Harte Fakten
Titel | Nähe |
Untertitel | Literaturpreis Grassauer Deichelbohrer 2019 Anthologie |
Seitenzahl | 310 |
Erscheinungsjahr | 2019 |
Anzahl Kurzgeschichten | 33 |
Anthologie des Literatupreises
Diese Ausschreibung fand 2019 erstmalig und 2020 erneut statt, alle Informationen dazu auf der Webseite. Die besten Texte werden danach in einer Anthologie veröffentlicht.
Die drei Gewinnertexte 2019 waren:
- Der Duft sterbender Bücher, Heidi Lackner
- Haikus, David Jacobs
- Ich fühle was, was du nicht fühlst, Manuel Zerwas
Ich hatte meine Lieblinge in diesem Band, andere Stories lagen mir weniger. Insgesamt ist es ein Wettbewerb auf sehr hohem Niveau. Mitmachen kann ich nur empfehlen.
Schall und Rauch (von Janika Rehak)
Silvester 1926. Was bedeutet Nähe für eine, die es für Geld macht? Ob sie wirklich professionell ist oder sich einfach nur dafür bezahlen lässt (und was der Unterschied ist), wird für mich hier nicht klar. Die Geschichte lebt von Beschreibungen, Andeutungen, Details. Im Geruch, Geschmack, Geräuchkulisse aber vor allem im Visuellen. Protagonistin Daisy sieht, nimmt auf, berührt. Hier sucht man vergebens nach Klischees und und findet viele frische Details. Sol Stein wäre begeistert.
Der Duft sterbender Bücher (von Heidi Lackner)
(erlangte Platz 1)
Die Geschichte habe ich zweimal gelesen, beim ersten Mal war mir entgangen, dass sie beide Männer sind, der Protagonist und seine Liebe von damals.
Hier werden alle Sinne angesprochen. Der Protagonist ist ein Ich-Erzähler, arbeitet in einer Bibliothek mit alten Büchern. Dann kommt ein Besucher. Ein Mann, Ezra, dem er einst sehr nah gewesen ist.
Es passiert nicht viel hier, es gibt eine Rückblende zum Kennenlernen der beiden und die Szene, die im Jetzt spielt, als sie sich nach all den Jahren wiedersehen. Ezra kommt, um Lebewohl zu sagen. Ein letztes Vorlesen, ein letztes gemeinsames Erlebnis. Ja, da steckt was drin. Da steckt alles drin, was eine Geschichte so braucht.
Der Mann im Zug, das Ding und ich (von Renate Härtl)
Der Ich-Erzähler sitzt im Zug, gegenüber ein Mann mittleren Alters, zwischen ihnen das Ding, in einem quadratischen Behälter. Tja, was ist da nun drin? Etwas lebendiges jedenfalls. Aber kein Tier.
Etwas ungewöhnlich und seltsam ist die Story schon. Definitiv interessant.
Eine neue Chance (von Melanie Sonderhaus)
Die Ich-Erzählerin trifft auf drei Soldaten. Ist die Situation bedrohlich? Muss sie Angst um ihr Leben haben?
Akku leer (von Petra Burger)
Diana ist mit ihrem Handy beschäftigt, das nicht mehr viel Saft hat, während sie ihre sterbende Großmutter im Krankenhaus besucht und nur auf die Gelegenheit wartet, zu verschwinden.
Das ist hart zu lesen. Die Autorin bezieht keine Stellung, das kann ich selber machen. Der Schluss ist hart. Ich mag es, wenn es so geschrieben ist, dass die Leser*innen genau merken, was geschieht, aber die Protagonistin ist total im Dunkeln und ignorant. Per excellence hier gelungen!
Zimmer 69 (von Ruth Edelmann-Amrhein)
Das ist eine super Pointe. Hat mir sehr gut gefallen. Es geht um eine Ehefrau, die mal etwas wagen möchte und dies auch startet - mit interessantem Ausgang.
