Briefe, in denen der Protagonist eine Wandlung durchmacht. Ganz nett zu lesen, irre spannend fand ich es aber nicht.
Name. Tier. Beruf
Eine Schwester, drei Jahre älter als die Ich-Erzählerin. Beide verliebt in den gleichen Jungen. Als Erwachsene treffen die Ich-Erzählerin und der Junge sich wieder und langsam entblättert sich vor uns, was damals tatsächlich geschehen ist. Ich zweifle die Glaubwürdigkeit einer der Szenen sehr an, bin aber auch keine Expertin. Es gab mindestens eine spannende Stelle mit guter Andeutung, die dann aber viel zu rasch aufgelöst wird.
Wir haben Raketen geangelt
Traurig-tragische Geschichte einer Freundschaft. Solide geschrieben mit einigen schönen Bildern und trotz der Tragik irgendwie versöhnlich.
Familienportraits
Recht heftige Impressionen aus diversen Familien, die fast nach dem ersten Satz aus Tolstois "Anna Karenina" schreie. Verwahrloste Väter, gestorbene Schwester, Krebskrankheiten. Gut geschrieben, aber aufgrund der Masse der unterschiedlichen Perspektiven und Familien für mich etwas undurchsichtig.
Starcode Red
Das ist der Code für einen medizinischen Notfall auf Deck eines Kreuzfahrtschiffs. Die Ich-Erzählerin arbeitet dort als Schauspielerin und Tänzerin auf der Bühne. Sie wird nach wenigen Sätzen sehr sympathisch und obwohl sie eigentlich nicht viel jammert, fühle ich gleich mit ihr. Die Beschreibungen (vor allem die des immergleichen Essens an Bord) sind sehr einprägsam und frisch. Mir gefällt die Enge, die sie beschreibt, das schlechte Wetter, der Liebeskummer, der sich allmählich herausschält. Das ist eine der starken Geschichten in diesem Band. Auch wenn das Ende ein wenig vorhersehbar war.
Wild ist scheu
Ja, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Auch wenn mich ein wenig stört, wie viele der Geschichten in diesem Band sehr tragisch/traurig sind (bis auf Cowboy & Indianer und das mit den Postkarten alle), ist diese Geschichte sehr gut gemacht. Die Ich-Erzählerin verzieht sich auf einen Hochsitz, hat nichts dabei außer Wasser. Die Story umspannt etwa einen Monat, währenddem es stetig kälter wird. Sie richtet ihre Briefe an ihren Freund, den sie vermisst. Man ahnt allmählich, was geschehen ist, dennoch entblättert sich das gekonnt und zum rechten Zeitpunkt. Sehr starke Geschichte.
Findling
Aufgrund des Titels habe ich zwei Seiten gebraucht, bis ich merkte, dass hier eine ältere Dame schreibt und kein Kind. Das ist eine Ausnahme-Geschichte. Natürlich ist mir klar, dass die Autorin keine persönliche Erfahrung damit hat, irgendwo in Russland in der Wildnis überleben zu müssen mit ihrer Familie.
Aber sie schreibt so, als wisse sie es genau. Mit erstaunlichen Details und der Tragik der kleinen Dinge mit großer Bedeutung, wie, wenn das wertvolle Messer zerbricht. Hunger. Schlechte Zähne. Tod. Inzest. Ich wüsste nicht, was dieser Geschichte noch fehlt. Liest sich sehr authentisch, da hat sie sich verdammt gut hineinversetzt. Obwohl sie tragisch ist und das Setting mir so fremd ist, eine der drei besten Stories der Sammlung.
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