Glockengasse 13 oder Die Zeit mit Garib (von Armena Kühne-Enzinger)
Das ist eine solide Story über Liebe zu Menschen und zu Orten, über Heimweh und darüber, wie man als Paar damit umgehen kann, dass beide eine unterschiedliche Heimat haben.
Sommer wie Winter (von Markus Schneider)
Das ist einer meiner persönlichen Favoriten. Sowohl von der Sprache her als auch vom Plot her. Es passt außerdem herrlich zum Thema. Michael, 24, wohnt noch bei seinem Vater. In einem 11-qm-Wohnwagen. Winter, so heißt der Vater, Sommer, so heißt der neue Hund. Kostprobe? "Winter ist mein Vater. Als Hund wäre er eine Vollkatastrophe. Er hört nicht, und er ist nicht mal richtig trocken."
Rotkappe verkehrt (von Annette Riech)
Der Stil ist etwas gewöhnungsbedürftig, sehr abgehackt. Passt zu dieser Thematik (Gewalt an Frauen, Rache), für eine längere Geschichte würde ich das nicht so gern lesen wollen. Der Titel ist super gewählt.
Der Junge, der sich trennte (von Dieter Sdun)
Da erinnert sich jemand sehr gut daran, wie es ist ein Kind zu sein. Arthur ist elf, seine Eltern sind frisch getrennt, er würde am liebsten in seinem Englischbuch zu Hause sein, in Puddlefield. Eine Ausreißgeschichte auf ganz kleinem Raum, die mir den Protagonisten gekonnt nahebringt.
Federleichte Kampfansage (von Britta Bendixen)
Außerordentlich guter Plot auf so engem Raum, schöner Konflikt und sehr lebensechte Figuren, vor allem die Protagonistin und ihr Therapeut Maik. Sie ist im Wachkoma, kriegt alles mit, kann sich aber nicht mitteilen. Maik sorgt dafür, dass sie bewegt wird. Ihr Mann Ben und ihre beste Freundin Jana spielen ebenfalls eine nicht gerade sympathische Rolle. Sehr gelungen!
Sophie will geküsst werden (von Anna Neder von der Goltz)
Der Plot ist ganz nett, aber ich bin nicht sicher, ob ich die Darstellung der griechischen Familie passend genug finde. Es geht um Sophie, einer Grundschullehrerin, die endlich mal wieder geküsst werden möchte. Ihre Schönheit steht ihr da irgendwie eher im Weg. Der Schluss ist sehr schön.
Aprikosensommer (von Kerstin Elsäßer)
Solide geschrieben, eine nette Momentaufnahme. Ein paar Details fand ich nicht so nachvollziehbar.
Lilli (von Kathrin Hamel)
Sehr schön passend zum Thema Nähe, fast kann ich mir etwas passenderes nicht vorstellen. Ein Pärchen, das acht Wochen lang zittern muss, ob die leibliche Mutter der Adoption durch sie der kleinen Lilli zusagt. Acht Wochen, in denen sie Lilli selbstverständlich so nah sind, wie Eltern ihrem Baby nun einmal sind.
Morgen früh, wenn ich will, wirst du wieder geweckt (von Stefanie Gregg)
Der Protagonist wacht aus dem Koma auf. Ohne Gedächtnis. Seine Frau Annabelle umsorgt ihn. Spätestens auf Seite drei rechne ich mit einer dicken Pointe und werde nicht enttäuscht. Sehr gute Geschichte! Ein Highligt, das noch lange nachwirkt.
Barfuß im Pyjama (von Kerstin Harpaintner)
Recht wenig konkret ist und ein wenig ungenau. Auch wenn Thema und Sprache solide sind, so ganz nachvollziehen kann ich die Protagonistin nicht. Wer heiratet denn, ohne es wirklich zu wollen?
Partikel (von Daniel Mylow)
Das ist sehr traurig. Trauer und Verlust. Sehr gut geschrieben mit versöhnlichem Schluss.
Findelfell (von Julia Kersebaum)
Da findet eine Frau ein Tier und nimmt es mit nach Hause. Offenbar eines, das eigentlich Winterschlaf macht, konkret wird das nicht. Es ist ein wenig verletzt, humpelt, aber nichts schlimmes. Die beiden kümmern sich darum und finden dadurch zu mehr Nähe zu sich in ihrer Ehe und ihrem Zusammenleben. Sehr niedliche Geschichte.
Die Reise (von Adreas Weidmann)
Die Beschreibungen sind extrem gut, sehr plastisch, sowohl visuell als auch das, was man hört und sonst empfindet. Das ist sehr bemerkenswert, alle meine Sinne werden hier mitgenommen. Auch ich finde es mega ekelig, wenn jemand im Zug neben mir geräuschvoll isst und kann das nachfühlen.
Was den Schreibstil betrifft, ist der Autor sehr weit vorn, die Sprache ist super, die Metaphern sitzen alle.
Der Plot leuchtet mir aber weniger ein. Flieht man vor solchen Situation nicht einfach in den nächsten Waggon? Man muss ja nicht gleich die Notbremse ziehen (sorry fürs Spoilern). Der Schluss kam mir auch ein wenig zu dramatisch vor.
Champignons im Glas (von Juliane Pickel)
OK, Juliane, du kannst jetzt loslegen und einen Roman schreiben. Ich lese den dann, rezensiere den und feiere den so ab, dass möglichst viele den kaufen.
Schade, sie hat noch keinen. Diese Story hätte gewinnen sollen, aber ich war ja nicht Teil der Jury. So dermaßen cool, der Ton. Es geht um zwei ältere Damen. Alleine der Anfang ist schon so genial:
"Auf einmal will Martha vom Sterben nichts mehr wissen. Dabei hat sie sich früher auf ihr Ende gefreut wie andere auf einen Urlaub. Sogar einen Koffer hat sie gepackt, der steht in ihrem Flur."
Extrem witzig wird es, als Martha dann doch nochmal beginnt sich mit Männern zu daten.
"...also fragt sie die Männer in der Nachbarschaft, ob die mit ihr ausgehen, die geschiedenen, die Witwer - und die, zu deren Ehe sie 'kein gutes Gefühl' hat."
Die Ich-Erzählerin und Martha klingen so authentisch und dermaßen cool, ich hatte sehr viel Spaß, vielen Dank!
Immerhin gibt es bereits ein Romanprojekt "Der Unfall". Hoffentlich kommt das dann bald.
Nachts - Allein - im Wald (von Cornelia Koepsell)
Da habe ich mich dann doch gefragt, was das soll. Sex mit einem Fabelwesen? Vielleicht habe ich den Punkt verpasst, an dem diese Story ins Phantastische abgedriftet ist. Wobei gerade ich sonst mit Phantastik sehr viel anfangen kann.
Im Autor*innenteil hinten wird klar, dass die Autorin schon so einige Preise gewonnen hat und diese Story auch auf der Shortlist war.
Die Wasserstelle (von Heiner Rosch)
So heißt die Kneipe, in die der Ich-Erzähler gern geht. Eigentlich schließt sie immer um halb eins, aber als es gegenüber eine Bombenentschärfung gibt, bleiben alle bis es vorbei ist. Das erzeugt lustigerweise eine Stimmung wie zu Silvester. Man kann sich das alles lebhaft vorstellen. Die Liebesgeschichte, die der ältere Gast ihm erzählt, ist plastisch und traurig.
Meine Zigarette mit Mariette (von Andreas Hartmann)
Der Ich-Erzähler lernt Mariette auf eine recht ungezwungene Art kennen, da werde ich gleich in die Story hineingezogen. Über kurze, aber prägende Bekanntschaften, ein Irgendwie-Verliebt-Sein und eine Interpretation von gestohlener Zeit, die mir sehr gefallen hat.
Das Loch (von Susanne Feiner)
Das hat mir ebenfalls sehr gut gefallen. Ein Nachbar, eine Nachbarin, sie haben nie wirklich gesprochen, es gab mal eine Episode vor einem Jahr, als er sie versehentlich erschreckt hat.
Dann ein Loch in der Straße, eine ihrer Hennen sitzt drin. Er holt Hilfe, sie hocken beide am Loch, auf die Feuerwehr wartend, der Henne gut zuredend. Schnell sprechen sie sich aus, beheben Seltsamkeiten zwischen ihnen und knüpfen erste nachbarschaftliche Bande.
Nachts bin ich dir nahe (von Lucia Neumann)
Die Idee ist ganz originell. Also, jedenfalls hat sie mir gefallen, auch wenn sie sich nicht ganz neu ist. Junge Nonne, die nachts heimlich Sex hat. Sie lebt umgeben von alten Nonnen, hält es ohne Nähe aber nicht aus.
Es gibt eine Pointe, doch ich fürchte, die habe ich schon zu oft gelesen.
Eine schwache Liebe hebt besser als eine starke (von Michael Lichtwarck)
Sehr bayrisch (glaube ich), die grammatikalischen Fehler sind keine, das ist Mundart. An die Story komme ich als Norddeutsche schwer heran. Ich sehe zwar die Kunst in dem, was hier ausgelassen wird und wie einige Details eine wichtige Rolle spielen, wie die entzündeten Mundwinkel, doch mir erschließt sich das Ganze nicht.
Das Zimmer (von Sylvia Wimmer)
Sie möchte ihrem Lieblingsautor näherkommen. Wendet sich in Gedanken (recht wortreich) an ihn. Nachvollziehbar, wenn auch leicht irre. Der Schluss ist gelungen.
Die Notwendigkeit weitreichender Veränderungen (von Ursula Schröder)
Fluffige Story. Zitat gefällig?
Der Herr sagt zum Thema Heiraten zur Ich-Erzählerin:
"Wir könnten eine Menge Steuern sparen und du müsstest nicht mehr Rövenstrunk heißen. Außerdem habe ich gerade einen dunklen Anzug, der mir passt."
Finde ich herrlich.
Heimchen (lebend, 400 Gramm) (Anke Laufer)
Bei dem Titel kriege ich etwas Angst. Ich stille noch und kann gewisse Themen nicht ab.
Es geht aber um etwas ganz anderes, nämlich Grillen (Heimchen) und Bestellservices für ältere Menschen.
Esther (Christine M. Erdmann)
Esther ist die eineiige Zwillingsschwester der Ich-Erzählerin. Diese sehnt sich nach Individualität, Ester aber nicht. Das gipfelt in Hass und Flucht, mündet in Mord und hat eine passable Schlusspointe.
Der Professor stirbt (Constanze Geertz)
Da steht viel zwischen den Zeilen. Stark gemacht. Sehr schöne Prämisse auf engem Raum. Sie, die Ehefrau, ewig kritisiert von ihrem Mann, dem Professor. Dann wird er krank. Stirbt. Ihre Entscheidung, ihn nicht mehr zu pflegen, ihr Leben zu leben. Konsequent. Der Schluss ist etwas sehr aprupt.
Haikus (David Jacobs)
(Erlangte Platz 2)
Das ist schön geschrieben, hat aber keine Pointe, oder? Ich überlege, wahrscheinlich HAT es doch eine Pointe und die hat sich mir nur nachträglich gerade erst erschlossen. Oh, ich glaube, ich habe es nun verstanden! Ja, das ist genial, wie macht er das nur?
Ich fühle was, das du nicht fühlst (Manuel Zerwas)
(Erlangte Platz 3)
Uh, da habe ich mich aber erschrocken! Ich habe selber vor ca. zwölf Jahren eine sehr ähnliche Geschichte geschrieben über eine Frau, die mit einem taubblinden Mann schläft. In dieser Geschichte ist es eine Professionelle. Ich finde es ganz nett umgesetzt, allerdings ohne Pointe.
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Markus Schneider (Dienstag, 10 November 2020 13:33)
Danke für die netten Worte! Habe ich gerade erst entdeckt!
Yvonne (Dienstag, 10 November 2020 13:36)
Gern geschehen! Hat mir viel Spaß gemacht.